Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Demonstrationen gegen Renten„reform“

7-8/10

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Gewerkschaften bekommen doch noch eine anständige Mobilisierung hin - kurz vor der Sommerpause. Annähernd zwei Millionen Demonstranten waren am 24. Juni dieses Jahres frankreichweit unterwegs. Die Regierung erklärt, die Proteste „nicht zu unterschätzen“, möchte aber in ihrer „Reform“ nichts ändern, abgesehen von den ohnehin einkalkulierten Verhandlungsspielräumen. Die französischen Gewerkschaftsverbände trafen am 29. Juni erneut zusammen, um über den Fortgang der Proteste zu beraten. Angekündigt sind erneute Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen am 07. September 10. Unterdessen kommt der Gesetzentwurf zur Renten„reform“ am 13. Juli d.J. auf den Kabinettstisch und ab dem 07. September ins Parlament.

Wenn Sozis haufenweise Vuvuzuelas kaufen, dann ist offenbar die Kacke am Dampfen. Das müssen sich die Händler gedacht haben, bei denen der Parti Socialiste (PS) - die französische Sozialdemokratie - vor kurzem mehrere Hundert von den Höllentrompeten einkaufte. Am Donnerstag, den 24. Juni nun, angesichts der relativ massiven Gewerkschafts- und Sozialprotest-Demonstrationen, waren zahllose von den Tröten nach südafrikanischem Vorbild zu sehen und zu hören. Auch Gewerkschaftsverbände hatten sich ihre eigenen Wuzzi-Dingsbumms bestellt oder sogar extra anfertigen lassen, wie die CFDT, die Vuvuzuelas in ihrer eigenen Verbandsfarbe (orange) mit ihrem Kürzel als Aufdruck mitführte. Am gestrigen Tage dürfte also eine neue Mode in Sachen Demo-Utensilien lanciert worden sein, die man in Frankreich so schnell nicht wieder loswerden dürfte.

An rund 200 Örtlichkeiten in Frankreich wurde am 24. Juni dieses Jahres gegen die Renten„reform“ protestiert. Ferner waren Störungen im Nah- und Fernverkehr zu verzeichnen, circa ein Drittel bis 40 % der Zugverbindungen fielen aus (vgl. näher http://tempsreel.nouvelobs.com). Die Druckereien im Pressegewerbe arbeiteten an jenem Donnerstag nicht, so dass am darauf folgenden Tag keine einzige Tages- oder Wochenzeitung erscheinen konnte.  

Bei der Bahngesellschaft SNCF streikten 39,8 % der Beschäftigten, was für einen branchenübergreifenden „Aktionstag“ einen erstmals seit dem Jahr 2003 erreichten Höhepunkt darstellt. Im öffentlichen Schuldienst streikten laut Angaben des Bildungsministeriums - die oft untertrieben sind, da es in seine Statistiken neben dem - streikfähigen - Lehrpersonal auch Verwaltungsangestellte, Direktion etc. einberechnet-  31,9 % in den Grundschulen und 10,3 % der Bediensteten an Mittel- und Oberschulen. (Vgl. http://www.dna.fr ) Bei den Staatsbediensteten aller Kategorien - inklusive Kommunalbeschäftigten und Krankenhausdienst - befanden sich am Streik- und Aktionstag rund 20 Prozent im Ausstand. Das war erheblich mehr als an den vergangenen Streiktagen zum Thema Renten„reform“. (Vgl. auch http://abonnes.lemonde.fr )  

Deren näherer Inhalt war am Mittwoch, den 16. o6. 2010 erstmals offiziell enthüllt worden (vgl. http://labournet.de/ ) Zu den wesentlichen Beschlüssen zählen die Anhebung des Mindestalters für die Rente von 60 auf 62; der Anzahl der dafür erforderlichen Beitragsjahre zur Rentenkasse von derzeit 40 auf 41,5; und des gesetzlichen Rentenalters (für eine Pensionierung unabhängig von den eingezahlten Beitragsjahren) von derzeit 65 auf 67. Vor allem letztere Weichenstellung hatte sich seit längerem angekündigt – vgl. dazu Höheres Rentenalter, Pensionierung erst ab 67? 

