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1918 Unser November
Die sozialen Grundlagen: Der Kampf gegen die "Burgfriedenspolitik" der Instanzen von 1914 bis 1918

von Hans Manfred Bock

11-2014

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Die Diskussion der Organisationsfrage in der "Spartakus"-Gruppe
 

Angesichts der heftigen Diskussion der Organisationsfrage auf dem Gründungskongreß der USPD (April 1917) und besonders angesichts der rigorosen Stellungnahme Fritz Rücks, der im Namen der "Spartakus"-Gruppe sprach, ist es bemerkenswert, daß in Rosa Luxemburgs Kritik an der deutschen Sozialdemokratie das Ressentiment der "ver­ratenen" Massen gegen ihre Führer nur in sehr allgemeinen Wendun­gen zum Ausdruck kommt und daß sie keine organisatorischen Schluß­folgerungen daraus zieht.

 

In Rosa Luxemburgs "Junius"-Broschüre(1) ist die Erbitterung über das historische Versagen der zweiten Inter­nationale und im engeren Sinne der SPD als deren Führerin der vor­herrschende Grundton der Kritik. Der gegenwärtige Krieg wird ge­deutet als "Konkurrenzkampf des bereits zur vollen Blüte entfalteten Kapitalismus um die Weltherrschaft, um die Ausbeutung der letzten Reste der nichtkapitalistischen Weltzonen"(2). Die "Burgfriedens"-Politik wird eingehend analysiert und verurteilt. Mit der Annahme des Burgfriedens habe die Sozialdemokratie für die Dauer des Krieges den Klassenkampf verleugnet. Damit aber verleugne sie die Basis ihrer eigenen Existenz. Die Frage, was die Opposition zu tun habe, beant­wortete Rosa Luxemburg, indem sie - bei ausführlicher Zitierung ihrer Massenstreik-Schrift - ihre Spontaneitätsvorstellungen wiederholte.

Sie lehnte Jede Art konspiratorischer Vorbereitung revolutionärer Ak­tionen ab:

"Ob große Volkskundgebungen und Massenaktionen, sei es in dieser oder Je­ner Form, wirklich stattfinden, darüber entscheidet die ganze Menge öko­nomischer, politischer und psychischer Faktoren, die Jeweilige Spannung der Klassengegensätze, der Grad der Aufklärung, die Reife der Kampfstim­mung der Massen, die unberechenbar sind und die keine Partei künstlich er­zeugen kann."(3)

In den seit Dezember 1914 illegal erscheinenden Zirkularen der Grup­pe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht kann man die Bemühun­gen um die Schaffung einer neuen revolutionären Internationale und um die Abgrenzung gegen die weitere Opposition, die "Arbeitsgemein­schaft", verfolgen(4). Obwohl Rosa Luxemburg eine der ersten gewesen war, die auf die Bürokratisierungserscheinungen in der SPD aufmerk­sam gemacht hatte, findet sich weder in der "Junius"-Broschüre noch in den "Spartakus"-Briefen eine Analyse der parteiinternen Gegensätze aus der Perspektive der FUhrer-Masse-Problematik. Daß dieser As­pekt in ihren Publikationen während des Krieges fehlte, erklärt sich aus ihrem Kampf mit den eigenen Anhängern, die - durch das repres­sive Verhalten der SPD-Spitze und die Unentschlossenheit der "Ar­beitsgemeinschaft" erbittert - auf die organisatorische Verselbständi­gung drängten(5). Aus der Furcht, daß die Linksradikalen der Agitations­basis innerhalb der Partei beraubt und ins Sektenwesen abgedrängt wür­den, vermied sie es, durch Beiträge zum Masse-FUhrer-Problem die­se Kerbe zu vertiefen. In welchem Maße es zutrifft, daß Rosa Luxem­burg - wie der spätere Linkskommunist Laufenberg sagte - sich nie­mals vom Organisationsvorbild der SPD frei machte, ist mit Sicher­heit nicht zu entscheiden. Daß sie von ihren Spontaneitätsprämissen her keineswegs gewillt war, aus dem ihr sehr wohl bewußten Oligar­chieproblem in den Arbeiterorganisationen föderalistische Organisa­tionsgrundsätze abzuleiten, ist hingegen sicher und wird in ihren "Leit­sätzen über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie"(6) of­fensichtlich; Laufenberg wollte später gerade in diesen Leitsätzen "die straff zentralistische und autoritäre Grundanschauung des Spartakus-Bundes"(7) ausgedruckt sehen.

