Auf der Suche nach dem Rosengarten
Ein Bericht über den jetzt erschienenen Reader zur internationalen Antipsychiatrie- Konferenz vom 1-3.9.2011 in Berlin

von Anne Seeck

5/6-12

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onlinezeitung

Wer wissen will, wie es um die Antipsychiatrie in der Gegenwart bestellt ist, lese diesen Reader. Herausgeber ist der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt.

Ergänzend empfehle ich noch das Buch der Irrenoffensive, dass zum 30. Jahrestag dieser Initiative im Jahre 2010 erschienen ist. (Irren-Offensive, AG Spak Neu-Ulm 2010) Auf Letzteres möchte ich nicht weiter eingehen, Zwangspsychiatrie: ein durch Folter aufrecht erhaltenes System, heißt z.B. ein Kapitel. Oder ein anderer: CPT plant neue Folter- Verschleierungs-Besuche. Der Anfang des Buches widmet sich der Geschichte und der Selbsthilfe in der Irrenoffensive. Ein großer Teil der Patientenverfügung. Wolf- Dieter Narr schreibt über die Geltung der Menschenrechte. Auf der Geburtstagsfeier der Irrenoffensive hielt er eine beeindruckende Rede. Gut, dass die Antipsychiatrie solche Fürsprecher hat.

Leider sieht der Zustand der antipsychiatrische Szene ansonsten traurig aus. Dabei wächst die Zahl der Psychiatriebetroffenen. Das heißt, das Thema wird gesellschaftlich immer relevanter. Aber was interessiert die Antipsychiatrie: Es gibt keine psychische Krankheit. Sie kämpft gegen Psychopharmaka. Sie kämpft gegen Zwangseinweisung, Zwangsbehandlung und Zwangsbetreuung.

In dem Reader zur Konferenz finden sich vor allem die Themen Betroffenenkontrolle, wie es in ihrem Expertensprech heißt, und Erfahrungswissen von Psychiatriebetroffenen. Der Großteil der Texte stammt von Psychiatriebetroffenen, die beruflich in das System der Betroffenenkontrolle eingebunden sind, sei es in der betroffenenkontrollierten Forschung oder in betroffenenkontrollierten Organisationen. Anscheinend ging es bei dem Kongreß um die Legitimierung und Anerkennung ihrer Arbeit. Vieles ist hier nicht erwähnenswert, da es im Expertensprech verfasst ist und eher etwas für die Fachexperten und nicht für „gewöhnliche“ Psychiatriebetroffene ist. Das Erfahrungswissen werde abgetan, so heißt es in der Broschüre, daher sei Betroffenenkontrolle eine politische Aktivität.

Politische Aktivität setzt m.E. eine Reflexion voraus, wie die gesellschaftlichen Zustände sind.

Nur leider findet sich in dem Reader rein gar nichts über die gesellschaftliche Situation und die gesellschaftlichen Veränderungen seit den Anfängen der Antipsychiatrie. Worte wie Kapitalismus oder Neoliberalismus kommen schlicht nicht vor, ganz zu schweigen von einer Gesellschaftsanalyse. Als ob sich Psychiatriebetroffene in einem luftleeren Raum bewegen würden.

Da hat es für die Veranstalter auch eine gewisse Logik, dass man das Thema Psychiatriebetroffene und Leistungsgesellschaft ganz an den Schluß des Readers stellt. Dabei fand die Arbeitsgruppe „Leben in Armut“ (der Titel wurde umbenannt) am Anfang des Kongresses statt. Auch das Hineindrängen von Psychiatriebetroffenen in betroffenkontrollierte Projekte auf dem 1. Arbeitsmarkt hat etwas mit der Leistungsgesellschaft zu tun und damit die gesamte Konferenz.

Aber gesellschaftliche Hintergründe interessierten nicht. Und die Psychiatriebetroffenen?