Die offizielle Ankündigung folgte dabei dem Drehbuch einer geplanten Inszenierung, das ihren Inhalt als vergleichsweise „harmlos“ - gegenüber den zuvor geweckten Erwartungen bzw. Befürchtungen - erscheinen lassen sollte. So hatte die Regierung zuvor über Wochen hinweg durchsickern lassen, das Mindest-Eintrittsalter für die Rente dürfte von 60 auf wohl 63 angehoben werden.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieses Mindestalter gilt in der Praxis n u r für jene, die die volle Anzahl an erforderlichen Beitrittsjahren - früher 37,5, seit der letzten „Reform“ bislang 40, künftig ab dem Jahr 2018 dann 41,5 - beisammen haben. Alle anderen können nur entweder mit starken Strafbeträgen und Abzügen, genannt ,décotes’, oder aber beim gesetzlichen Alter von bislang 65 - ab dem Jahr 2023 dann 67 Jahren - in Rente gehen. Bei fehlenden Beitragsjahren und einer Pensionierung vor diesem Lebensalter von 65/künftig 67 wird für jedes fehlende Trimester oder Vierteljahr (!) von mindestens 1,25 % der Rentenhöhe angerechnet; bei zwei fehlenden Beitragsjahren macht dies bereits zehn Prozent der Gesamt-Rente aus. (Vgl. auch http://www.pratique.fr ) Nicht unberücksichtigt bleiben darf allerdings auch die Tatsache, dass selbst ohne die Strafbeträge oder Abzüge für fehlende Beitragsjahre – die ab einem Alter von 65, künftig 67, entfallen – dennoch die reale Rentenhöhe proportional zum Gesamtvolumen der Beiträge berechnet wird. Das bedeutet: geringeres Beitragsvolumen, geringere Rente, selbst ohne besondere Strafen.  

Künstlicher Streit im Regierungslager – und Einigkeit über das Wesentliche

Zwischen Präsident Nicolas Sarkozy und seinem Premierminister wurde dann ein Streit darüber, ob es wirklich 63 oder doch „nur“ 62 sein solle, über Tage hinweg künstlich zelebriert. Auch wenn es reale Differenzen zwischen den beiden Spitzenmännern des Staates dazu gegeben hat - Sarkozy hat stärker das Ziel seiner Wiederwahl im Jahr 2012 im Kopf, François Fillon stärker die „sparpolitischen Imperative“ der bürgerlichen Tagespolitik -, so war die öffentliche Zurschaustellung dieser Divergenz doch einer Inszenierung geschuldet. Sie sollte suggerieren, es sei noch vieles offen, und künstliche Spannung hervorrufen; ferner sollte sich ein Seufzer der Erleichterung einstellen, als die offizielle Ankündigung erfolgte: „Ach, puh, gerade noch einmal davongekommen! Doch nur 62 Jahre!“

