Editorial
Sozialdemokratisches Zirkeltraining

von Karl-Heinz Schubert

12/2018

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Das Zirkeltraining - in der Schulzeit oder in Sportvereinen früher oft als grauslig empfunden - ist heute voll im Trend, steigert es nicht nur die körperliche sondern bisweilen auch die geistige Konstitution, indem verschiedene Übungen nacheinander in einem Durchgang abgearbeitet werden. Solche oder ähnliche Überlegungen müssen den Sozialistisch-Demokratischen Studierendenverband (SDS) bei der Konzipierung seines "68/18 Kongress" geleitet haben.


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Die organischen Intellektuellen der Linkspartei bieten mit diesen Programm vieles an, was zum geistigen Wohlfühlen in linken Milieus befähigt und der Mutterpartei zum politischen Nutzen gereicht. Die LINKE - eine echte sozialdemokratische Partei - geriert sich mit diesem Kongress als Erbe der 68er Bewegung.

Übrigens solch einen Versuch unternahmen 2018 auch die Grünen - wenn auch in einem erheblich kleineren Rahmen. Bei der Linkspartei wirkt hingegen der Versuch der Inbesitznahme der 68er-Geschichte scheinbar authentischer. So beginnt ja die 68er-Geschichte mit dem Ausschluss des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im November 1961 aus der SPD wegen Differenzen über Wiederbewaffnung und Atomrüstung der BRD. Für diese Ziele und mit seinem linkssozialdemokratischen Selbstverständnis wird der SDS initiierender Motor der 68er Bewegung. Seine sozialen Träger, aus bürgerlichen Zusammenhängen kommend, stoßen 1966/67 durch ihre reformistischen Aktivitäten auf eine klassenübergreifende Bewegung in der Jugend, die popkulturell in Widersprüche zur herrschenden BRD-Kultur geraten ist.

Das anschließende praktisch-politische Verschmelzen dieser Schichten zu einer Bewegung geht einher mit der raschen Abkehr von sozialdemokratischen Illusionen über die Reformierbarkeit des Kapitalismus. Und es sind nicht allein nur Etikette, wie das Geleitwort des Vietnamkongress vom Februar 1968, wo es hieß "Die Pflicht ein jeden Revolutionärs ist es die Revolution zu machen", die fortan den Mainstream der "68er" bilden und schließlich im Gefolge der Erosion der K-Gruppen ab den 1980er Jahren zusehends wieder aus der Öffentlichkeit verschwinden werden. 

Wie und was aus dem Scheitern der 68er Bewegung für eine aktuelle revolutionäre Politik auf der Höhe der Zeit gelernt werden kann, steht bei den Sozialdemokrat*innen von heute nicht auf dem Programm. Denn wie der Kongress-Ankündigung im ND zu entnehmen ist, will der Kongress stattdessen "ein kollektives Gedächtnis der 68er erzeugen", um eine "alternative Erzählung zum gegenwärtigen System" zu produzieren. Wesentliche Leitidee für dieses ideologische Zirkeltraining soll der Slogan "Migration is not a Crime" sein - und das dazu kompatible Praxislernangebot auf dem Kongress heißt "Stammtischkämpfer*innenschulung".

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Legitimatorische Zwänge - oft auch als Sachgrund bezeichnet - beeinflussen nicht selten  "kollektive Gedächtnisse" und von diesen hervorgebrachte "Erzählungen" stimmen dann kaum mehr mit den historischen Fakten überein. In dieser Dezemberausgabe haben wir einen besonders schwerwiegenden Fall von kollektiven Gedächtnisschwund zu verzeichnen. Nämlich die von der DDR-Geschichtsschreibung verbreitete Behauptung, dass die KPD auf ihrem Gründungsparteitag zur Jahreswende 1918/19 ein Programm beschlossen haben soll. Dem war nicht so - nachzulesen im Protokoll vom Gründungsparteitag der KPD, das wir in unsere Rubrik "100 Jahre Novemberrevolution" aufgenommen haben.

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Weil Arbeiten am "kollektiven Gedächtnis" nicht ohne entsprechende Begriffe auskommen, mit denen Bedeutungsverschiebungen oder Klitterungen befördert werden, spielt die Frage nach dem Zusammenhang von Denken und Sprache im Hinblick auf eine Kritik an solchen "alternativen Erzählungen" eine zentrale Rolle. Von daher könnte der Essay von Richard Albrecht "Über zerstörte Sprache - Zerstörte Kultur" als eine Weiterführung dieses Gedankengangs gelesen werden - aber leider nur solange - wie er Ernst Blochs gleichnamigen Vortrag resümiert.

Dort, wo Richard Albrecht seine Wiedergabe des Blochschen Vortrags abschließt und sich dem Rhetorikprofessor Gert Ueding zuwendet, wäre er als Marxist gut beraten gewesen, dessen nationalborniertes Diktum von der "Verluderung des Denkens" durch frühzeitiges Erlernen von Englisch im Schuluntericht kritisch zu hinterfragen, anstatt darauf aufsetzend eine pauschalisierende Verfallskritik an deutscher Sprache und Kultur zu formulieren.

Aus dialektisch-materialistischer Sicht wäre m.E. eine völlig andere Herangehensweise angesagt: nämlich Sprache und Sprachentwicklung im Hinblick auf die kapitalistische Produktionsweise und die Produktivkräfte konkret - d.h. nicht nur begrifflich, sondern auch empirisch - zu bestimmen und die dabei innewohnenden Widersprüche aufzudecken, um sie für eine den Kapitalismus aufhebende Praxis nutzbar zu machen. Siehe dazu auch in dieser Ausgabe: Das Subjekt und seine Widersprüche.

Im Kontext proletarisch-revolutionärer Projekte in den 1970er Jahren gab es auf dem Gebiet von Sprache und Sprachentwicklung folgende Befunde, über die es sich heute eher zu diskutieren lohnte als über "sprachlich-gedanklichen Enteignungsprozeß und Weltverlust"(Albrecht) :

"Der Klassenkampf in Deutschland wird multinational sein, oder er wird nicht siegen. Ein multinationaler Klassenkampf ist ohne Vorantreiben eines autonomen proletarischen Bewußtseins während dieses Kampfes selber, das zugleich seine Unterstützung und sein Inhalt ist, nicht vorstellbar. Der Ausdruck dieses Bewußtseins wird eine multinationale proletarische Kultur sein und deren Grundlage eine multinationale proletarische Sprache. Und in dem Ausmaß, in dem sich die multinationale proletarische Sprache weiter entwickelt, wird sich notwendigerweise ein linguistischer Grundstock bilden, der den Sprachen der Proletarier aus den verschiedenen Ländern gemeinsam ist."

Bericht aus einem Sprachlern-Projekt mit Arbeitsmigrant*innen bei Opel, in: Ästhetik und Kommunikation, 11/1973,  Reinbeck 1973, S. 57

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Allweil ist es Usus zum Ausgang der Jahres Bilanz zu ziehen. Wir werden davon abweichen und dies im Januar nachholen und unsere Pläne für 2019 vorstellen. Zuvor wird es im Dezember noch mindestens ein Update geben.

"The top 500 sites on the web"
in der Alexa-Rubrik "Deutsch/Medien/Alternative_Medien"
Stand 30.11.2018

Quelle: https://www.alexa.com/topsites/category/World/Deutsch/Medien/Alternative_Medien