Der gesamte erste Tag, nämlich der Fachtag für Psychiatriebetroffene, der in Form eines World Cafes stattfand und noch das Interessanteste an dieser Konferenz war, wurde in der Broschüre ganz nach hinten gestellt. Soweit etwas zur Wertschätzung des Erfahrungswissens von nicht beruflich einbezogenen Psychiatrieerfahrenen.

Erfahrungswissen

Stark ist der Reader dort, wo Psychiatriebetroffene außerhalb des Expertensprech über ihre Erfahrungen sprechen, so Clare Shaw über Selbstverletzung. Sie hat sich zwanzig Jahre selbst verletzt und war innerhalb von sechs Jahren immer wieder in psychiatrischen Einrichtungen. Nicht hilfreich sei dort die Angst, Langeweile, Machtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit gewesen. Hilfreich sei gewesen, dass sich zwei Personen vom Pflegepersonal die Zeit genommen hätten, mit ihr zu reden und ihr zuzuhören. Selbstverletzung heiße, jemand kämpfe ums Überleben. Sie begann schließlich für ein lebenswertes Leben zu kämpfen.

„Wo es Selbstverletzung gibt, gibt es unbestreitbar psychische Not. Es gibt aber auch Hoffnung. Jemand kämpft ums Überleben. Mutig, bedeutungsvoll und entschlossen. Ja, jemand erfährt psychische Not, aber kämpft, mit dieser Not umzugehen, ihr einen Sinn zu geben, einen Weg zu finden, eigene Bedürfnisse auszudrücken. Jemand gibt sein bestmögliches, um durch die Nacht zu kommen. Jemand versucht, aus einem Alptraum aufzuwachen. Jemand versucht, zu vergessen. Jemand hält stark an seiner Selbstwahrnehmung fest. Jemand hört sich in der Sprache zu, die er versteht. Jemand ruft um Hilfe. Jemand gibt nach. Jemand legt eine Pause ein. Jemand schützt sich. Jemand nähert sich dem Leben wieder an. Jemand versucht, abzuschalten. Jemand behält die Kontrolle. Jemand tut das einzige, das dafür sorgt, dass es sich besser anfühlt. Jemand erzählt dir, wer er ist. Jemand passt gut auf sich auf. Jemand geht an seine äußeren Grenzen. Jemand sucht Zuwendung. Jemand macht eine Aussage, die nicht ignoriert werden kann. Jemand gibt sich größte Mühe, das Beste für seine Kinder zu tun. Jemand erzählt seine Geschichte. Jemand überlebt. Jemand überlebt.“ (Clare Shaw; S. 28f. In: Auf der Suche nach dem Rosengarten)

Regina Bellion, die Rentnerin ist, geht ohne Medikamente durch ihre Psychosen (schizophrener Formenkreis). Das braucht Zeit. „Schlaf ist nicht möglich, solange der psychotische Film auf vollen Touren läuft...Es dauert aber noch einige Wochen bis das Erlebte an Gewicht verliert...

Wenn ich meine psychotischen Erlebnisse nicht mittels Neuroleptika weggedrückt habe, habe ich jetzt wichtiges Material in der Hand. Mit den Bildern, Szenen, Filmen, die ich erlebt habe, muss ich mich nachträglich befassen. Ich muss sie nutzen. Sie sind Schlüssel für fällige Veränderungen in meinem Leben. Bei dieser ganzen Sache haben wir gelernt, nämlich:

  • Eine Psychose hört anscheinend auch ohne Medikamente wieder auf.

  • Sie kann wiederkommen, wenn ich meine Themen nicht kläre.

Es hängt von mir und auch von der Umgebung ab, wie lange meine Psychose dauert.

Psychose ist nicht blanker Wahnsinn, es gibt immer wieder Realitätsinseln.

Es gibt Anzeichen, die meine Psychose ankündigen. Wenn ich auf solche Anzeichen achte, kann ich lernen, eine Psychose zu vermeiden.

Meine Psychose ist nicht sinnlos. Ich muss herausfinden, unter welchen Umständen und warum ich psychotisch werde und andere Lösungswege für mich (er-) finden.(...)

