Von der Organisations- zur Programmdebatte
Prinzipien- oder Aktionsprogramm?
Skizzen über Theorie, Praxis und Programm - Antworten(*) an Detlev Georgia Schulze (Teil 2)

von Karl-Heinz Schubert

7-8/11

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onlinezeitung

Detlef Georgia Schulzes politischen Motive sind geformt durch den Wunsch nach einem einheitlichen organisatorischer Rahmen für unterschiedlich politisch-ideologische linke bzw. linksradikale Strömungen. In diesem Sinne lässt er seinen Artikel folgendermaßen ausklingen: 

„Es geht um eine „‚Einheit, die Differenzen zuläßt (und voraussetzt)’. Ein Bündnis hat nur Sinn und kommt nur zustande, wenn den Beteiligten der Raum gelassen wird, ihre jeweiligen eigenen Motive und Interessen einzubringen und nicht die Einheit jedem ‚Partikularismus’ der Beteiligten übergeordnet wird.“ 

Im zweiten Teil meiner Skizzen werde ich mich mit diesem Anliegen näher beschäftigen.

Redaktionelle Hinweise

Wir veröffentlichten in der Märzausgabe einen Beitrag der
„Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg“ zur Gründung einer antikapitalistischen Organisation. Darüber entwickelte sich eine Debatte, die durch das TREND TEACH IN ihren ersten Bilanzpunkt erfuhr. Die Statements wurden in der Juniausgabe des TREND veröffentlicht. Weitere in der aktuellen Sommerausgabe 7-8/11

Die "SchönebergerInnen" haben mittlerweile einen Blog eröffnet, der ebenfalls  die Debatte begleitet.

Erfreulicherweise - angestoßen durch Robert Schlossers Beitrag - scheint sich nun in der 2. Juli-Hälfte die Organisationsdebatte in eine Programmdebatte zu transformieren.

  Zum ersten Teil der Skizzen

Wer organisiert wen für was?

Wenn Genosse Schulze im 4. Punkt von „II. Die Aufgabe einer revolutionären Organisation“ fragt:  

„Was spricht also nach Ansicht von Karl-Heinz dagegen, heute eine überregionale und die verschiedenen Diskussionszirkel, Kleinorganisationen und Politgrüppchen übergreifende Programm- und Organisationsstruktur-Diskussion zu beginnen und im Einigungsfalle dann tatsächlich eine gemeinsame Organisation zu gründen?“

So kann ich ihm nur antworten: Verfahrenstechnisch wenig.  Aber leider geht es nicht darum, einfach einen Vereinigungsprozess zu modellieren und mittels einer Art von Legespiel, die passenden Programmteile der diskutierenden Zirkel zu einem Ganzen zusammenzufügen. Eine Programmdebatte, die diesen Namen verdient, zu führen, ist vielmehr ein äußerst komplizierter und zeitaufwändiger Vorgang. 

In Lenins berühmten „Org-Aufsatz“ von 1902  „Was tun“ berichtet er seinen LeserInnen über ein Gespräch zur Organisationsfrage mit einem Genossen:  

„Wir glaubten schon, völlig einig zu sein, aber ... das Gespräch geht weiter, und da stellt sich heraus, daß wir von verschiedenen Dingen sprechen. Während mein Gesprächspartner den Verfasser beschuldigte, die Streikkassen, Gesellschaften für gegenseitige Hilfe usw. ignoriert zu haben, hatte ich die Organisation der Revolutionäre im Auge, die notwendig ist, um die politische Revolution zu „vollbringen“. Und kaum war diese Meinungsverschiedenheit zutage getreten, da konnte ich mich, soweit ich mich erinnere, in keiner einzigen prinzipiellen Frage mehr mit diesem „Ökonomisten“ verständigen!“ (LW 5, S. 468)

Lenin ging es bekanntlich um die Schaffung einer „Organisation der Revolutionäre“. Worum geht es Genossen Schulze? Wie steht er zur Leninschen Trennung zwischen einer Organisation für RevolutionärInnen und einer für LohnarbeiterInnen? Das „Schöneberger Papier“, das Genosse Schulze positiv findet, gibt darauf keine schlüssige Antwort.  

Oder anders. Wer organisiert wen für was? Diese Frage ist vorgängig zu beantworten, bevor überhaupt die erste Zeile einer Gründungserklärung einer „Antikapitalistischen Organisation“ geschrieben wird.  