Daß Rosa Luxemburgs Organisationsvorstellungen nicht in der ge­samten " Spartakus "-Gruppe gültig waren, zeigen die Gefängnisauf­zeichnungen Karl Liebknechts, die später von der KPD totgeschwiegen und von den Linkskommunisten herausgegeben und herausgestellt wur­den(8). In seinen Überlegungen zu den Meinungsverschiedenheiten in der deutschen Sozialdemokratie, die er 1917 im Untersuchungegefängnis niederschrieb, unterschied Liebknecht drei Sozialschichten innerhalb der SPD. Erstens die besoldeten Funktionäre, die Kleingewerbetrei­benden usw., "alles, was unmittelbar durch Besitz oder Bildung an die heutigen Gesellschaftszustände geknüpft ist"; "die Instanzen, die Bureaukratie ist ihr gegebener Repräsentant"(9); sie bilden die soziale Grundlage der Politik der Parteimehrheit. Zweitens: "Die besser si-tuierten gelernten Arbeiter, Handwerker usw. Ihnen ist die Größe des Risikos einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den herrschenden Klassen nicht klar"; "sie wollen protestieren und "kämpfen" - und kön­nen sich nicht entschließen, den Rubikon zu überschreiten"(10). Sie sind die soziale Basis für die Haltung der "Sozialdemokratischen Arbeits­gemeinschaft". Drittens: "Die besitzlose Masse der ungelernten Arbei­ter, das Proletariat im eigentlichen, engen Sinne"(11) . Einzig diese Schicht hat am bestehenden Staat nichts zu verlieren. "Diese Mas­sen, das Proletariat, vertreten wir"(12), d.h. der "Spartakus"-Bund. -In der Tradition der radikalen Bürokratie-Kritik Robert Michels' und Anton Pannekoeks zeigt Liebknecht dann, daß die erste der genannten Schichten (besoldete Funktionäre usw.) nicht anders kann, als ledig­lich gemäßigte Formen des Klassenkonfliktes anzustreben, "die die "Organisation" und - ihre Stellungen, ihre Existenzen, nicht aufs Spiel setzen. Die Organisation ist ihnen Selbstzweck, nicht Mittel zum re­volutionären Zweck"(13). Als organisatorische Maßnahmen gegen das Übel der besoldeten Bürokratie, zu der er auch die Parlamentarier zählt, schlug er im einzelnen folgendes vor:

"Beseitigung der besoldeten Bureaukratie oder ihre Ausschaltung von allen Beschlüssen, ihre Einschränkung auf technische Hilfsarbeit; Verbot der Wie­derwahl aller Funktionäre nach bestimmter Dauer ...; Beschränkung der Zuständigkeit der Instanzen; Dezentralisation; Urabstimmung für wich­tige Fragen (Veto und Initiative) ... Die Erziehung der Massen und jedes Ein­zelnen zur geistigen und moralischen Selbständigkeit, zur Autoritäts-Un-gläubigkeit, zur entschlossenen Eigen-Initiative, zur freien Aktionsbereit­schaft und -fähigkeit, bildet die einzige sichernde Grundlage für die Entwick­lung einer ihren historischen Aufgaben gewachsenen Arbeiterbewegung Uber­haupt, so (zu ergänzen:-wie (?), der Verf.) die wesentliche Voraussetzung fllr die Austilgung der bureaukratischen Gefahr"(14).

Es ist unschwer zu erkennen, daß Rücks Forderungen auf dem USPD-Gründungskongreß sich unmittelbar von Liebknechts Überlegungen her­leiten oder doch, daß beide Ubereinstimmend in ähnlichen Wendungen eine verbreitete Stimmung artikulierten. Liebknecht schien auch weni­ger Bedenken gegen eine organisatorische Verselbständigung der Linksradikalen zu haben als Rosa Luxemburg; Jede organisatorische Gemeinsamkeit mit den Anhängern der "Burgfriedens"-Politik lehnte er entschieden ab, organisatorische Verbindungen mit der "Arbeitsge­meinschaft" machte er abhängig von der völligen Freiheit des Handelns für den "Spartakus"-Bund im Rahmen einer solchen Verbindung(15). Die Förderung der Initiative der Massen war ihm oberster Gesichtspunkt in seinen organisatorischen Entwürfen:

"Diese Initiative in den Massen zu fördern, ist gerade In Deutschland, dem Land des passiven Massen-Kadavergehorsams die dringendste Erziehungs­aufgabe, die gelöst werden muß selbst auf die Gefahr hin, daß vorübergehend alle "Disziplin" und alle "strammen Organisationen" zum Teufel gehen. Dem Individuellen ist weit größerer Spielraum zu geben als in Deutschland bisher Tradition"16).

