Berichte aus Brasilien
Von Brasilien lernen...
Neoliberaler Arbeitsmarkt mit bösen Folgen: Schattenwirtschaft, kriminelle Strukturen, Frachtraub, Hungerlöhne, Entsolidarisierung

von Klaus Hart

7-8/02
 

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Hausdienerinnen für Mittel-und Oberschicht

Kanzler Schröder eröffnete mit Brasiliens Staatschef, FU-Berlin-Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso die EXPO, weil dieser, wie es offiziell hieß, jene Persönlichkeit mit den besten Voraussetzungen sei, Lösungsvorschläge für die Probleme des neuen Jahrhunderts zu machen. Besonders bemerkenswert - Cardosos Arbeitsmarkt-Modell: Alles sieht so schön bunt aus an der Copacabana Rio de Janeiros oder an der trubeligen "Praça da Sè" in Sao Paulo. Provisorische Marktstände bilden täglich regelrechte Korridore, exotische Mulattinnen wie aus der Touristenreklame legen einem verführerisch nahe, doch dieses T-Shirt oder jenen Schmuckartikel zu kaufen. Fabrikneue CDs oder BASF-Videokassetten kosten nur ein Drittel des Ladenpreises - auch Taschenrechner, Fernseher und anderes elektronisches Gerät sind vergleichsweise spottbillig zu haben. Viele der hunderttausenden Händler akzeptieren sogar Kreditkarten, geben Garantie, bringen ins Haus, lassen später bei Bedarf umtauschen. Wer indessen die attraktive, schillernde Erscheinungsebene verläßt, genauer hinschaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Mindestens ein Drittel der Waren, in der Vorweihnachtszeit noch viel mehr, ist Schmuggelgut aus Paraguay, made in Taiwan, Hongkong, China oder den USA. Ein vermutlich mindestens ebenso hoher Anteil des Angebots wurde bei Raubüberfällen auf Fracht-LKW erbeutet. Seit Leonel Brizola, linkspopulistischer Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, während seiner Amtszeit als Rio-Gouverneur in den 80er und 90er Jahren die Schattenwirtschaft wachsen ließ, Gouverneure der "größten deutschen Industriestadt" Sao Paulo nicht anders verfuhren, nahmen diese Überfälle sprunghaft zu, werden bis heute immer mehr LKW-Fahrer dabei rücksichtslos ermordet.

Raub-und Schmuggelwaren

Besonders häufig werden Lastwagen attackiert, die Zigaretten, hochwertige Nahrungsmittel, Textilien, Haushaltsgeräte und Elektronik transportieren.Die selbst mit deutschen oder schweizerischen Sturmgewehren bewaffneten Banditenmilizen Rio de Janeiros schrecken nicht einmal davor zurück, mit den landesüblichen kleinen Kochgasbehältern vollbeladene LKW zu überfallen, sich die Arbeitsuniformen der Austräger überzustreifen und danach ganz unverfroren deren Arbeit zu übernehmen. Laut Angaben eines Schwarzmarktexperten handelt es sich allein in Rio bei etwa dreißig Prozent der Straßenhändler um Kriminelle - nicht verwunderlich, daß man an den Marktständen hier und dort auch Revolver, Pistolen, Munition und jede Art von Drogen erwerben kann. In keinem Land der Welt werden gemäß UNO-Statistik mehr Menschen durch meist illegal vertriebene Feuerwaffen getötet als in der immerhin elftgrößten Wirtschaftsnation Brasilien. Die Straßenhändlerheere sind indessen nur die Spitze des Eisbergs. In umweltvergiftenden illegalen Hinterhofwerkstätten und -fabriken bzw. in der eigenen Wohnung wird der Rest des Warenangebots produziert.

Laut einer Untersuchung des staatlichen Instituts für Geographie und Statistik sind allein im sogenannten "Setor informal" Rio de Janeiros weit über 560 000 Menschen beschäftigt, die bereits 1994 einen Jahresumsatz von umgerechnet drei Milliarden Dollar erzielten - derzeit, nach Maxi-Abwertung, Rezession und deutlich gestiegener Arbeitslosigkeit - dürfte er weit höher liegen. Landesweit arbeiten bereits über sechzig Prozent der Beschäftigten de facto schwarz, unregistriert.

Rekordarbeitslosigkeit, Firmensterben

Staatschef Cardoso hatte beim Amtsantritt vor acht Jahren versprochen, die Schaffung von Arbeitsplätzen habe oberste Priorität. Das Gegenteil geschah - bereits 1996 waren etwa zehn Millionen Brasilianer ohne Arbeit, im Jahr 2000 elfeinhalb Millionen. Gerechnet in absoluten Zahlen, wird Brasilien nur noch von Indien, mit 41,3 Millionen Erwerbslosen, übertroffen. Nur etwa 300 000 der brasilianischen "Desempregados" haben Anspruch auf eine geringe, maximal fünf Monate gezahlte Arbeitslosenhilfe von umgerechnet etwa einhundert Euro. Indessen läßt Cardosos Mitte-Rechts-Regierung Schattenwirtschaft und Schwarzmarkt freien Lauf, viele von der Industrie Sao Paulos, darunter deutschen Multis Gefeuerte kommen dort unter. Selbst der nationale Unternehmerverband konstatiert, daß über ein Drittel aller Firmen illegal tätig sind, nirgendwo angemeldet - und natürlich auch keine Steuern zahlen.

