The One
Im Banne der Paralleluniversen

von Dietmar Kesten
GELSENKIRCHEN NOVEMBER 2002.

11/02
 
 
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In ‚Einsteins Traum. Expeditionen an die Grenzen der Raumzeit’ (1993), ‚Eine kurze Geschichte der Zeit’ (1998) und ‚Raum und Zeit’ (1998), ging der Kosmologe und Astrophysiker Stephen HAWKING davon aus, dass es rückläufige Verbindungen im Raum-Zeit-Kontinuum  gibt – sogenannte Wurmlöcher. Die Gesetze der Physik sind demnach  zeitsymmetrisch. ‚Schwarze Löcher’ z. B., in die Dinge hineinfallen und aus denen nichts entkommen kann, würden sich mit ‚Weissen Löchern’, aus denen diese Dinge wieder entweichen, verbinden, und so könnte man theoretisch eine Verbindung herstellen. Würde ein Mensch durch solche Wurmlöcher in der Zeit rückwärts reisen (nach Albert  EINSTEIN ist dieser Raum vierdimensional, die er  als sog. Raumzeit bezeichnet hatte), käme er allerdings nicht in seiner eigenen Vergangenheit an, sondern in jener eines Paralleluniversums, wo er dann auf seinen imaginären Doppelgänger treffen würde, quasi einer Inkarnation seiner selbst. 

THE ONE nimmt diese Theorie auf und knüpft damit an zahlreiche  Sci-Fi-Thriller (Final Destination, The Others, The Matrix, Akte-X) an. Energie im Universum verschwindet nie, behauptete EINSTEIN, sie wechselt nur in anderer Form. Und so befördert sich Jet Li, der den Bösewicht Yu Law verkörpert, selbst ins Jenseits, und führt dort als ‚Kopie’ ein anderes Leben. Ständig ist Jet Li auf der Flucht, vor den Reihen der polizeilichen  Übermacht, vor den Agenten Roedecker (Delroy Lindo) und Funsch (Jason Statham), den Spezialisten des MBI, die die  Energieströme der Wurmlöcher manipulieren, durch das Yu Law zu entkommen versucht. So endet seine ‚Zeitreise’ inmitten eines MBI-Gebäudes. 123 Menschen hat er in 123 Paralleluniversen auf dem Gewissen inklusive aller Doppelgänger, und hat durch diese Morde die gesamte Lebensenergie aus allen Universen in sich vereinigt.  

Das ist spannend gemacht. Und dieser Quantensprung hat es in  sich. Die Highspeed-Aufnahmen sind beeindruckend, die Videosequenzen  sehr sehenswert und die computerisierten ‚Wurmlöcher’ mit dem zerfliessen alles zeitlichen und menschlichen sehr mitreissend. Wenn Yu Law sich einfach auflöst, auf seltsame Art und Weise in  kleinen Stücken entschwindet, dann staunt man einfach über die  gelungenen Schnitte. Wie in THE MATRIX (2) brennt hinter der Schiebewand der Himmel. Und die Energiequellen, die in den Paralleluniversen die eigene und  andere Welten als Traumwelt oder als Realität erscheinen lassen, passen sich dem heutigen Blendwerk der Science Fiction im Film an. 

Überhaupt ist diese in THE ONE zu einer einzigartigen Energiemaschine  geworden. Sie lebt nur noch von Spezialeffekten. Wenn auch THE ONE manipulierte Energiemengen in einem aberwitzigen Spiel dazu benutzt, sich in halluzinierte Welten emporzuschwingen, in denen mühelos ‚Geist und Körper’ verschwinden und sich wieder vereinigen, so werden die  guten Ansätze durch  durch plumpe Actionseinlagen in das Gegenteil verkehrt.  Alle Charaktere bleiben platt und steril. Die Spannung, die THE ONE durch die Vorgaben der modernen  Kosmologie zu Anfang erzeugen kann, hält er nicht durch, und verkümmert letztlich zu einer martialischen Schlacht zwischen Yu Law und seinem Doppelgänger. 

Wer THE MATRIX gesehen hat, dem kann man THE ONE nicht empfehlen. Natürlich versucht auch Jet Li (Kiss of The Dragon)  permanent die Schwerkraft ausser Gefecht zu setzen und entgeht so mühelos Gewehrsalven und fängt die Irrationalität durch Karateschläge ab. Doch so kommt er an THE MATRIX nicht heran, und verkümmert in einer Blase, in der Plan, Handlung und Ausführung in einem  Aufguss ohne Differenzierungen abgehandelt wird.  

THE ONE ist dort beeindruckend, wo er Paralleluniversen und  Multiuniversen in einem Handlungsstrang versucht zu verbinden, und  sich mit der Frage der Raum-Zeit und den Theorien über sie zu beschäftigen. Nach dem Kinogang ist niemand erleuchtet. THE ONE hinterlässt viele Bilder, Mythen, philosophische Ungereimtheiten, Weltfluchten, Geschichten, Figuren und Schein-(Realitäten). THE MATRIX  entwarf eine Vision von virtuellen und computerisierten Welten, in deren Mitte die Megamaschine Mensch steht und ihn in ein komplexes Aktivitätsmuster als überzeitliche Energiemaschine darstellte.

Bei THE ONE hatte ich eher den Eindruck, als ob sich seine   Inkarnation nur in einer reinen Weltenspringerei, die mit hübschen  Karateeinlagen garniert ist, auflöst.  

Anmerkungen:  

(1) THE ONE läuft seit dem 14. 11. 2002 in den Kinos. Regie: James Wong. Darsteller: Jet Li, Carla Gugino, Delroy Lindo, Jason Statham, James Morrison,  Dylan Bruno. 

(2) Vgl. meinen Artikel in trend 6/1999

Editorische Anmerkung

Der Autor schickte uns seine Filmkritik mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

Intoleranz und den alltäglichen Rassismus
Songwriter zum 11. September 2001
When We Were Kings
Hollywood und der Krieg

Dietmar Kesten schrieb früher regelmäßig für den trend und Partisan.net. Hier eine Auswahl aus seinen bisherigen Veröffentlichungen:

ASPEKTE DER ENDZEITLICHEN KRISENPHILOSOPHIE

Das "Bündnis für Arbeit"
Eine auf dem Kopf stehende Pyramide

Kommentare & Exkurse zum Kosovo-Krieg 1999