Rivalitäten in den Nischen der Barbarei
Über den Umgang mit dem Antisemitismus in Hamburg

von Vadim Riga

12/09

trend
onlinezeitung

Ich war da! Aber ich bin mit Bauchschmerzen zu der Demonstration des „Bündnis gegen Hamburger Unzumutbarkeiten“ am 13. 12. 09 gegangen. Und ich bin mit den gleichen Bauchschmerzen auch wieder nach Hause gegangen.

Das „Bündnis“ kam zustande aufgrund der gewaltsamen Verhinderung einer öffentlichen Vorführung des Filmes „Warum Israel“ von Claude Lanzmann,2 durch sog. Antiimperialisten in Hamburg.

Jeder der mich und/oder meine Texte kennt weiß, dass ich weder was zu schaffen habe mit den (post)stalinistischen Freunden des bewaffneten Befreiungsnationalismus, noch mit deren, aus der gemeinsamen traurigen Tradition hervorgegangenen Negation: diejenigen Antideutschen, die sich mal bürgerlich Links, mal bloß noch bürgerlich geben.

Die innerlinke Rivalität, von der hier die Rede ist, spielt sich nicht bloß im gleichem Milieu ab, sondern auch innerhalb der gleichen Ideologie – was beide in ihrer Unkenntnis sicherlich vehement bestreiten würden. Auffällig ist dennoch ihr gemeinsamer inhaltlicher Bezug auf den historischen Antifaschismus. Und auf diesem Terrain äußert sich auch ihre Rivalität im Kampf um Deutungshoheit am auffälligsten. Denn auf anderem Terrain können sie sich beide kaum bewegen. So kommt es auch, dass beide Seiten stets bemüht sind ihre gesamte Wahrnehmung von der Welt auf diese Denkbestimmung zurückzuführen. Wer ist der wahre Antifaschist? Die in der Regel gebildeteren Antideutschen treiben das Deutungsspiel zuweilen besonders toll. Dabei verstricken sie regelmäßig. Mal mit den Positionen des Strukturalismus, mal mit denen des Positivismus... Um dummes Zeug effektiv zu verbreiten bedarf es besonders kluger Köpfe. Der gemeinsame Wesenszug der Kontrahenten speist sich zudem aus ihrer Beziehungslosigkeit zum Klassenbegriff. Was den Antifaschismus allerdings immer schon ausgezeichnet hat, da dieser ja das direkte Ergebnis einer historischen Niederlage der Abeiterklasse ist.3 „Der indirekten Unterordnung der Arbeiter unter die Interessen des Kapitals durch den Reformismus folgte die direkte Unterordnung durch den Faschismus. So kann man... ohne Zweifel sagen, dass die bisherige organisierte Arbeiterbewegung geschichtlich ihr Ende gefunden hat. Sie kann nicht neu hergestellt werden.“ - bemerkten internationalistische Kräfte schon sehr bald nach dem Versagen der Klasse.4

Eine wichtige Ursache für ihr falsches Bewusstsein ist somit zugleich für Antiimperialisten und Antideutsche in der Tatsache begründet, dass das revolutionäre Subjekt sich seit Jahrzehnten nicht zeigen will, jedenfalls nicht so wie sie es sich Vorstellen. Dass der internationale Klassenkampf bis dato als eine einzige Offensive der Herrschenden erscheint. Weltweit! Also auch Beispielsweise in Venezuela oder auf Kuba. Ohnehin in China. Selbstredend im Rest der Welt. Also auch im Herrschaftsbereich der klerikal-faschitischen Hamas oder Hizbolla. Aber eben auch im demokratischen Israel.

Zu ihrem Dasein innerhalb eines deklassierten politischen Milieus gesellt sich auf beiden Seiten des Widerspruchs folglich eine interklassistische Sichtweise, mit deren Hilfe mal die Lage der vielen unterdrückten Völker beklagt wird, mal die Lage eines bestimmten Volkes. Dabei wissen beide Seiten oft nicht wovon sie sprechen, noch sprechen sie wirklich von dem was sie wissen. Identifikation statt Identität!