Die Mehrzahl der Französinnen und Franzosen ging dem nicht auf den Leim. Zwar waren die ersten Reaktionen auf die Ankündigung relativ verhalten, da die „Reform“ nicht derart radikal ausfiel wie mitunter erwartet: manche bürgerlichen Stimmen kritisierten denn auch deren „mangelnde Ambition“. Doch als der Streik- und Aktionstag näher rückte, erklärten 68 % der befragten Französinnen und Franzosen, für die Protestbewegung „Sympathie“ zu hegen oder ihr „Unterstützung“ entgegen zu bringen; 39 % erklärte demnach, sie seien grundsätzlich „bereit“, selbst zu streiken oder zu demonstrieren. Allgemein wird als besonders ungerecht empfunden, dass (1) Frauen mit so genannten gebrochenen Erwerbsbiographien – und Kindererziehungsperioden –, von denen in der älteren Generation viele sehr von der geforderten Anzahl von Beitragsjahren entfernt sind, chronisch benachteiligt werden. Und (2.) wird als massive Ungerechtigkeit empfunden, dass die höheren und leitenden Angestellten – die Besser- und Bestverdienenden – im Vergleich zu Arbeiter/inne/n und Angestellten kaum von der „Reform“ betroffen seien. Denn die Anhebung des Mindestalters von 60 auf 62 Jahre juckt diese ,cadres’ nicht: In aller Regel haben sie aufgrund ihrer Studienzeiten ohnehin relativ „kurze“ Erwerbsbiographien, aufgrund ihres vergleichweise späten Eintritts auf den Arbeitsmarkt. Jene Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass der Renteneintritt für jene, die bislang hätten mit 60 Jahren in Pension gehen können und die Bedingungen erfüllt hätten, künftig hinausgeschoben wird, berührt sie kaum oder gar nicht. Aus diesem Grunde unterstützt die „Standes“gewerkschaft der höheren und leitenden Angestellten, die CGC, auch als einziger Gewerkschaftsverband die „Reform“ der Renten in ihren Grundzügen...  

Zum Dritten ist auch allgemein bekannt, dass derzeit in der realen Praxis im Lebensalter von 62 Jahren nur noch 18 Prozent der Lohnabhängigen auf dem Arbeitsmarkt erwerbstätig unterwegs sind (vgl. http://www.cbanque.com/) Oft nicht deswegen, weil sie freiwillig relativ früh in Rente gegangen wären – finanzielle Zwänge und Notwendigkeiten verhindern dies in vielen Fällen -, aber vielmehr, weil ihnen ab dem Alter von 50 Jahren aufwärts ohnehin kein Unternehmen mehr einen Job „anbietet“. Um dieses Problem des Auseinanderklaffens eines erhöhten Arbeitszwangs für „Senioren“ einerseits, der Realität des „Arbeitsmarkts“ und einer starken Arbeitslosigkeit bei den über 50/55jährigen andererseits scheinbar in den Griff zu bekommen, schlägt die Regierung als Lösung Geldgeschenke für die Unternehmen vor: Falls diese einen „Senior“-Lohnabhängigen einstellen, werden sie ein Jahr lang durch die Regierung dafür subventioniert werden. 

Laut einer Umfrage, die am 22. Juni publiziert wurde, betrachten 67 % der Befragten die Entscheidungen der Regierung als „nicht gerecht“ (vgl. http://www.lepoint.fr/ ) Dabei trennen die Antwortenden jedoch die Entscheidung bezüglich der Anhebung des Mindestalters von 60 auf 62 Jahre - welche demnach 58 % der Befragten noch „akzeptabel“ finden - vom Gesamtpaket der Beschlüsse. Zu deren wesentlichen Eckpunkten zählen (neben der Frage des Lebensalters) besonders die Anhebung der Anzahl der obligatorischen Beitragsjahre, die Regel für Lohnabhängige unter „erschwerten (körperlichen) Arbeitsbedingungen“ - für eine frühere Pensionierung müssen sie mindestens 20 Prozent ärztlich attestierter Arbeitsunfähigkeit aufweisen - und die Anhebung der Rentenbeiträge von 7,85 % auf 11,55 % für Staatsbedienstete. Bislang lagen die Beiträge zur Rentenkasse für die Staatsbediensteten niedriger als jene von Beschäftigten der Privatwirtschaft, wobei in der Regel auch die Löhne und Gehälter der Ersteren niedriger ausfallen als jene der Letztgenannten. Innerhalb von zehn Jahren soll nun schrittweise eine Angleichung zwischen beiden, und zwar nach oben hin für die Staatsbediensteten, erfolgen. 