Meine Vorsorge-Punkte:

  • Ein geregelter Tag- Nacht- Rhythmus, genug Schlaf, halbwegs regelmäßiger Tagesablauf, tägliche Mahlzeiten sind wichtig.

  • Ich kontrolliere öfter meine Körperhaltung/ Atmung.

Ich achte darauf, dass ich meinen Körper spüre.

Zu wissen, was mir gut tut, und für mein Wohlbefinden zu sorgen, darf ich nicht aus den Augen verlieren.

Eine für mich sinnvolle Beschäftigung zu finden gehört ebenfalls dazu.

In Stress- und Extremsituationen suche ich Umgang mit Menschen, die mir wohlgesonnen sind, statt mich in meine Schwierigkeiten zurückzuziehen.

Ich muss mich immer wieder wie von außen im Blick haben, mich kontrollieren, z.B. darauf achten, ob ich an Beziehungsideen stricke. Denn dann muss ich rechtzeitig andere bitten, die Dinge, die mir seltsam vorkommen, aus ihrer Sicht zu schildern, damit ich meine Einstellung korrigieren kann.

Ein zufriedenstellendes Selbstbewusstsein konnte ich nicht beizeiten entwickeln. Also muss ich Zeit und Sorgfalt für mich aufbringen. So bekomme ich eher das Gefühl, wertvoll und wichtig zu sein, als wenn ich irgendwelche Leistungen erbringe, deretwegen ich von anderen geschätzt werden möchte. Mit solchen Selbsttäuschungsmanövern habe ich mich viel zu lange aufgehalten.

Wenn ich mich in eine enge Beziehung hinein wage, laufe ich Gefahr, mich auf ähnliche Weise verletzen zu lassen wie früher als Kind. Und darum können bei mir leicht die Vorboten einer Psychose auftreten.

Ich muss meine Gefühle, Ahnungen, Träume ernst nehmen. Je besser ich den Sinn meiner Träume, Tagträume, Halluzinationen verstehe, desto eher komme ich in die Lage, meine Angelegenheiten in der Realität zu behandeln, statt sie in den unbewussten Bereich zu verbannen, wo sie sich beim nächsten Anlass als psychotische Erlebnisse verselbständigen können.

Ich muss dafür sorgen, dass ich mit mir zufrieden bin, dass ich Freude am Leben habe und dass mein Leben sinnvoll ist. Das heißt, ich muss mich mit mir selbst befassen, meine Ängste und Defizite kennen, meine Wünsche und Vorlieben, all das, was ich früher nicht wahrhaben wollte, nicht wissen wollte, was aber zu mir gehört. Seitdem ich mir das zumute und darauf viel Zeit verwende, ist mein inneres Zimmer nicht mehr leer.“ (Regina Bellion, S. 45f. In: Auf der Suche nach dem Rosengarten)

Aber Vorsicht, was für Regina Bellion gut sein kann, kann für andere gefährlich sein. Stichwort Selbst- und Fremdgefährdung. Im Word Cafe gab es einen Tisch zum Umgang mit Krisen ohne Psychopharmaka. „Einige TeilnehmerInnen konnten sich nicht vorstellen, ihre Medikamente abzusetzen, oder haben ihre Krisen als unerträglich oder als zu erschreckend erlebt. Sie waren dankbar für die Möglichkeit, auf Psychopharmaka zurückgreifen zu können. Alle TeilnehmerInnen waren sich jedoch darin einig, dass es immer die eigene Entscheidung sein sollte, ob Psychopharmaka genommen werden oder nicht. Man solle nicht dazu gedrängt werden, sie zu nehmen oder sie wegzulassen bzw. abzusetzen. Ein zentraler Faktor im Umgang mit Krisen bleibt die Selbstverantwortung. Jede/r muss seinen/ ihren Weg durch die Krise finden.“ (In: Auf der Suche nach dem Rosengarten; S. 148)