Was mensch allerdings von Lenin lernen kann - ist, dass die Antwort auf diese Frage weder durch reine Theoriearbeit am Schreibtisch noch direkt aus der unmittelbaren Erfahrung im Klassenkampf gefunden werden kann. Mithilfe des wissenschaftlichen Sozialismus wurden kollektive praktisch-politische Erfahrungen durch Lenin im Kontext seiner Klassenanalyse Russlands (LW 3) verallgemeinert und bildeten ihrerseits die Grundlage der spezifischen Form der Organisierung der RevolutionärInnen – nämlich in der Besonderung als zentralistischer Avantgardepartei. Die Frage, ob dieses Resultat – heute unter spätkapitalistischen, bürgerlich-parlamentarischen Verhältnissen und angesichts des Scheiterns der auf diesem Konstrukt basierenden sozialistischen Staaten – noch weiterhin Gültigkeit besitzt, kann bei einer Programmdebatte nicht ausgeblendet werden. 

Aus dem engen Zusammenhang zwischen Organisationsform und programmatischen Grundlagen ergibt sich eine zweite zentrale Fragestellung: Soll es sich bei dem Programm, um eine Prinzipienerklärung oder um einen „Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion“ bzw. um eine Mischform aus beidem handeln?  

Aus der Marxschen Kritik am Gothaer Programm der SPD wissen wir, dass das Programm des Zusammenschlusses politisch-ideologisch unterschiedlichen  Organisationen durch die Ziele ihrer zukünftigen gemeinsamen Praxis bestimmt wird. So schreibt Marx diesbezüglich am 5. Mai 1875  vor dem Vereinigungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein an Wilhelm Bracke (Vorstandsmitglied der SDAP):  

„Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht - und die Zeitumstände ließen das nicht zu - über das Eisenacher Programm hinausgehn, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktionen gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt diese bis zur Zeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung mißt. Die Chefs der Lassalleaner kamen, weil die Verhältnisse sie dazu zwangen. Hätte man ihnen von vornherein erklärt, man lasse sich auf keinen Prinzipienschacher ein, so hätten sie sich mit einem Aktionsprogramm oder Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion begnügen müssen.“ (MEW 19, S. 13f - Unterstreichung von mir)

Die Erfahrungen der Sozialistengesetze und das beständige ideologische Einwirken von Marx und Engels führten dazu, das "spezifisch lassallisches und vulgärsozialistisches" Gedankengut aus der Partei "im wesentlichen beseitigt" werden konnte. Nun war es möglich, ein Programm zu formulieren, das "nach seiner theoretischen Seite hin im ganzen auf dem Boden er heutigen Wissenschaft" stand, wie sich Engels 1891 ausdrückte. (MEW 22, S. 227)

Beurteilt nach den Marxschen Programmkriterien handelt es sich bei dem besagten Erfurter Programm von 1891  um eine so genannte Mischform. Teil 1 nennt in komprimierter Form die Prinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus und der zweite Teil bildet das Aktionsprogramm, bestehend aus politischen Forderungen für die demokratische Rechte und ArbeiterInnenschutzforderungen. Die Form entspricht der Engelschen Empfehlung: "Nach meiner Ansicht hat das Programm so kurz und so präzis wie möglich zu sein."  (MEW 22, S. 227f).

Mensch mag wie Kurt Brandis (Der Anfang vom Ende der Sozialdemokratie, Westberlin 1975, S. 69f) in dieser Mischform eine Beziehungslosigkeit zwischen allgemeiner Theorie und alltäglicher Praxis bei  der SPD entdecken, die deren Reformismus beförderte. Doch dies muss einer Debatte überlassen werden, die die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zum Hauptgegenstand hat. Hier geht es nur darum festzustellen, dass eine Organisation, deren Ziel es ist, mit dem Proletariat den Kapitalismus aufzuheben und an dessen Stelle eine Gesellschaft zu schaffen, "worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist." (MEW 4, S. 482), sich der Frage zu stellen hat, was grundsätzlich die Elemente des gemeinsamen Programms sein sollen. Im Übrigen gehört dazu natürlich auch die Frage des Programmaufbaus, welche aber erst im Kontext der Darstellungsweise nach Abschluss der Erarbeitungsphase aufgerufen werden muss.