Es wäre zu viel gesagt, wollte man in organisatorischer Hinsicht eine Gegensätzlichkeit zwischen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg auf­grund der bisher aufgezeigten Unterschiede behaupten; eine Akzent­verlagerung In der Kritik beider an der deutschen Sozialdemokratie ist jedoch unverkennbar: Rosa Luxemburg dachte vor allem im histo­rischen Maßstab; für sie war der Zusammenbruch der zweiten Inter­nationale ein epochales Geschehen, das es zu erklären galt". Liebkriecht, der große Agitator und proletarische Volksheld, sah in weni­ger umgreifenden Kategorien; er erklärte den Zusammenbruch der SPD Im August 1914 - sicherlich nicht weniger zutreffend als Rosa Luxem­burg - aus dem in der Opposition allgemein verbreiteten Geflihl heraus, von den "Instanzen" verraten worden zu sein; er formulierte aus die­ser Perspektive radikalere organisatorische Konsequenzen, als sie bei Rosa Luxemburg zu finden sind. Diese Unterschiede zwischen Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts Kritik spiegeln recht genau zwei Tendenzen innerhalb der "Spartakus"-Gruppe (auch Gruppe "Internatio­nale" nach ihrem ersten, sofort verbotenen Publikationsorgan genannt), die in der Bremer "Arbeiterpolitik" im März 1917 so charakterisiert wurden: Wenn einige Führer der Gruppe "Internationale" das Bestre­ben zeigten, die alte Führertaktik in der neuen Bewegung wieder auf­leben zu lassen, so beweise das noch lange nicht, daß dieses Streben von den Anhängern dieser Gruppe geduldet werde. Vielmehr seien zahl­reiche Anzeichen dafür zu finden, daß die Anhänger der Gruppe "In­ternationale" im Reich Selbständigkeit genug besäßen, "um derartige Führergelüste zu erstricken"(18). - Sprecher dieser Anhänger des "Spar­takus "-Bundes waren Liebknecht mit seinen Gefängnisaufzeichnungen von Anfang 1917 und Rlick mit seinen Äußerungen im April 1917. - Die KAPD nahm später beide Führer des "Spartakus"-Bundes für sich in Anspruch; sie konnte sich auf Karl Liebknecht mit mehr Recht berufen als auf Rosa Luxemburg.

Anmerkungen

1)  Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie. Bern 1916. Die Schrift verfaßte Rosa Luxemburg im April 1915 während einer Gefängnishaft; sie wurde 1916 unter dem Deckna­men "Junius" veröffentlicht.

2) Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, p. 63.

3) Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, p. 60.

4) Spartakus-Briefe. Hrgg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Ber­lin 1958. - Vgl. besonders Zirkular Nr. 12: Die Dezembermänner von 1915, und: Zirkular Nr. 15; Die Gegensätze in der Opposition, ibidem, p. 86 ff und p. 118 ff.

5) Vgl. dazu Paul Frölich, op. cit.. p. 265. Frölich vertrat zu jener Zelt als Redakteur der Bremer "Arbeiterpolitik" selbst diese Forderung.

6) Abgedruckt im Anhang der "Junius"-Broschüre, op.cit. ,p. 96 ff.

7) Heinrich Laufenberg/Fritz Wolffheim. Kommunimus gegen Spartakismus. Eine reinliche Scheidung, Hamburg 1920, p.4.

8) S. Karl Liebknecht, Politische Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß, geschrieben in den Jahren 1917-18, unter Mitarbeit von Sophie Liebknecht herausgegeben, mit Vorwort und An­merkungen versehen von Franz Pfemfert, Berlin 1921 (Aktions-Verlag).

9) Karl Liebknecht, Politische Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß, p.25.

10) Ibidem, p.25 f.

11) Ibidem, p.26.

12) Ibidem, p.26. Hervorhebung im Original.

13) Ibidem, p.27.

14) Karl Liebknecht, Politische Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß, p.28. f. Hervorhebung im Original.

15) S. ibidem, p.30 f.

16) Ibidem, p.31.

17) Vgl. dazu die Kritik der "Junius"-Broschüre durch die Bremer Linksradikalen, die in dem Satz endet: "Auf historische Reminiszenzen baut man keine Arbeiterpolitik auf, sondern nur auf dem Boden harter Tatsachen, die "Junius" Ubersehen hat". "Arbeiterpolitik" 1. Jg. (1916), Nr. 6-8: Im Fangnetz der Widersprüche.

18) "Arbeiterpolitik" 2. Jg. (1917), Nr. 10.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, Meisenheim am Glan, 1969, S. 62-66