Von den Situationisten wurde die plagende Debatte um Deutungshoheit im antifaschistischen Kampf, nach dem 6-Tage Krieg 1967, bereits dergestalt treffend kommentiert, dass der Krieg zwischen Israel und den arabischen Ländern ein übler Streich zu sein scheint, „den die moderne Geschichte dem guten linken Gewissen gespielt hat.“ Und weiter: „Indem der revolutionäre Kampf in die unterentwickelten Zonen immigrierte, wurde er einer doppelten Entfremdung unterworfen. Einerseits der einer gegenüber dem überentwickelten Kapitalismus ohnmächtigen Linken, die diesen auf keine Weise bekämpfen kann, und andererseits der der arbeitenden Massen der kolonisierten Länder, die die Überbleibsel einer entstellten Revolution (-der bolschewistischen-5) geerbt haben und deren Fehler erleiden mussten. Die Abwesenheit einer revolutionären Bewegung in Europa hat die Linke auf die einfachste Form reduziert: eine Zuschauermasse, die jedes Mal in Entzückung gerät, wenn die Ausgebeuteten in den Kolonien nach den Waffen gegen ihre Herren greifen, und die nicht umhin können darin das non plus ultra der Revolution zu sehen. Gleichfalls hat die Abwesenheit des politischen Lebens des Proletariats als Klasse für sich (und für uns ist das Proletariat revolutionär oder es ist nichts) es dieser Linken ermöglicht, in einer Welt ohne Tugend zum Ritter der Tugend zu werden. Wenn sie aber darüber klagt und jammert, dass ‚die Weltordnung' ihren guten Absichten widerstreitet, und wenn sie ihr armseliges Streben gegenüber dieser Ordnung aufrechterhält, ist sie praktisch doch mit ihr als ihrem eigenen Wesen verbunden - wird sie ihrer beraubt bzw. schließt sie sich selbst aus ihr aus, so verliert sie alles. Die europäische Linke ist so arm, dass sie sich scheinbar nach dem bloßen dürftigen Gefühl einer abstrakten Entgegnung wie nach einem Trost sehnt, wie der durch die Wüste Reisende nach einem bloßen Wassertropfen. Der Umfang ihrer Not kann durch die Leichtigkeit ermessen werden, mit der sie sich zufrieden gibt. Sie ist der Geschichte fremd, genau so wie das Proletariat dieser Welt fremd ist; das falsche Bewusstsein ist ihr natürlicher Zustand, das Spektakel ihr Element und der scheinbare Zusammenstoss der Systeme ihr universeller Bezug: immer wenn und über all dort, wo es einen Konflikt gibt, kämpft das Gute gegen das Böse, die ‚absolute Revolution’ gegen die ‚absolute Reaktion’. Die Zustimmung des zuschauenden Gewissens zu fremden Dingen bleibt irrational und sein tugendhafter Protest versumpft in den Windungen des Schuldgefühls.“6 (Auch dies gilt ohne Zweifel für beide: Antiimperialisten und Antideutsche)

Der Ernstfall entlädt sich indes nicht in einem Hamburger Hinterhof, sondern einige tausend Kilometer entfernt. Dort, „wo sich junge Menschen dem Terror und Krieg hingeben, erwachsen aus dem Zwang zur Kapitalvermehrung und der Rivalität ihrer jeweils herrschenden Klassen, vernebelt durch Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus“7schrieb ich vor ein paar Monaten.