Verrücktheit ist ein Signal zur Veränderung. Jede/r hat sein/ ihr eigenes Patentrezept! Leider wird das in antipsychiatrischen Kreisen oftmals nicht akzeptiert. Schon wer bestimmte Begrifflichkeiten, wie „psychisch krank“ benutzt, wird angefeindet, da es ja keine psychischen Erkrankungen gäbe. Auch wer nicht dem Bild vom „echten Betroffenen“ entspricht, z.B. weil er Medikamente nimmt und nicht auffällig wird, ist in der Beweispflicht für Verrücktheit. Merkwürdigerweise gibt es in dieser Szene Menschen, die verrentet sind. Wie haben sie das ohne Diagnose gemacht? Dabei lassen sich Menschen diagnostizieren, um sich von den permanenten gesellschaftlichen Anforderungen zu befreien, z.B. dem Stress und Druck in der Arbeitswelt. Was sehr verständlich ist. Im World Cafe gab es einen Tisch zum Thema „Was macht die Diagnose mit dem Selbstbild?“. „Mehrere DiskussionsteilnehmerInnen empfanden die erstmalige Nennung einer Diagnose in Bezug auf einige ihrer Schwierigkeiten als sehr erleichternd, weil ihnen dies das Gefühl gab, ihren Problemen nicht mehr im gleichen Maße ausgeliefert zu sein.(...) Die Diagnose beinhaltet auch die Hoffnung, diese Probleme bewältigen zu können, und vermittelte einigen Teilnehmenden das Gefühl, mit dem Problem nicht allein zu sein.“ (In: Auf der Suche nach dem Rosengarten; S. 141)

Das Weglaufhaus

Iris Hölling, die Mitarbeiterin des Weglaufhauses war, jetzt Geschäftsführerin von Wildwasser e.V., schreibt: „Wir glauben nicht an 'psychische Krankheit', sondern daran, dass Verrückt- Sein, Anderssein, außergewöhnliche Wahrnehmungen, für andere fremde und unverständliche Erfahrungen und Seinsweisen, psychische Ausnahmezustände gute Gründe haben und zum Leben dazugehören. Keineswegs handelt es sich bei solchen 'ver- rückten' Zuständen um 'Krankheiten', die mit psychiatrischen Mitteln 'behandelt' werden sollten.“ (In: Auf der Suche nach dem Rosengarten; S. 58f.)

Ihr Ziel war es, einen Ort mit bezahlten Arbeitsplätzen zu schaffen. Dafür kooperieren sie mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst, der psychiatrische Gutachten erstellt. Und wahrscheinlich werden auch wieder Unmengen an Daten gesammelt.

Kerstin Tiedtke, Mitarbeiterin bei Support und Mitglied des „Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt“ spricht diesen Konflikt an. Die Diagnose sei die Voraussetzung für die Bewilligung von Hilfe. Einerseits wollen sie niemanden psychiatrisieren, der noch keine Diagnose hat. Andererseits wollen Betroffene nicht zum Sozialpsychiatrischen Dienst und bleiben vom Hilfesystem ausgeschlossen. Für andere Betroffene kommt es zu einer Retraumatisierung aufgrund der Willkür und Machtausübung der Behörden.

Besonders dogmatisch ist Folgendes: 50% der MitarbeiterInnen im Weglaufhaus sollen Psychiatriebetroffene sein, allerdings dürfen diese keine Psychopharmaka nehmen. Wie jemand in einer psychotischen Krise andere unterstützen soll, bleibt schleierhaft. Die MitarbeiterInnen werden damit unter Druck gesetzt. Entweder müssen sie Medikamente in einer Krise heimlich nehmen oder

sie müssen ausscheiden, wenn sie diese dauerhaft nehmen. Selbst in der Beratungsstelle des Vereins zum Schutz gegen psychiatrische Gewalt, wo ehrenamtlich gearbeitet wird, dürfen die MitarbeiterInnen keine Psychopharmaka nehmen.

NutzerInnen der Einrichtungen spielen dagegen je nach Bedarf, die antipsychiatrische oder psychiatrische Karte aus, so Kerstin Tiedtke. Nicht nach den Vorgaben der Gesellschaft zu funktionieren, sei oft nur unter Rückgriff auf einen psychiatrischen Krankheitsbegriff erlaubt. Wer dem Druck des Jobcenters entgehen und in die Rente oder Grundsicherung möchte, muß eine psychiatrische Untersuchung beim Amtsarzt über sich ergehen lassen.