Gründe für besondere Unzufriedenheit der Staatsbediensteten

 Die öffentlich Bediensteten hatten und haben zusätzlich noch besondere Gründe zur Unzufriedenheit. Neben der Anhebung der Beiträge werden für sie eine Reihe bisheriger Vergünstigungen bei den Rentenregel wegfallen (so wird die Regel, dass einen Pensionsanspruch hat, wer drei Kinder aufzog, abgeschafft). Die Neuregelung der Rentenbeiträge für die Staatsbediensteten bedeutet für eine Person, deren Monatsgehalt bei 1.500 Euro liegt, einen Verlust an Kaufkraft in Höhe von 480 Euro pro Jahr. Und dies in einem Kontext, in welchem die Löhne und Gehälter in den öffentlichen Diensten absinken: Derzeit ist eine „Nullrunde“ bei den Einkommen für die nächsten drei Jahre geplant, was in Anbetracht der Inflations-Aussichten einem Reallohnverlust von rund fünf Prozent gleichkommt. Eine bereits seit längerem für Juli 2010, also nächsten Monat, geplante Erhöhung dieser Löhne & Gehälter um 0,5 % wurde zudem - am 25. Juni – für vertagt erklärt und auf unbestimmte Zeit „verschoben“. (Vgl. http://www.lepoint.fr/) Daraufhin standen die Gewerkschaften um die Mittagszeit vom Verhandlungstisch auf und „schlugen die Tür zu“ (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com ). Inzwischen hat die Regierung diese seit längerem angekündigte Erhöhung um 0,5 % ab dem 1. Juli 10 doch noch „gewährt“, allerdings verbunden mit der entschlossenen Ankündigung eines definitiven Lohnstopps für das kommende Jah 2011. (Vgl. http://www.usinenouvelle.com/  oder http://www.leparisien.fr/

Hinzu kommt, dass absehbar für die Dauer der Amtszeit von Präsident Nicolas Sarkozy, 2007-2012, insgesamt rund 200.000 Stellen von Staatsbediensteten gestrichen werden. Ein bedeutender Teil davon im öffentlichen Schuldienst. So wurden im Jahr 2007 (Ende Mai desselben Jahres trat Sarkozy sein Amt an) insgesamt 11.000 Arbeitsplätze in den öffentlichen Diensten gestrichen, im Jahr 2008 waren es 23.000, im Jahr 2009 dann 31.000, und für jedes der vier Jahre 2010, 2011, 2012 und 2013 sind bereits 34.000 Stellenstreichungen einprogrammiert. (Vgl. Graphik in ,Libération’ vom 24. Juni) Im kommenden Jahr, 2011, werden vom geplanten Abbau von 34.000 Stellen allein 16.000 den Schuldienst betreffen. 

Demos: massiv! 

Die Beteiligung an den Demonstrationen, an denen auch Lohnabhängige außerhalb des Staatssektors  - in den Reihen der CGT waren als „harte Kern“ einmal mehr die Lohnabhängigen der Automobilwerke von Renault und Citroën-Peugeot massiv präsent - sowie Studierende in größerer Zahl teilnahmen, war massiv.

In Paris nahmen nach unseren Beobachtungen rund 100.000 Personen an der Demonstration vom 24. Juni, die um 14 Uhr von der Place de la République aus in Richtung Place de la Nation losging, teil. Die letzten Teilnehmenden verließen den Auftaktort um kurz vor 18 Uhr. (Im Nachhinein sprechen die Veranstalter von „130.000“ und die Polizei von „47.000“ Demonstrieren in der Hauptstadt.)