Es gibt keine Seite in diesem, und im keinem gegenwärtigen Krieg, die man ernsthaft unterstützen kann ohne seine Klassenposition, wenn man sie denn hat, aufzugeben. Die antideutsche Linke weiß darum. Das drückt sich schon in ihren Verrenkungen aus, mit der sie um eine neue Wesensbestimmung der kapitalistischen Verhältnisse, sowie eine Neuformulierung des Kommunismus, beides ohne Klassenbegriff, bemüht ist. Und die Antiimperialisten ahnen dies zumindest. Sonst hätten wenigstens die Mutigen unter ihnen, (oder besser: diejenigen die zu blöd sind Angst zu empfinden) wie schon vor 30, 40 Jahren, überall dort wo die unterdrückten Völker im Namen der zu befreienden Nation in den Kampf für ihre Herrscher treten, Brigaden an der Seite ihre „Verbündeten“ aufgestellt. Wenigstens Arbeitsbrigaden. Jedenfalls keine Brigaden die mit selbst gebastelten Spielzeugewehren den Hausmeister abgeben.

Als ich hinging wusste ich bereits, dass ich mich an einem Ort begebe, an dem der reale barbarische Konflikt in Israel/Palästina heruntergebrochen wird auf die surrealen Rivalitäten um ideologische Hegemonie in den Nischen der Barbarei – dem Szeneviertel. Dorthin, wo ein um Identifikation ringendes Milieu von politisierten Individuen die Tragödie der von Terror und Krieg traumatisierten Bevölkerung, in Tel-Aviv wie in Gaza-City, als theatralische Farce inszeniert. Ich war trotzdem, und gerade deshalb da!

Als ich ankam sah ich zunächst das was ich erwartet hatte. Viele israelische Nationalfahnen. Einige wenige US – Fahnen. Polizei. Da ich während meiner beinahe 40 jährigen politischen Tätigkeit auch viele Jahre innerhalb der radikalisierten (bürgerlichen) Linken zugebracht habe, zuweilen durchaus auch als Angstverdränger, traf ich ein paar alte Bekannte, von denen mich einige heute noch als Genossen ansprechen – und ich sie. Allerdings die wenigsten. Und das ist stimmig! Von einigen die mich zu kennen glauben, wurde ich freundlich begrüßt. Mehrmals bekam ich zu hören, dass es eine freudige Überraschung sei, mir hier zu begegnen. Wenigstens wurde es nicht als selbstverständlich hingenommen!

Nicht gerade wegen solcher anerkennenden Gesten reihte ich mich schließlich in die Demo ein. Im Gegenteil! Ich bemühte mich darum möglichst dort zu laufen, wo mich entweder niemand wahrnimmt – was auf solchen Demonstrationen recht einfach ist - oder abwechselnd zusammen mit Leuten, die meine Einstellung zu der ganzen Angelegenheit kennen und respektieren, oder denen es gar ähnlich geht wie mir.

Warum war ich dort? Und warum hab ich mich zudem - für den Moment - für eine Seite entschieden?

Nun, ich erfuhr von der ganzen Angelegenheit durch eine Email von Genossen der Gruppe „Bricolage“ mit denen ich eine Weile regelmäßig diskutiert, und sie als ernsthafte, liebevolle und kreative Menschen im Kampf um Emanzipation kennen gelernt habe. Und ich war spontan schlicht empört über die Zumutung der Antiimps, Leute für so dumm hinzustellen, als könnten sie nur mit Hilfe dieser Schlaumeier entscheiden welcher Film für sie richtig ist, und welchen Nutzen sie daraus für sich zu ziehen haben. Das in einer Gesellschaft, in der die Medien der Mächtigen rund um die Uhr in die Hirnwindungen der Leute eindringen, (wo aber dennoch Widerspruch und Widerstand entsteht). Der Filmtitel „Warum Israel“ wird durch dieses Verhältnis, in diesem Kontext und durch dieses Verhalten zugleich zur treffenden Fragestellung an die Freunde der erniedrigten Völker gerichtet: Warum Israel? (Warum ihr? Wer wem?)