Es gäbe auch eine Schieflage hinsichtlich der bezahlten Arbeit des Vereins. Gerade jene Tätigkeiten, die Selbsthilfecharakter haben, seien ehrenamtlich, prägen aber den alternativen Charakter des Vereins. Wenn es den bezahlten MitarbeiterInnen dann auch noch an Idealismus fehle und sie gegen Grundsätze verstoßen, käme es zu Ärger. Die unbezahlten MitarbeiterInnen seien alle psychiatriebetroffen, bei den bezahlten seien es nur die Hälfte, soweit diese überhaupt zu finden seien, da sie eine bestimmte Qualifikation haben müßten und keine Psychopharmaka nehmen dürfen.

Rechte von Psychiatriebetroffenen

Im Vorfeld des Kongresses hatte es eine Veranstaltungsreihe beim Paritätischen Berlin gegeben, der auch diesen Reader finanzierte. So harmlos, wie der Reader daherkommt...Die Referate dieser Veranstaltungen werden im Kapitel „Rechte von Psychiatrie- Betroffenen“ dokumentiert, u.a.:

1. UN- Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung
http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/menschenrechtsinstrumente/vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/behindertenrechtskonvention-crpd.html

2. Das persönliche Budget
http://www.budget.paritaet.org/index.php?id=basis

3. Patientenverfügung
http://www.patverfue.de/

Wichtige Themen, die zum Schluß kurz angesprochen werden. Sie finden sich auf zwei Seiten (S.158-160), der Reader hat 168 Seiten.

  • Psychiatrie- Betroffene und Leistungsgesellschaft

An dem Tisch des World Cafes wurde über Beschäftigungsmodelle und den Niedriglohnbereich gesprochen. Psychiatriebetroffene gelten oft als „schwer vermittelbar“ und haben wenig Perspektive auf dem 1. Arbeitsmarkt. Häufig werden sie auch zwangsberentet, was eine aufgezwungene Armut bedeutet. Die Jobcenter entscheiden über die Arbeitsfähigkeit, vor allem die Gutachten der Reha- Abteilung. Durch die Belastungen entsteht eine Sprachlosigkeit im Vergleich zu Menschen, die eine berufliche Perspektive und finanzielle Rücklagen haben. Man agiert aus einer Bettelposition heraus und bezieht Almosen, was zu Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit führen kann. Es gibt allerdings auch alternative Konzepte, z.B. Tauschringe, die eine andere Sicht auf die Leistungsgesellschaft eröffnen. Ein Problem ist die Offenlegung der Psychiatriegeschichte.

  • Psychiatrie- Betroffene auf dem 1. Arbeitsmarkt

Hier wurde zunächst über die Schwankungen der Arbeitsfähigkeit gesprochen. Meistens wird die Psychiatriegeschichte verborgen. Die Krankschreibung erfolgt dann nicht durch Psychiater, sondern andere Ärzte. Wenn jemand im Vorstellungsgespräch seine Psychiatriegeschichte erwähnt, nimmt das Gespräch eine augenblicklich andere, atmosphärisch spürbare Wendung. Dann stehen Einschränkungen im Vordergrund. Nur das Burn Out- Syndrom erfährt heute eine Akzeptanz und regelrechte Aufwertung, denn davon sind jene betroffen, die sehr viel arbeiten und sich durch ein Übermaß an Leistung auszeichnen. Zum Schluß wurden noch Fragen angesprochen, aber nicht vertieft: „Wer will unter den heutigen Arbeitsbedingungen noch auf den ersten Arbeitsmarkt? Lässt sich nicht gegebenenfalls auf der Basis von Berentung besser arbeiten und insgesamt ein besseres Leben führen? Denn dann erst kann es möglich sein, dem Wunsch nach sinnerfüllter Arbeit nachzugehen, ohne Hetze, ohne Druck.“ (S. 160)

Schade, hier hätte die Diskussion über gesellschaftliche Alternativen beginnen können!!!