Schauen wir uns unter diesen Fragestellungen nun die sieben Programme der Organisationen an, die uns Genosse Schulze für eine Arbeit am Programm vorschlägt:

„Und es ist ja nicht so, daß es in Sachen Programm keinerlei Vorarbeiten gibt: Der RSB hat ein Programm, die SAV hat ein Grundsatzprogramm, Avanti hat ein langes Grundsatzpapier, auf das sich die Schöneberger in ihrem Text ja auch beziehen, SoL hat ein langes Grundsatzpapier. Die Gruppen Projekt Revolutionäre Perspektive (Hamburg) und Revolutionäre Perspektive Berlin haben zumindest mehrseitige Selbstverständniserklärungen. Die Revolutionäre Linke um die Zeitschrift radikal hat ein Grundsatzpapier vorgelegt.“

1) Beginnen wir bei seiner Aufzählung von hinten mit dem "Grundsatzpapier der Revolutionären Linken".

Besonderen Wert legt die RL darauf, die Linkspartei dahingehend zu kritisieren, dass es dieser Partei nur um "die Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Unterdrückung mittels sozial abgestützter Begleitprogramme" geht. Dieses Argument ist sozusagen ihre  ideologische Krücke für die grundsätzliche  Absage an soziale und ökonomische ArbeiterInnenforderungen im Hier und Jetzt. Wer nun stattdessen im Verlauf des Papiers so etwas wie eine Prinzipienerklärung zur Aufhebung des Kapitalismus erwartet hat, muss enttäuscht sein, denn wie heißt es eingangs: "Wir setzen uns mit diesem Selbstdarstellungstext das Ziel, unsere Positionen erstmals in ihren Hauptlinien in gedrängter Form vorzulegen." 

Nach einem Schwall von Phrasen landet das Papier schließlich bei dem schlichten und wenig originellen Vorschlag der Bildung einer klandestinen Organisation als "(Schutz-)Raum (für RevolutionärInnen – khs), um weitgehend außerhalb des staatlichen Fadenkreuzes politisch eingreifen zu können." Und damit hinsichtlich der pseudo-intellektuellen Attitude des Papiers keine falschen Hoffnungen aufkommen, heißt es am Schluss: "Und eins schreiben wir uns ganz dick und rot auf unseren Merkzettel, dass wir uns selbst niemals zu einer theoretisierenden Zirkelei herablassen."

Ich glaube, lieber Genosse Schulze, diese Gruppe solltest Du ganz schnell von der Vorschlagsliste für eine Arbeit am Programm streichen.

2) Sozusagen spiegelverkehrt positiv stellt sich für mich das Papier des  Projekts Revolutionäre Perspektive  aus Hamburg dar. Zwar handelt es sich - wie der Titel bereit verrät - (nur) um ein Selbstverständnispapier und nicht um Programmatische Grundsätze in Richtung Prinzipienerklärung oder Aktionslosungen.  Doch ganz im Gegensatz zur Borniertheit der RL gibt es etliche Hinweise, wo die "Hamburger" Fragen haben, die sie zusammen mit anderen klären wollen. Am Beispiel des Verhältnis von Reform und Revolution schreiben sie:

"Eine sinnvolle Verknüpfung von tagespolitischen Fragen mit einer antikapitalistischen Zielsetzung findet nur selten statt. Aber eine radikale Linke, die in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht wahrnehmbar ist, verspielt ihre Glaubwürdigkeit, beschränkt sich auf das Verfassen lehrmeisterhafter Texte und verläuft sich in sektiererischen Zirkeln. Dass wir andererseits keinen blinden Aktionismus und die Beteiligung an allen möglichen Protesten möchten, dürfte klar sein. Es müssen strategische Überlegungen angestellt werden, wo eine Intervention Sinn macht und wo nicht."

Damit rufen sie eine Fragestellung auf, die es zwischen denen zu diskutieren gilt, die bereits in linksradikalen Zirkeln organisiert sind. Andererseits sprechen sie mit der folgenden Bemerkung Menschen an, die sie erst organisieren wollen:

"Wir richten uns mit unserer politischen Praxis an alle, die gegen die schlechten Lebensbedingungen ankämpfen und möchten im Rahmen unserer Möglichkeiten konkrete Handlungsoptionen anbieten. Wir vertrauen auf die Kraft der außerparlamentarischen Bewegungen und verstehen uns als Teil organisierter antikapitalistischer Strukturen ... Wir müssen die unterschiedlichen Erfahrungen der Kämpfe auswerten, einen Lernprozess möglich machen und diesen zurück in die Bewegungen tragen, um eine Weiterentwicklung antikapitalistischer Politik möglich zu machen."