Empörung auf der einen Seite, aber auch, und vor allem persönliche Beziehungen, positive soziale Erinnerungen, konkret erfahrene Zwischenmenschlichkeit auf der anderen haben mein Interesse für diese Angelegenheit wecken können. Keine Ideologie, und schon gar kein Drang nach Zugehörigkeit zu dieser oder jener linken Fraktion.

Mit diesen Vorgaben behaftet begann ich mich im Vorfeld durch die verschiedenen schriftlichen Selbstdarstellungen der beiden Fraktionen zu arbeiten, die sich zum größten Teil lesen wie mehr oder weniger intelligent vorgetragene, kindliche Klagen gegen empfundenes Unrecht der „Anderen“. Politisch ist höchstens das Beiwerk. Ich nahm zur Kenntnis, dass die Angelegenheit bereits ein Echo in der offiziellen bürgerlichen Presse hervorgerufen hatte, auch über Deutschland hinaus. Der Schein der Wichtigkeit konnte sich also schon wohltuend über die Häupter der Protagonisten dieses Konkurrenzkampfes legen. Dass sich hinter diesem Schein bloß lächerlicher, medialer Antikommunismus verbirgt, haben wahrscheinlich nur wenige Beteiligte wirklich verstanden. Es ist eben nicht immer gut, wichtig zu sein – es ist aber oftmals wichtig, gut zu sein.

Ich fühlte mich allerdings weder gut noch wichtig… an diesem Tag!

Aber ich war dort, blieb dort und ging mit. Denn es gab weitere antreibende Momente. Eines war die Beteiligung der FAU-IAA an dieser Demonstration. Eine Organisation, deren Standpunkte ich zwar in vielen Punkten nicht teile, die ich aber dennoch als proletarische Standpunkte, als Standpunkte innerhalb der wirklichen Bewegung der Aufhebung, meiner Bewegung, anerkenne und respektiere. Ihr geistiger Ziehvater und Mitbegründer des organisierten Anarcho-Syndikalismus in Deutschland, Rudolf Rocker, hat zudem in seinen Texten und Taten einen konsequenten Kampf gegen den Antisemitismus geführt.8 Von Anfang an, und bis zum Schluss. In einer Zeit wo es wirklich gefährlich war den Kampf gegen den Antisemitismus zu führen. So schrieb Rudolf Rocker schon 1923: „Mögen die deutschen Arbeiter aller Richtungen die Kraft finden, der antisemitischen Pest mit aller Energie entgegenzutreten, denn sie ist nur die heuchlerische Maske, hinter welcher sich die Hydris der blutigsten und finstersten Reaktion verbirgt.“9 Leuten wie mir imponiert so etwas. Das die deutschen Arbeiter, und mit ihr die gesamte Weltarbeiterklasse diese Kraft nicht gefunden hat ist bekannt, und ein wesentlicher Grund dafür, dass der Faschismus sein Haupt aufrichten, und von da an, und bis jetzt die Geschichte determinieren konnte.

Ich habe vermisst, dass die FAU sich selbstbewusst, und in Abgrenzung zur „antideutschen Ideologie“ positioniert. Das ist, nach meinem Wissen, bis heute nicht geschehen. Unter den schwarzroten Fahnen erkannte ich indes niemanden. Ich mochte mich dort deshalb auch nicht einreihen, da ich schon wegen meines Alters und meiner belanglosen Alltagskleidung kaum im habituellem Raum dieser Genossen untertauchen kann, ohne mich der Verdächtigung auszusetzen, entweder ein Bulle, oder ein Irrer zu sein.