In ganz Frankreich demonstrierten laut Angaben des Innenministeriums knapp 800.000 (offiziell sind es exakt „797.000“, damit es so aussieht, als hätten sie gerechnet) Personen. Die CGT sprach zunächst von einem Gesamtergebnis von 1,92 Millionen, auf welches sie durch Addieren der Einzelergebnissen aus den Städten komme. Inzwischen runden die Gewerkschaften die Demonstrantenzahlen auf „zwei Millionen“ auf. Da es erwiesen ist, dass es sich beiden Fällen nicht um wissenschaftliche Quellen handelt und die Realität - auf dieser rein quantitativen Ebene - oft in der Mitte zwischen beiden Angaben liegt, darf man also ruhig von anderthalb Millionen in ganz Frankreich ausgehen. Eine stattliche Zahl, wodurch der gestrige Streik- und Aktionstag zum mit Abstand stärksten befolgten seit Anfang des Jahres 2010 wird. 

Auch Gewerkschaftsverbände, die üblicherweise auf den Straßen eher schwächer mobilisieren, hatten eine gute Mobilisierung hingelegt wie beispielsweise die CFDT. Deren eher rechtssozialdemokratische Führung unterstützte zwar prinzipiell das Ansinnen, die Zahl der obligatorischen Beitragsjahre zur Rentenkasse anzuheben, und erhielt dazu auf ihrem jüngsten Kongress (Gewerkschaftstag) in Tours vom o7. bis 11. Juni auch eine Mehrheit. (Labournet berichtete) Doch im Gegenzug wollte die CFDT-Spitze herausholen, dass an das Mindest-Eintrittsalter nicht gerührt wird; dass also jene älteren Lohnabhängigen, die - aufgrund frühen Eintritts ins Erwerbsleben - ihre vollen Beitragsjahre beisammen haben, auch schon vor 60/62 Jahren in Pension gehen können. Nicolas Sarkozy und das Regierungslager haben jedoch auf dieses „Angebot“ für eine „Kompromiss“ derart wenig Rücksicht genommen, dass auch die ansonsten durchaus zur Unterstützung von „Reformen“ konservativer Regierungen bereite CFDT-Spitze dieses Mal kein Abkommen mit ihnen eingehen wird. An jenem Donnerstag (24. 06.) tönte ihr Generalsekretär François Chérèque beispielsweise in einem Interview mit der Gratistageszeitung ,Métro’: „Es wird keine Kompromiss geben.“ Übrigens monierte die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ im Hinblick auf die Sarkozy und die CFDT, die nun nicht miteinander ins Geschäft kâäen, eine „verpasste Chance“. (Vgl. http://www.lemonde.fr/

Den Auftakt der Pariser Demonstration machte die Union syndicale Solidaires, ein Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften (SUD). An ihrem – kämpferischen - Block allein nahmen über 10.000 Menschen teil (bemessen auf der Grundlage: Straßenbreite von 20 bis 25 Personen pro Reihe; 30 Reihen pro Minute angesichts guter Demo-Geschwindigkeit; Dauer über zwanzig Minuten.) Daraufhin folgte die CFDT, die ihrerseits ebenfalls über 10.000 Anhänger/innen mobilisieren konnte; ihr Vorbeiziehen dauerte über dreißig Minuten, aber die CFDT-Gefolgschaft lief wesentlich weniger kompakt und dicht gedrängt. Bemerkenswert war, dass in den Reihen der CFDT - vor allem ihrer eher linken Metall-Branchensektion - auf Transparenten auch „37,5 Beitragsjahre“ zur Pensionskasse gefordert wurden, also ein Rückkehr zu jenen Regelungen, die vor 1993 für alle Lohnabhängigen und noch bis 2003 u.a. für die öffentlich Bediensteten galten. Beim Streik gegen die letzte „Reform“ der Renten, 2003, zählte es zu den Forderungen der „radikaleren“ Gewerkschaften (wie SUD und Teile der CGT, und zumindest verbal auch FO), dass für alle Lohnabhängigen 37,5 Beitragsjahre gelten sollten und also auch die „Reform“ vom Hochsommer 1993 für die Privatbeschäftigten an dem Punkt zurückgenommen werden müsse. Es ist interessant, zu beobachten, dass diese Forderung - die den Vorstellungen der CFDT-Spitze allerdings total widersprechen - noch heute unter Demonstranten der CFDT (in der Metallindustrie) erhoben wird. 