Wichtige Themen, die nur beiläufig angesprochen wurden:

- Der zunehmende Druck, Psychiatriebetroffene in Arbeit zu drängen

Peter Beresford verwies am Rande darauf, dass Psychiatrie- Betroffene in Großbritannien aufgrund des Erhalts von Sozialleistungen angegriffen werden. Es gibt verstärkt Bemühungen, sie in irgendeine Beschäftigung zu zwingen, ungeachtet der möglichen Konsequenzen für ihre psychische Gesundheit.

- Die Wahrnehmung von Psychiatriebetroffenen als Gewalttäter in der Öffentlichkeit, Medien und Politik

Peter Beresford sprach den Fall Anders Breivik in Norwegen an. In der Öffentlichkeit, der Politik und den Medien hänge Verrücktsein und psychisches Leiden aufs Engste mit dem Bösen, mit Gefahr, Mordabsichten und Tötung zusammen.

Was m.E. notwendig gewesen wäre, zu thematisieren:

  • gesellschaftliche Ursachen der Zunahme psychischer Erkrankungen, z.B. Arbeitswelt und Burnout

  • gesellschaftliche Veränderungen seit den Anfängen der Antipsychiatrie und Konsequenzen

  • gesellschaftliche Alternativen, um auch die Situation der Psychiatriebetroffenen zu verbessern

  • Stigmatisierung und Tabuisierung psychischer Erkrankungen

  • Die Wahrnehmung von Verrückt-Sein in der Öffentlichkeit, Politik und Medien

  • Sozialer Abstieg, Verarmung, Verelendung bis zur Obdachlosigkeit

  • Nichtfunktionieren in der Leistungsgesellschaft

  • Hartz IV und Zwangspsychiatrisierung (immer mehr werden zu Gutachtern geschickt)

  • Hartz IV und zunehmender Druck in den Niedriglohnsektor, ungeachtet der Diagnose

  • Die Übernahme der Krankenrolle, um dem zunehmenden Druck zu entgehen

  • Die enorme Datensammlung über Psychiatrie- Betroffene

  • Aufarbeitung der Geschichte (Euthanasie,T4)

  • Die Ökonomisierung des Sozialen, welche Konsequenzen für Psychiatriebetroffene

  • Kritik nicht nur der Zwangspsychiatrie, auch der Sozial- und Gemeindepsychiatrie

  • Der Drehtüreffekt

  • Gewalt von und gegen Psychiatriebetroffene (z.B. Forensik, polizeiliche Gewalt)

  • Die Beschäftigungsindustrie für Psychiatriebetroffene (Behindertenwerkstätten, Zuverdienstfirmen etc.)

  • Betreutes Wohnen- ein gutes Geschäft

  • Die Pharmaindustrie u.s.w.

Ja schade. Auf der Veranstaltung am 12.6.2012 im Haus der Demokratie, wo der Reader präsentiert wurde und nur berufliche Experten auf dem Podium saßen, sprach einzig der psychiatriebetroffene Mitarbeiter des Weglaufhauses die soziale Situation jener an, die zu ihnen kommen. Vor allem die erlebte Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Einige der BewohnerInnen des Weglaufhauses landen dann auch wieder in der Psychiatrie. Immer wieder bringen sie sich im Weglaufhaus an die Grenzen, manchmal bis an die Grenzen des gemeinsam Erträglichen, so Iris Hölling.

Es geht eben nicht nur um die Flucht aus der üblichen Psychiatrie, die Leugnung der Krankheit und das Absetzen von Medikamenten. Es geht um die Sinn- und Hoffnungslosigkeit. Wer keine Perspektive und vor allem, wer keinen Sinn im Leben sieht, wird zwangsläufig immer wieder in der Psychiatrie landen. Hat die Antipsychiatrie darauf eine Antwort? Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen, hieß der Untertitel der Konferenz. Eine Antwort habe ich in dem Reader nicht gefunden. Echte Alternativen kann man nur finden, wenn man über gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus nachdenkt. Und gegen dieses System politisch kämpft. Gegen die Entpolitisierung und den absurden Dogmatismus der Antipsychiatrie! Raus aus dem antipsychiatrischen Ghetto - rein in soziale Kämpfe! Man verrückt, was euch verrückt macht!