Hätte ich spätestens jetzt nach Hause gehen sollen, oder aber zumindest in die Zuschauerposition am Straßenrand? Nein. Ich wollte da durch. Ich wollte diesen Realitätsabgleich. Ich wollte wissen was, und deshalb musste ich die Erfahrung machen wer wirklich hinter dieser Angelegenheit steckt. Denn das gehört zusammen. Wer wem? Mit dieser Fragestellung hat sich bereits vieles für mich erschlossen - lange vor der Lektüre der Klassiker. Klar war für mich zunächst, dass ich auf keinen Fall an der „Gegenkundgebung“ der Antiimps teilnehmen möchte. So wie viele Antideutsche der ersten Stunde gehörte auch ich zu den Linken, denen sich nach 1989, nach dem Mauerfall, der begleitet wurde durch das grölen des rassistischen Mob aus bepissten Hosen in den Vorstädten des zusammengebrochenen Realsozialismus, die Frage des Nationalismus völlig neu stellte. Und auch wenn ich diese Frage bislang völlig anders für mich beantwortet habe, ist mir die Suche nach einem Ausweg aus der nationalistischen Falle in den Debatten einiger antideutscher Gruppen doch näher, als die Tradierung, ja Verheimatung der Antiimps in die vermeidlichen Kämpfe um die Befreiung der Völker und Nationen, die obendrein stellenweise gar bizarre, folkloristische Züge annimmt.

Die nationalen Befreiungsbewegungen waren und sind bloß -meist untauglich gebliebene- Instrumente zur Durchsetzung von (mehr) Bewegungsfreiheit für das nationale Kapital...“ schrieb ich kürzlich in einer Fußnote.10 Für mich ist der Imperialismus nicht ein Verhältnis zwischen herrschenden und unterdrückten Völkern, so sehr es an der Oberfläche auch so scheinen mag, sondern eine Daseinsform des Kapitals ab einer bestimmten historischen Stufe. Ein weltweites System, unter dessen Zwang ausnahmslos alle Nationen auf den Weltwarenmarkt drängen, mit dem einzigen Ziel ihre Position zu verteidigen, und wenn möglich auszubauen. Allerdings mit unterschiedlichen historischen Ausgangsbedingungen. Diese Sicht bringt mich immer wieder zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück: Klassenantagonismus bis zur Weltrevolution - bis zur Aufhebung der Klassen in einer kommunistischen Weltgemeinschaft.

Aus meinen bisherigen Beobachtungen heraus scheint mir die palästinensische Sektion der Weltarbeiterklasse allerdings weit davon entfernt zu sein, sich als Sektion dieser Klasse auch nur ansatzweise begreifen zu können. (Ausgenommen vielleicht die Palästinenser, bzw. Araber, welche innerhalb des demokratischen Israels leben, arbeiten und zuweilen bedeutende ökonomische und/oder politische Kämpfe gemeinsam mit ihren jüdischen Kollegen führen).

Nachdem der alte, panarabische Nationalismus nach 1989 dem Untergang geweiht war, und mit Figuren wie Yasser Arafat und Saddam Hussein schließlich begraben wurde, dient sich der Islamismus als Vereinigungs- – und Expansionsstretegie den herrschenden Cliquen im Nahen-Osten mehr an als jemals zuvor. In den Regionen, in denen der Islamismus die ideologische Hegemonie übernommen hat, ist gleichwohl an autonome Kämpfe der arabischen Lohnsklaven, an eine Selbstermächtigung der Klasse überhaupt nicht zu denken. Jedes emanzipatorische Begehren unterliegt der ideologischen oder auch tatsächlichen Steinigung aus bewusstlosem Hass. Würde der Geist der Emanzipation sich regen, und nur ein wenig entfalten können, dann wäre die Herrschaft der Mullahs schnell erschüttert – wie wir es erst kürzlich wieder in den Metropolen Algeriens und vor allem des Iran beobachten konnten, oder in den letzten Jahren in Kairo oder Marakesch. Es bleibt dennoch vorerst immer noch so, wie die Situationisten es beobachteten: „Die palästinensische Frage ist zu schwerwiegend, als dass sie den Staaten, d.h. den Obersten überlassen werden kann. Sie ist zu eng mit den beiden grundsätzlichen Fragen der modernen Revolution – dem Internationalismus und dem Staat - verbunden, als dass irgendeine heute bestehende Kraft sie angemessen lösen kann… 11 Und an anderer Stelle stellten die Genossen, ebenfalls schon Ende der 1960er Jahre fest: „Die Bewegung, die die arabischen Völker zur Vereinigung und zum Sozialismus führt, hat gegen den herkömmlichen Kolonialismus Siege errungen. Aber es wird immer augenscheinlicher, dass sie mit dem Islam Schluss machen muss, der die herrschende Politik in den arabischen Staaten rechtfertigt, da sich diese Politik vor allem die Zerstörung Israels zum Ziele setzt, und sie auf unabsehbare Zeit rechtfertigt, da diese Zerstörung unmöglich ist…“ und sie unterstrichen diese Einschätzung mit der erfrischenden Parole: „Es leben die Genossen, die 1959 in den Straßen Bagdads den Koran verbrannt haben!“12