Regierungsnahe Medien und Wirtschaftsexperten argumentieren, daß es jenen im "informellen Sektor", ob Handwerker oder Computerfachmann, doch gefalle, frei und ohne Druck eines Chefs zu arbeiten und auch mehr als in einem festen Arbeitsverhältnis verdienen zu können.
Selbst Fachleute von Universitäten, kirchlichen Institutionen verweisen indessen auf die mafiosen , kriminellen Strukturen der Schattenwirtschaft sowie die mit allen Mitteln, selbst Gewalt aufrechterhaltenen Hierarchien. Nur ein geringer Teil der Straßenverkäufer arbeitet auf eigene Rechnung, die meisten sind von der Unterwelt-Handelsmafia angestellt, müssen deren Instruktionen gehorchen. Zuwiderhandlung kann den Tod bedeuten - nicht anders als in den rund 800 vom organisierten Verbrechen beherrschten Slums von Rio."Überleben in dieser Wildnis", wie eine Tageszeitung den "informellen Sektor" charakterisierte, heißt auch, an kriminellen Aktionen teilnehmen zu müssen. Im Juni wurde in Sao Paulo ein Ermittler, der Schmuggelfirmen unter die Lupe nahm, entführt - seinen Körper fand man nur Stunden später verkohlt, ohne Kopf.
Schwer wiegt auch dies: Die Durchschnittseinkommen in der Schattenwirtschaft liegen deutlich tiefer - der informelle Sektor zahlt keine Steuern und Abgaben, trägt in einem Land des Massenelends, erbärmlicher öffentlicher Hospitäler und Schulen also nicht zur Finanzierung von Sozialprogrammen bei. Und garantiert weder Arbeitsschutz noch Ferien, noch dreizehntes Gehalt - statt der vorgeschriebenen acht Stunden täglich sind zwölf bis vierzehn normal. Die unlautere, aggressiv-kriminelle Konkurrenz mit dem "legalen"Sektor verführt, bzw. zwingt diesen sogar dazu, ebenfalls mit Methoden und Tricks der "Informellen" zu arbeiten, um Kosten zu senken und Gewinne hochzuhalten.

Illegales im legalen Sektor

Doch auch in den ordentlich registrierten Firmen, Geschäften und Büros geht es keineswegs immer mit rechten Dingen zu. Laut Internationaler Arbeitsorganisation ILO verursacht der brasilianische Industriearbeiter lediglich stündliche Kosten von durchschnittlich 2,79 Dollar - in vielen "legalen" Firmen liegen die Kosten indessen weit niedriger, sind die Beschäftigten häufig nicht einmal registriert, werden also für sie - nicht anders als im informellen Sektor - keine Abgaben abgeführt, besteht kein Rentenanspruch. Nur unter diesen Bedingungen bekam der Arbeitssuchende die Stelle. Bedenklich bis erschreckend, daß manche Filialen großer europäischer Stiftungen und Hilfswerke trotz großen, gerne herausposaunten Anspruchs ebenso vorgehen, ihre brasilianischen Mitarbeiter "informell" behandeln.

Selbst laut amtlicher Statistik haben über fünfundzwanzig Millionen Beschäftigte kein Arbeitsbuch.

Schattenwirtschaft - perverse Gesellschaft

Die angesehene Wirtschaftswissenschaftlerin Maria Cacciamali sieht als negativsten Effekt des rasch wachsenden informellen Sektors neben einer Destrukturierung der nationalen Ökonomie den Verlust humanistischer Werte wie der Solidarität, und das Entstehen einer "perversen Gesellschaft". Und der auch in Deutschland durch Bücher und Vorträge bekannte brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto kommentiert:"Die im Unterbewußtsein unserer Eliten fortexistierende Sklavenhaltermentalität betrachtet den Erwerbslohn als eine Art Almosen und Arbeitsrechte als Privilegien. Man muß sich nur einmal anschauen, wie diese Eliten ihre Hausangestellten behandeln."

über fünf Millionen Hausangestellte - Relikt der Sklavenzeit

In Deutschland kommen bei Besserbetuchten Hausbedienstete aus Osteuropa in Mode - gemäß brasilianischem Beispiel: Selbst manche Deutschen, die sich zuhause drittweltbewegt-progressiv gebärden, schaffen sich in Rio, Sao Paulo oder Salvador de Bahia gewöhnlich raschest eine zumeist dunkelhäutige Hausdienerin an, die für umgerechnet an die hundert Euro im Monat aufwäscht, putzt, einkauft, kocht und auf Zuruf die Drinks zum Balkon bringt. Alles natürlich "schwarz", Ausnahmen bestätigen die Regel.

