Berichte aus Brasilien
 Musik-Supermacht Brasilien (2)
Sertaneja - weit populärer als Samba
"Nichts für coole Europäer"

von Klaus Hart

7-8/02
 

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Immer noch glauben manche, Brasilien sei das Land des feurigen Samba, zu dessen mitreißenden Rhythmen im Karneval Tag und Nacht ganz Rio tanzt. Besser schnell vergessen - alles Schwachsinn, erfunden von journalistischen Überfliegern, deren Zahl in Redaktionsstuben und vor Mikros ständig zunimmt. Wenn in Brasilien Samba den Ton angibt, dann war Deutschland schon immer Rapper-Country. Olodum aus Bahia trommelt vor dem Reichstag, Gilberto Gil, Caetano Veloso touren inzwischen fast jedes Jahr durch Deutschland, werden als Stars der Musica Popular Brasileira angekündigt und gefeiert. Pseudo-Insider bluffen in Feuilletons, Daude, Chico Cesar oder Carlinhos Brown seien die neuen großen Namen, würden hoch gehandelt undsoweiter.

Kein Zweifel - sie alle machen eine interessante, meist wohlelaborierte Musik, doch, sorry, wirklich populär unter den absolut musikbesessenen Brasileiros sind ganz andere. Schon mal was von Zeze Di Camargo gehört? Im Karneval von Bahia singt er seine Hits, bringt die Massen stundenlang zum Tanzen, steht mit Carlinhos Brown am Mikro. Und was passiert? Anwesende Worldmusic-Puristen schreiben nur über den eitlen Brown im unsäglich überdrehten Afro-Look - doch kein Wort über Zeze Di Camargo, den wirklichen Star. Der spielt ja auch Musica Sertaneja - "vielleicht zu romantisch für coole Europäer", wie der brasilianische Musikexperte Biaggio Baccarin sagt. Denn wider alle Klischees mögen die meisten Brasilianer, auch die jungen, sentimentale Balladen weit mehr als hektisch-aufgeregte Stücke nach Art der immer schnelleren, marschähnlichen Karnevalssambas. Ein Blick auf die Verkaufszahlen sagt genug: Ultraromantische Sertaneja-Musik ist unangefochtener Marktführer, war in den meisten Regionen Brasiliens schon immer populärer als Samba. Bringt Zeze Di Camargo mit seinem Falsett-Duo-Partner und Bruder Luciano eine CD heraus, ordern die Läden sofort über eine Million, annähernd doppelt so viel werden garantiert umgesetzt, ein mehrfaches zudem an Raubkopien.

Von solchen Auflagen können Gilberto Gil, Marisa Monte oder Milton Nascimento und all die anderen in Deutschland mehr oder weniger bekannten Musikusse der Musica Popular Brasileira, von jedermann hier kurz "MPB" genannt, nur träumen. Die beiden Brüder überließen dem linkssozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Luis Inacio "Lula" da Silva von der Arbeiterpartei PT ein Lied für die derzeitige Wahlkampagne, machen bei seinen Kundgebungen mit. Zeze Di Camargo zählt außerdem zu jenen vier fleißigsten brasilianischen Komponisten, die an Radio-und TV-Aufführungsrechten am kräftigsten verdienen:"Wir sind mehr MPB als Chico Buarque und Caetano Veloso - das P steht schließlich für populär - und das sind wir viel mehr als die." Eine Samba-Hitparade hat Brasilien nicht, Sertaneja-Charts dagegen schon. "Sertaneja, Pop romantico brasileiro, rangiert in Sao Paulo derzeit in der Hörergunst an der Spitze - mit achtzig Prozent", konstatiert Marcio de Paula, Musikwissenschaftler, Journalist von Radio Gazeta in der Megametropole, im Interview. Daß die Deutschen, eigentlich die meisten anderen Europäer, Brasilien weiter klischeehaft mit Samba assoziieren, liegt an der Vermarktung des Rio-Karnevals auch durch ausländische Medien, meint Marcio de Paula. Wer kennt nicht die alljährlichen Schlagzeilen vom "Rio im Karnevalstaumel"? Gerade rund ein Drittel der Brasilianer, so seriöse Erhebungen, mag das Volksfest, beteiligt sich mehr oder weniger intensiv - der Rest bleibt ferne, hat für Carnaval ähnlich viel übrig wie der Durchschnittsdeutsche. Schwer zu übersehen - nur eine Minderheit kann richtig Samba tanzen. Leicht nachvollziehbar: Brasilien ist rund vierundzwanzigmal größer als Deutschland - manche Regionen, wie der Süden und Südwesten, sind durch deutsche, italienische, japanische, auch arabische Einwanderer geprägt, andere Landstriche, wie Bahia, durch Sklavennachfahren, Amazonien durch Indio-Mischlinge. "Auch daher kommt unser ziemlich eklektischer Musikgeschmack, Brasiliens enorme Vielfalt an Rhythmen ist in Europa kaum bekannt."