Als ich mich entschloss an der Demonstration gegen die Machenschaften der Antiimps in Hamburg teilzunehmen, hatte ich dieses Wissen schon mit im Gepäck. Aus eigener, langer Anschauung, und von den Genossen der Situationistischen Internationale längst vorher auf den Punkt gebracht. Würden sie würdig Denken können, wäre dies auch Denkwürdig für die Gefolgschaft der einen, wie der anderen dieser Ideologien, welche sich durch die Rivalitäten in der linken Szene ihren neurotischen Ausdruck verschaffen können. Sie können es aber derzeit nicht. Sie wähnen sich Selbst ununterbrochen in absoluter Gewissheit, denn das ist die Voraussetzung und ständige Begleiterscheinung der Neurose. Was den Antiimperialismus angeht, so leitet Harry Waibel diese politisch begründete Neurosenbildung historisch dergestalt her: „Durch ihre phantasierte Transformation der Op­fer der Shoa zu fa­schistischen und rassistischen Massenmördern, müssen die Palästinenser als Opfer dargestellt wer­den, denen die Anti-Imperialisten als Anti-Faschisten zur Hilfe eilen. Dies ist der Kern der Ideolo­gie des Anti-Zionismus, wie er von Marxisten-Leninisten in die Welt gesetzt wurde und wie er bis heute praktiziert wird.“13 Und Waibel begründet seine Herleitung sehr gut! Um die Neurosebildung im antideutschen Milieu nachzuvollziehen langt es völlig aus sich deren eigenen Produkte in Hinblick auf ihren Umgang mit der dort verwendete therapeutische Terminologie durchzusehen. Hier wie dort: Bewusstloses Übertragungsgeschehen und Projektionsverschiebungen ohne Ende.

Ich marschierte trotz alledem weiter mit in dieser „antideutschen Demonstration“. Bis zum Checkpoint an der Ecke Wohlwillstraße – Brigittenstraße, der diesmal von deutschen Polizeikräften eingerichtet war. Diese trugen keine Holzgewehre, sondern richtige Waffen. Getrennt durch die Staatsmacht kam jeder Enthusiasmus zum erliegen. In bizzarer Stille, welche hin und wieder durch hilflose wirkende Parolen einiger weniger auf beiden Seiten unterbrochen wurde, stand man sich jetzt gegenüber. Junge Leute, die einander kennen aus zahllosen Partys in der Subkultur, und ältere Leute, die einander kennen aus zahllosen Niederlagen in den Teilbereichsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte. Wer saugt hier an wessen Lebensenergie? Spätestens jetzt wurde es für mich Zeit mit ein paar Freunden, die ich zum Glück getroffen hatte, das Geschehen zu verlassen, um in einer nahe gelegenen Gaststätte etwas Warmes zu trinken. Ein Gespräch zum gerade gemeinsam Erlebten kam nicht zustande. Für uns war das ganze scheinbar noch zu wenig erledigt, als dass wir schon in der Lage wären darüber zu reflektieren. Wir mussten also noch mal raus.