Bier, Wein und Essen für Feten besorgt man nicht mehr selber; den Auf-und Abbau der Feier, die servile Bedienung der Gäste übernehmen zwei oder mehr "Negros" im weißen Frack - wenns hochkommt, kriegt jeder für die zehn Stunden beim "Gringo" an die dreißig Euro umgerechnet.
Mancher Deutsche hat - wie einheimische Mittelschichtler - einen regelrechten billigstbezahlten Hausstaat - mit Fahrer, Gärtner, Hausmeister, Köchin, Aufwartefrau, läßt sich nach Landessitte rundum bedienen - wie zur Sklavenzeit. Seit damals gilt Hausarbeit als dreckig, unfein und wird in den besseren Vierteln fast durchweg vom Heer der weit über fünf Millionen "Empregadas", der weiblichen Hausangestellten, erledigt. Wie die Internationale Arbeitsorganisation/IAO jetzt durch Studien herausfand, gibt es indessen mindestens noch eine halbe Million Kinder sowie Heranwachsende bis 16 Jahre, die als Empregadas schamlos ausgebeutet werden - in ganz Südamerika stellen sie sogar ein Drittel der Hausangestellten. Dabei verbietet auch das brasilianische Recht ausdrücklich Kinderarbeit, feste Arbeitsverhältnisse vor dem sechzehnten Lebensjahr. So wurde in den Millionenstädten Belèm nahe der Amazonasmündung, im südöstlichen Belo Horizonte sowie in der nordöstlichen Tourismusdestination Recife konstatiert, daß die durchschnittliche Wochenarbeitszeit fünfzig Stunden beträgt, jedoch durchweg weniger als der gesetzlich festgesetzte Mindestlohn von umgerechnet etwa 80 Euro gezahlt wird. In der Industriestadt Belo Horizonte erhalten wenigstens 86 Prozent der kleinen Empregadas Geld, in Belèm indessen gerade 43 Prozent, der Rest bekommt nur Kleidung und Essen - ähnlich sieht es in Recife aus. Urlaub kann nur etwa ein Drittel nehmen. In Belem wollen rund siebzehn Prozent der Mädchen auf keinen Fall zur Familie zurückkehren, weil sie wegen sexuellen Mißbrauchs von zuhause geflohen waren. Dort haben auch nur etwa zehn Prozent der Mütter, die sämtlich in Nachbarregionen wohnen, überhaupt noch Kontakt zu ihren Töchtern. Auffällig, daß sich in der Amazonasmetropole immerhin mehr als siebzig Prozent über psychischen Druck und degradierende Rufnamen beklagten. Im Nordosten hat jahrhundertelange Naturzerstörung, darunter durch Brandrodungen, Klimawandel und Dürrekatastrophen sowie Landflucht verursacht - Eltern kinderreicher Familien sind häufig direkt froh, wenn ein Kind in Städten wie Recife in einem Mittelschichtshaushalt unterkommen kann, und sei es nur für Nahrung.

Schwer zu übersehen, daß indessen die Empregadas über sechzehn ebenfalls in Sklavenhaltertradition empörend ausgenutzt, nur selten gemäß Recht und Gesetz eingestellt und behandelt werden. Wollte eine Empregada angesichts hoher struktureller Arbeitslosigkeit auf ihre sämtlichen Rechte, darunter Ferien, 13.Gehalt und Rentenanspruch pochen, würde sie kaum irgendwo angestellt. In einem Europäerhaushalt Rio de Janeiros weigerte sich eine hochschwangere Hausangestellte, noch wenige Wochen vor der Entbindung schwerste Arbeiten zu verrichten - und wurde prompt fristlos und ohne irgendeine Abfindung gefeuert, mußte mangels anderer Möglichkeiten in die enge Kate von Verwandten eines von Todesschwadronen und Banditenmilizen beherrschten Slums ziehen.

Bezeichnend, daß Brasiliens Hausdienerinnen einen "Sonderstatus" genießen: Anders als die anderen Festangestellten haben sie keinerlei Anspruch auf Zuschläge für Überstunden und Nachtarbeit. Was dies in der Praxis bedeutet, hat mancher Brasilienbesucher schon überrascht bis tiefbefremdet mitbekommen: Europäische Intellektuelle, zu einem Feministinnenkongreß in Rio de Janeiro, wurden von ihren Gastgebern weit nach Mitternacht noch auf einen Drink und einen Kaffee nach Hause eingeladen - wofür man natürlich die Empregada in ihrem fensterlosen Zimmerchen hinter der Spüle aus dem Schlaf riß.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns seinen Artikel am 25.6.2002 zur Veröffentlichung.

Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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