Später folgten Zehntausende und Aber-Zehntausende von DemonstrantInnen hinter den Transparenten der CGT, die genau zu zählen schlicht unmöglich war. Im Gegensatz zu manch anderen Um- und Aufzügen mit massiver Präsenz der CGT war die Atmosphäre dieses Mal keineswegs dröge und griesgrämig, sondern festlich und fantasievoll, mit Musik, Trommeln, Tröten, vielen fantasievollen Transparenten, Ruhm und guter Stimmung. Es wirkte also nicht wie ein Beerdigungszug für die soziale Mobilisierung gegen die Renten„reform“, den es - angesichts der Verzettelung und Kräften und weit auseinander gezogener, durch mehrere Wochen zeitlich getrennter Demonstrationstermine - auch hätte werden können. Nach Beerdigung sah es bestimmt nicht aus. 

Auch die ,Travailleurs sans papiers’ (eingewanderte Lohnabhängige ohne Aufenthaltspapiere), die in der Woche zuvor einen wichtigen Erfolg - die „Legalisierung“ von voraussichtlich sechstausend unter ihnen infolge eines seit dem 12. Oktober 2009 begonnen Streiks, vgl. neben stehenden Artikel - feiern konnten, waren ebenfalls massiv und gut sichtbar präsent. 

Weniger stark mobilisiert hatten die anderen Gewerkschaftsverbände, die „unpolitisch-reformistische“ UNSA (mit 2.000 Teilnehmer/innen für ihre Verhältnisse jedoch trotzdem relativ gut dabei), und die CFDT (Christenheinis, stolze 500 Demonstranten mit Huptröten). Die Gewerkschaftsorganisation der höheren Angestellten CGC glänzte durch Abwesenheit, da sie als einziger gewerkschaftlicher Dachverband die Renten„reform“ in ihren Grundzügen unterstützt, vgl. dazu oben. 

Gewerkschaftliche Strategien und Fortgang der Proteste

FO (Force Ouvrière), der drittstärkste Gewerkschafts-Dachverband in Frankreich - nach CGT und CFDT - mit populistisch schillerndem Profil, fehlte ebenso. Jedenfalls in Paris und weiteren Städten. Frankreichweit hatte FO ihre eigene Mobilisierung, durch ihren ganz allein durchgeführten und überwiegend demagogischen„Generalstreik“ vom 15. Juni - mit zentraler Demo von rund 30.000 Anhänger/innen in Paris-, bereits eine Woche zuvor gehabt. Dabei war sie freilich überwiegend um Profilierung des eigenen Ladens bemüht gewesen. Hingegen nahmen FO-Verbände etwa in den Départements Nord (um Lille) oder Morbihan, in der Bretagne, ihrerseits am gestrigen Streik- und Aktionstag teil.  

Am 25. Juni verlieh nun jedoch die FO-Spitze unter ihrem Generalsekretär Jean-Claude Mailly ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es „im September einen gemeinsamen Aktionstag (dieses Mal) aller Gewerkschaften“ gegen die dann im Parlament beratene Renten„reform“ geben werde. (Vgl. http://www.google.com/ ) Auch CFDT-Generalsekretär François Chérèque und andere Gewerkschaftschefs sprachen alsbald einer erneuten Mobilisierung im September das Wort (vgl. http://www.lexpress.fr/ ), ebenso wie die linke Union syndicale-Solidaires. 