Diesmal entschlossen wir uns gemeinsam, über Schleichwege, an den Polizeisperren vorbei, zur Kundgebung der Antiimperialisten zu gelangen. Sensationslust stellte sich bei mir ein. Das Spektakel ist nur konsumierbar, oder es ist nicht.

Jetzt erst wurde ich zufrieden stellend bestätigt in meinem Entschluss, meinen Protest gegen die Ignoranz der Antiimperialisten auf die Straße zu tragen. Auch gemeinsam mit mir seltsam erscheinenden Gestallten aus dem antideutschen Spektrum. Aber auch gemeinsam mit einigen Genossen und an der Seite der vielen Menschen aus der jüdischen Gemeinde.

Was im, und vor dem „Internationalen Zentrum“ geboten wurde sprach für sich: Mittlerweile waren jede Menge St.Pauli-Fans eingetroffen, die Einlass in ihren Fanladen begehrten, welcher sich genau im Niemandsland, zwischen den beiden Polizeiketten welche die beiden Kundgebungen voneinander trennten, befindet. Die Polizei lies schlau alles durch, was durch braunweisse Fanfarben identifiziert werden konnte, um einen weiteren Puffer zu bilden. Die Taktik ging auf. Die Fans holten sich Bier aus ihren Laden, ließen die Tür offen und versammelten sich in der Mitte, um das Ereignis mit Stadionparolen zu begleiten. Sie nahmen die Angelegenheit sportlich. Das Spektakel ist nur Konsumierbar, oder es ist nicht!

Aus der Tür des „Internationalen Zentrums-B5“ gab ein Lautsprecher Anweisungen und Motivation an die vor der Tür versammelte Gefolgschaft, die hektisch hin und her schwärmte wie jugendliche, die Scheiße gebaut haben, und sich nun schnell überlegen müssen wie man da wieder rauskommt. Alle Abwehrmechanismen schienen mobilisiert.

Die Rede des Lautsprechers wurde mit einen angeblichen Zitat eines Akztetenkönigs eingeleitet, in dem die Goldgier der Spanier, („…deren Körper beim Anblick des Goldes anschwillt, und die sich auf das Gold stürzen wie hungrige Schweine…“) der „Gier der Imperialisten“ als Metapher dienen sollte - Kapitalvermehrung als Angelegenheit von schlechtem Charakter. Das was man eben verkürzte Kapitalismuskritik nennt, oder eben den Sozialismus der Dummen. Oder schlicht Antisemitismus! In dieser Situation, als Einleitung, Überleitung einer Rede gegen den Zionismus, lief mir schon bei den ersten Sätzen ein kalter Schauer über den Rücken. Unterbrochen wurde der Eifer aus dem Lautsprecher durch wildes Geschrei, nach dem es einigen jungen Leuten gelungen war an der Polizei vorbei ins Niemandsland vorzudringen, um dann, nur ein paar Meter von den Antimps entfernt, den Davidstern blank zu ziehen. Begleitet von sportlich-anerkennenden, melodischen „Sankt-Pau-Liii“ Rufen. Der halbherzige Versuch der aufgebrachten Antiimps, die Polizeikette zu durchdringen, und die Fahne Israels einzuholen, misslang. Der Lautsprecher kommentierte „Lasst euch nicht provozieren“ um dann mit der Rede gegen die „Gier“ fortzufahren. Provokation durch den Davidstern? – Warum Israel? Wer wem?

Nichts wie weg! war mein Gedanke. Meine Bauchschmerzen hatten sich inzwischen eingestellt. Ich spürte wieder tief, warum ich an dieser Demonstration teilnehmen musste.