Noch ein paar wirklich große Namen gefällig, die ziemlich exotisch klingen? Xitaozinho & Xororò, oder gar Milionario & Josè Rico, das klassische Sertaneja-Duo mit den wildesten Coverfotos. 1986 spielen sie sogar vor hunderttausenden mitsingenden Pekingern, Shanghaiern und Kantonern - ohne Gage. Was war passiert? Die dortige Regierung schlägt im Rahmen eines Kulturaustauschs vor, die den Chinesen bekanntesten brasilianischen Musiker für eine Tournee einzuladen. Zum Erschrecken Brasilias sind das weder Tom Jobim, der das berühmte "Girl from Ipanema" erfand, noch der unter den Kulturintellektuellen besonders angesehene Chico Buarque, sondern die beiden Hinterland-Musikusse. Ein Film, in dem die beiden auftreten, hatte den Geschmack der Chinesen getroffen. Brasiliens damaliger Kulturminister weigert sich sogar, dem Duo wenigstens den Flug zu bezahlen , hat zudem keine Ahnung, was Sertaneja-Musik eigentlich ist. Ganz einfach - zum Beispiel die schlichte Gitarrenballade der Viehtreibers nachts am Feuer, unverkennbar der Einfluß des Bolero, des mexikanischen Mariatchi und heute des Country-Pop.

Aber der Hit sind die Falsett-"Duplas", verrückte Figuren darunter, deren aufwendige Open-Air-Shows inzwischen Hundertausende anlocken. Man braucht sich in Rio de Janeiro nur in den Rumpelbus zu setzen und ins immense Interior aufzubrechen, sich in Teilstaaten wie Goias, Tocantins und Mato Grosso oder in den Goldschürfgebieten Amazoniens umzusehen und umzuhören. Die harten, groben Wildwest-Gestalten mit Lederhut und Revolver am Gürtel mögen keinen heißen Samba, nur ultraromantische Sertaneja-Musik, Die klingt für viele schnulzig, ein bißchen wie "Massachusetts" von den BeeGees, oder "If you leave me now" von Chicago, setzt sich aber überraschend schnell und zähe in den Ohrwindungen fest. Von Liebe und Leid, Herz und Schmerz, vor allem aber den Freuden des Bettes singen Gilberto Gil oder Chico Buarque auch - deren Texte sind komplex, poetisch-hochgestochen. Brasiliens eigentliche musikalische Aushängeschilder von der Sertaneja-Fraktion drücken sich viel, viel simpler aus - so wie die verarmten, wenig gebildeten Massen eben. Darunter Feldarbeiter, die brasilianischen Cowboys und jene landlosen Familien, die auch mit Unterstützung der deutschen Kirchen brachliegende Riesenfazendas besetzen und beflanzen, sich nicht wieder vertreiben lassen. In vielen Dörfern und Kleinstädten hängen überall Ortslautsprecher, dazu die stundenlangen Wunschmusiksendungen der Radios - wer nur Samba oder Rock mag, erlebt dort wahren Sertaneja-Terror.

Kurios: Jahrzehntelang werden in Rio oder Sao Paulo Sertaneja-Duos von Medien und Plattenfirmen wie Drittklassige behandelt, um die man wegen des Publikumsgeschmacks leider nicht herumkommt. Daß diese Falsett-Duos häufig mehr Tonträger verkaufen als die am Zuckerhut bejubelten "Stars", wird sogar verschwiegen. Doch Ende der 80er Jahre ändert sich das - die von den Intellektuellen und der elitären Musikkritik als hinterwäldlerisch verlachten Sertaneja-Anhänger machen aus ihrer hyperromantischen Seele keinen Hehl mehr, stehen zu ihren Idolen. In Rio wird eine öffentliche Kulturdiskussion darüber geführt, ob man ein Duo wie Leandro & Leonardo überhaupt in Musiktempel, Showpaläste hineinlassen dürfe, ob dies nicht unter aller Würde sei. Das Duo, dessen damalige CD sich viermillionenmal verkauft, tritt auf, hat einen Riesenerfolg - der große Liedermacher Chico Buarque sitzt bei der Premiere ganz vorne an der Bühne. Die abgehobene World-Music-Schickeria siehts mit Entsetzen. Als Leonardo an einem Tumor stirbt, triffts die Nation wie ein Schock, dem Sarg folgen über 250 000. Als 1994 Bossa-Nova-Star Tom Jobim bestattet wird, kommen in seiner Heimatstadt Rio nur einige tausend. In Deutschland immer noch kein Grund, das Samba-und Karneval-Klischee nicht weiter kräftig zu bedienen. Glatt unter geht zudem, wie populär im stark unterentwickelten Nordosten seit jeher der treibende Forrò-Rhythmus ist - gespielt mit Akkordeon und Triangel. In den großen Küstenstädten wie Recife, Fortaleza, Maceio und oder Sao Luis ist Samba absolut Mangelware. Doch auch in Sao Paulo und Rio hat neuerdings ein Großteil der Studenten das Alleinehopsen in der Disco satt - schwooft stattdessen beim "Forrò universitario" eng aneinandergeschmiegt, wie die früher als Hinterwäldler verlachten bitterarmen Nordestinos.

Manche Sertaneja-Stars kommen in die Jahre, werden in den Hitparaden von Talenten, die sie selber entdeckten und aufbauten - oder ihren eigenen Kindern überholt. Bestes Beispiel - Sandy und Junior, Sprößlinge von Xororò, Jugendidole, grade volljährig, von ihrem britischen Plattenmulti mit Pop romantico englischer, französischer, spanischer Zunge losgeschickt, dieses Jahr Europa zu erobern.
 

 

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns seinen Artikel am 25.6.2002 zur Veröffentlichung.

Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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