Zur Antipsychiatrie und zum psychiatrischen System habe ich Folgendes bei Trend geschrieben:

http://www.trend.infopartisan.net/trd1210/t101210.html

Besonders ärgerlich auf der Konferenz war Folgendes. Kurz zuvor war Andrea H. von einem Polizisten erschossen worden, als sie zwangseingewiesen werden sollte. Wir verteilten Flugblätter dazu auf dem Kongreß, das hatte keine Konsequenzen. Eine Resolution wurde „abgewimmelt“. Es gab keine Reaktion des Kongresses auf diese Tötung einer Psychiatriebetroffenen.

Weitere Infos zu dem Fall:
http://www.trend.infopartisan.net/trd7811/t957811.html
http://www.trend.infopartisan.net/trd0911/t350911.html

Auch keine Aufarbeitung auf der Konferenz:
http://www.trend.infopartisan.net/trd1111/t181111.html

Danke für die Statistenrolle auf der Konferenz. Hiermit habe ich meine Betroffenenkontrolle ausgeübt, allerdings unbezahlt....

normal geht die Welt zugrunde

Lieber geistig umnachten
als tot im Massenmeer der Jasager
Marsch durch die Institutionen
Abgefüttert
Abgefüllt
Abgestumpft
Aus den Mülltonnen emporsteigend
Bewußtwerdungsprozeß
zur Revolte.
Nur ein Traum.
Oder eine Horrorvision.
im Gedrängel der Masse
in den Ismen
du mußt absagen
allem!

Ver-Rückte

Hassan

Als Jazzpianist hoch angesehen
bei seinen Kollegen.
Er ging einfach in Clubs
und spielte Klavier
immer mit Mantel,
wenn jemand ihn aufforderte
den Mantel auszuziehen
verließ er den Club.
Max Roach gelang
eine Aufnahme mit ihm
dem Wunderlichen.

Meine unvollständige Ver-Rücktenliste:
http://www.freiheitpur.i-networx.de/verrueckte%5B1%5D.pdf

Der Reader:
Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt (Hrg.), Auf der Suche nach dem Rosengarten. Echte Alternativen zur Psychiatrie umsetzen. Berlin April 2012

Weitere Infos: www.weglaufhaus.de

Eine neue Studie des Robert Koch- Institutes stellt fest, dass eine Zunahme der Depression und des Burnout zu verzeichnen sei:

„ Junge Menschen sind depressiv, ältere leiden unter Burnout

Überraschend und besorgniserregend sind die Ergebnisse zu psychischen Erkrankungen, von Stress über Schlafstörungen bis hin zu Depressionen und Burnout. Zum Zeitpunkt der Studie litten 8,1 Prozent der befragten Teilnehmer an einer Depression. Die Wahrscheinlichkeit war dabei unter den 18- bis 29-Jährigen mit fast zehn Prozent am höchsten. Die niedrigsten Werte fanden die Forscher bei den über 65-Jährigen (6,3 Prozent).

Anders als die Depression, die den Zahlen nach offenbar vor allem ein Problem der jüngeren Menschen ist, steigt die Zahl der Patienten mit Diagnose Burnout im Alter an. Nur 1,4 Prozent der 18- bis 29-Jährigen leidet darunter, aber 6,6 Prozent der 50- bis 59-Jährigen.

Während bei der Depression die Häufigkeit abnimmt, je höher der sozioökonomische Status ist, wird ein Burnout-Syndrom immer wahrscheinlicher, je besser es einem Menschen wirtschaftlich geht und je höher seine Bildung ist.“

http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/rki-gesundheitsstudie-degs-so-gesund-leben-die-deutschen-a-838454.html

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel von der Autorin.