Über nähere Modalitäten ihrer erneuten Mobilisierung berieten die Spitzen der (Mehrzahl der) französischen Gewerkschaftsverbände gemeinsam am Dienstag, 29. Juni. Heraus kam dabei, dass am 07. September dieses Jahres - dem ersten Tag der Parlamentsdebatte zum Thema - erneut gegen die drohende Renten„reform“ gestreikt, demonstriert und protestiert werden soll. (Vgl. http://www.lesechos.fr und  http://www.humanite.fr

Die konservativ-wirtschaftsliberale Regierung ihrerseits erklärte etwa durch den Mund von Bildungsminister und Regierungssprecher Luc Chatel (am Freitag, 25. Juni), man dürfe und werde die Mobilisierung vom 24. Juni - die „real“ gewesen sei - „nicht unterschätzen“. Allerdings fügten mehrere Minister oberlehrerhaft auch hinzu, ja, bei den letzten Mobilisierungen, da sei es ja noch stärker gewesen, also könne man das Ganze ruhig auch schon wieder relativieren. Luc Chatel führte etwa zum Vergleich die Demonstrationen gegen die „Krisenbewältigungs“politik vom 29. Januar und 19. März 2009 - mit jeweils über zwei Millionen Teilnehmer/inne/n - an.  

Premierminister François Fillon seinerseits reagierte am 25. Juni  mit den Worten, die Mobilisierung der Gewerkschaften sei ja schön und gut, aber „keine Mobilisierung (der Welt) wird das demographische Problem“ - also die behauptete Ursache des „Rentenproblems“ im Älterwerden der Gesellschaft - „lösen können“. (Vgl. http://www.lepoint.fr ) Sprich, die Regierung möchte auf Kurs bleiben. Allerdings hat sie Verhandlungsmasse in ihre Pläne eingebaut. So wird sie sicherlich bei der Frage der Lohnabhängigen mit besonderer körperlicher Belastung bzw. besonders „erschwerten Arbeitsbedingungen“ wohl bis im September noch Ballast abwerfen. Nach dem Motto: Beim Nebensächlichen Zugeständnisse akzeptieren und Details „opfern“, um das Wesentliche (der „Reform“) zu retten. 

Zuständiger Minister Eric Woerth: Politisch schwer angeschlagen

Der Minister für Arbeit & Soziales, Eric Woerth, seinerseits berief sich auf die „stärkere Mobilisierung“ im Jahr 2003 gegen die bis dahin letzte „Reform“ der Renten (obwohl jene damals ähnlich stark war wie die von Ende Juni, allerdings mit Aktions- und Demoterminen alle acht Tage; vgl. zu den Worten von Woerth: http://tempsreel.nouvelobs.com ).  

Der Minister Woerth muss freilich schwer aufpassen, denn derzeit ist er aufgrund eines Korruptionsskandals bzw. „Interessenkonflikts“ politisch stark angeschlagen: Seine Ehefrau Florence Woerth war bis vor kurzem - bis zu Enthüllungen durch das Internetmagazin ,Médiapart’ vom 16. Juni 10 (vor dem Hintergrund illegal aufgenommener Gesprächsmitschnitte, die bei einem aktuell anlaufenden Prozess um Familienstreitigkeiten bei den Bettencourts zwischen Mutter Liliane und Tochter Françoise eine Rolle spielen)  - als Vermögensberaterin für die Milliardärin und Erbe des Kosmetikkonzerns L’Oréal, Madame Liliane Bettencourt, tätig. Letztere Dame wird nun gravierender Steuerhinterziehung beschuldigt; die Rede ist von massiver Steuerflucht in die Schweiz, wo allein auf zwei Konten bei den Steuerbehörden nicht angegebene 78 Millionen Euro von ihr ruhen sollen. Sowie auf die Seychellen, wo Madame persönliche Eigentümerin der Insel Arros ist.  

Minister Eric Woerth behauptet, er habe von dem Ganzen nichts gewusst, und er habe nicht zugunsten der Milliardärin eingegriffen. Seitdem nun allerdings am 23. Juni 10 herauskam, dass er auch ihren persönlichen Vermögensverwalter Patrice de Maistre (am 23. Januar 2008) mit der ,Légion d’honneur’- - einer Art französischer Entsprechung zum deutschen Bundesverdienstkreuz - ausstaffiert hatte, wirkt seine Verteidigung schon erheblich unglaubwürdiger. Und nachdem die Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ vom 02. Juli dieses Jahres darüber berichtet hat, dass Eric Woerth am 30. Januar 2008 persönlich zum Diner Madame Bettencourt – in ihrer Privatvilla im Millionärsvorort Neuilly-sur-Seine – eingeladen war, ist in Sachen Glaubwürdigkeit der Zapfen endgültig ab.  