Eine Schwäche bleibt dennoch, dass das proletarische Lager, die revolutionären Minderheiten in Deutschland, bislang kaum befriedigende Stellungnahmen zu dem ganzen Geschehen abgegeben haben. Unter uns herrschte lange die Einschätzung, dass dieser Spuk bald ein Ende haben wird, und jede Stellungnahme von uns die Plage nur aufwerten, und damit verlängern würde. Diese Einschätzung ist falsch!

Ich denke, wir haben deutlich zu machen wo wir stehen, und wir haben deutlich zu machen, dass unser Klassenbewusstsein ein historisches ist. Und dementsprechend unsere Verantwortung, auch vor dem Hintergrund der Niederlagen unserer Klasse, eine historische ist.

Auf dem Heimweg bekam ich von einer sehr jungen Frau ein Flugblatt zugesteckt. Unterzeichnet war das Flugblatt von einer Gruppe die sich „freie radikale“ nennt. Darin wurde, auf weniger als einer DIN A4 Seite mit klaren Sätzen Stellung genommen zu den Ereignissen im Szeneviertel. Einer dieser Sätze lautete: „Hört auf unsere Freunde zusammenzuschlagen, bloß weil sie einen Davidstern oder ein Pallituch tragen!“

Auf dem Heimweg stellten sich die Bauchschmerzen wieder ein.

DEM NATIONALISMUS DIE WURZEL AUSREISSEN!
DIE KOSMOPOLITISCHE, KOMMUNISTISCHE BEWEGUNG AUFBAUEN!

Anmerkung

1 Aus: Christian Geißler, „kamalata flugschrift 2 - dissonanzen der klärung“, Kiel 1990

2 C. Lanzmann: Französischer Jude, ehemaliger Resistencekämpfer, Regisseur, u. a. von „Shoa“, dem wohl bekanntesten visuelle Werk über die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten und ihre willigen Helfer.

3 Ähnlich wie der Zionismus übrigens.

4 Kollektiv Rätekorrespondenz , „Probleme der neuen Arbeiterbewegung“, in „Partei und Revolution“, S. 50, Berlin, 1969

5 Anmerkung von Riga

6 Siehe Texte der Situationistischen Internationale, „Zwei lokale Kriege“, Heft 3, S. 55ff

7 Siehe V. Riga, „Bereit für stürmische Zeiten“ in: trend-onlinezeitung, Juni 2009

8 Was ihm nur durch seine proletarische Sichtweise, und in Abgrenzung zu wichtigen Autoritäten des Anarchismus gelingen konnte. Bakunin, der Übervater des Anarchismus ist durchaus als Antisemit zu brandmarken, wenn er in einer persönlichen Abrechnung mit Marx schreibt: „Nun diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutegelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet… steht heute einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung…. Was kann es zwischen dem Kommunismus und der Großbank gemeinsames geben? Der Kommunismus von Marx will die mächtige staatliche Zentralisation, und wo es solche gibt muss heute unvermeidlich eine zentrale Staatsbank bestehen, und wo eine solche Bank besteht, wird die parasitische jüdische Nation, die in der Arbeit des Volkes spekuliert, immer ein Mittel zu bestehen finden…“ Siehe: Michael Bakunin, „Konflikt mit Marx“ Teil 1, Berlin, 2004.

9 Siehe: Rudolf Rocker, „Antisemitismus und Judenpogrome“, in: Der Syndikalist, 5. Jg. (1923), Nr.47.

10 Siehe V. Riga, Bereit für stürmische Zeiten? in: trend-onlinezeitung, Juni 2009

11 Siehe Texte der Situationistischen Internationale, „Zwei lokale Kriege“, Heft 3, S. 55ff

12 Siehe Texte der Situationistischen Internationale, „Adresse an die Revolutionäre Algeriens und aller Länder“, Heft 3, S. 50ff

13 Siehe Harry Waibel, Anti-Semitismus bei deutschen Anti-Imperialisten, in: trend-onlinezeitung

7

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor, verbunden mit der Bitte den Text von Geißler unbedingt in dieser Formatierung voran gestellt zu lassen.