Derselben werten Dame waren im März 2008 – kurz Zeit nach dem Abendessen des damaligen Haushaltsminister Woerth in ihrer Privatwohnung - , unter Anwendung eines unter Sarkozy am 21. August 2007 verabschiedeten steuergesetzlichen Mechanismus, des ,bouclier fiscal’[1] - satte 30 Millionen Euro an Steuern auf einmal zurückbezahlt worden. Dass der Minister davon wusste, ist formell nicht nachgewiesen. In der Praxis, darauf weisen Experten hin (vgl. ,Libération’ vom 03./04. Juli), wäre es kaum denkbar, dass bei einer Steuer-Rückzahlung in solcher Höhe die zuständigen Finanzämter den Minister nicht informiert haben sollten. 

Die parlamentarische Opposition ist gegen das „Korruptionssystem“, als Sozi-Politikerin Ségolène Royal das Sarkozy-Regime qualifizierte (was den Zorn auf den konservativen Regierungsbänken entfesselte und ihr Vergleiche zu Le Pen eintrug), ganz aus dem Häuschen. Breite Aufmerksamkeit erregt dabei, dass Eric Woerth bis vor wenigen Monaten in Personalunion Haushaltsminister – zuständig u.a. für Steuerbetrug – und gleichzeitig Schatzmeister der UMP war, zuständig für das Eintreiben von Spenden (schwer)reicher Leute. Liliane Bettencourt zählt zu den Spenderinnen der UMP, hat allerdings in der Vergangenheit durchaus auch Sozialdemokraten mit ihren Wohltaten bedacht. Jetzt ist Eric Woerth zwar nicht mehr Haushalts-, sondern Arbeits- & Sozialminister, er personifiziert aber nach wie vor dieses System der Interessenverquickung der konservativ-liberalen Regierungscamarilla mit den höchsten Stockwerken der französischen  Bourgeoisie. Der Minister ist schwer angeschlagen, auch wenn Sarkozy ihm demonstrativ sein „volles und totales Vertrauen“ (am Rande des G20-Gipfels in Toronto) aussprach, weil Woerth aufgrund seiner Rolle bei der Vorbereitung der Renten„reform“ eine höchst strategische Position besetzt und er ihn in diesem Moment auf keinen Fall verlieren möchte. Der konservative Ex-Premier Alain Juppé beispielsweise hat sich jedoch schon klar von Eric Woerth distanziert. 56 % der Fragen betrachten die Affäre laut Umfragen als „gravierend“, schwerwiegend. Leider scheint, vor dem Hintergrund eines in vielen Mündern als „Korruptionssumpf“ bezeichneten Kontextes und deshalb ziemlich moralgeschwängerten Klimas, derzeit als einzige Politikerin die rechtsextreme Nachwuchs-Powerfrau Marine Le Pen - mit ihren massiven Angriffen auf die Regierung „ohne Wertmabstäbe“ - von einem Sympathiezuwachs zu profitieren.  

Aber falls es den Gewerkschaften und einer sozialen Bewegung in den kommenden Wochen und Monaten gelingt, gegen die Regierungspläne in die Offensive zu kommen, dann zeichnet sich eine andere Alternative ab, als die extreme Rechte sie anbietet.

Fussnoten
[1] Vgl. zu diesem « steuerlichen Schutzschild » für Spitzenverdiener, der seit dem August 2007 anwendbar ist : „Reformen“ paketweise beschlossen.  und Verfassungsgericht lässt „Reformpakete“ fast geschlossen passieren.

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.