Die Irritationen im Hinblick darauf, wer die Zielgruppe ihrer politischen  Bemühungen ist oder ob es mehrere gibt, spricht einerseits gegen die Verwendung ihres Papiers in einer Programmdebatte. Doch andererseits macht die Offenheit und die solidarische Grundhaltung gegenüber anderen Strömungen/Ansichten, die ihr Selbstverständnispapier prägen, Hoffnung, mit diesen GenossInnen in eine programmatische Grundlagendiskussion eintreten zu können, weil bei ihnen - bildlich gesprochen -Türen nicht ideologisch borniert verschlossen sind. Das zeigt sich deutlich daran, wie sie die Organisationsfrage thematisieren:

"Eine zentrale Frage besteht darin, wie eine antagonistische Politik aussehen kann und von der Ebene der theoretischen Abstraktion zu konkreter Praxis gelangt, die sich in reale Kämpfe einmischt und Gewicht erlangt. Wir wollen im Rahmen der leider (noch) beschränkten Möglichkeiten in Soziale- und Klassenkämpfe intervenieren. Dafür halten wir den Aufbau einer starken Organisation für eine wesentliche Voraussetzung. Nur wenn wir uns auf der Basis gemeinsamer Prinzipien zusammenschließen, können wir eine effektive Praxis entwickeln und die genannten Aufgaben angehen. Dabei wollen wir weder messianisch als Heilsbringer und Verfechter der einzigen Wahrheit auftreten noch mit unserem Standpunkt hinter dem Berg halten."

Ebenso deutlich wird ihre Aufgeschlossenheit im Umgang mit der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung:

"Für uns ist es wichtig, die historische und gegenwärtige linke Praxis zu hinterfragen und die vielfältige wie widersprüchliche Geschichte der kommunistischen und sozialrevolutionären Bewegungen weder rein affirmativ zu betrachten noch plump zu verdammen. Vielmehr sollten wir aus ihr lernen und sie für die heutige Zeit nutzbar machen. Dem ideologischen Legitimationsverlust des Kapitalismus, der gerade in Krisenzeiten deutlich wird, muss die praktische Negation folgen. Dazu sind die Erfahrungen aus vergangenen Sozialen- und Klassenkämpfen unersetzlich."

3) Auf den ersten Blick vergleichbar mit den "Hamburger Papier"  ist die fast namensgleiche Berliner Gruppe  Revolutionäre Perspektive (RP). Das mit "Über uns" getitelte Papier stellt für mich eine Mischung zwischen  Absichtserklärung und eigener, leider nur formaler Standortbestimmung dar. Darin heißt es zu den Zielen der Gruppe:

"Wir streben eine Organisierung an, die sowohl in ihren theoretischen als auch praktischen Aktivitäten den gemeinsamen Nenner – der Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital – in diesem politischen Gesamtprozess deutlich werden lässt, ohne die Berechtigung der Teilbereichskämpfe in Frage zu stellen."

Und weiter:

"Wir stehen mit unseren Anstrengungen nicht alleine. Es gibt nicht nur weltweit fortschrittliche und revolutionäre Kämpfe, sondern auch Organisationsprozesse, die in der BRD mit gleicher Zielsetzung angestrebt werden. Die Revolutionäre Perspektive Berlin versteht sich als Teil eines Aufbauprozesses, der auch anderswo vorangetrieben wird, mit dem langfristigen Ziel eine größtmögliche Einheit aller revolutionären Kräfte herzustellen. Es geht letztendlich um den Wiederaufbau einer revolutionären, proletarischen Gegenmacht, die perspektivisch in der Lage ist, dem Kommunismus zum Durchbruch zu verhelfen."

Wie solch ein Organisationsprozess aussehen sollte, welcher inhaltliche Beitrag von der "Revolutionären Perspektive" dabei geleistet werden könnte? Welche Prozesse "anderwo" laufen, auf die es sich für die Berliner "RP" lohnen würde zu beziehen? Diese und andere für eine Programmdebatte relevanten Punkte werden nur formal aufgelistet, aber inhaltlich nicht angefüllt. Lediglich, dass "RP" sich irgendwie als "Teil eines Aufbauprozesses, der auch anderswo vorangetrieben wird" versteht, lässt geringe Hoffnungen keimen, dass diese Gruppe für eine Programmdebatte zur Verfügung stünde.  Ihre  "Über uns"- Plattform  ist jedenfalls für Programmfragen ein ungeeignetes Papier.

4) Die Gruppe  Sozialistische Linke (SoL) aus Hamburg veröffentlichte, nachdem sie sich 2004 als "Jugendgruppe" gegründet hatte, 2011 ihr  34 Seiten umfassendes "Grundsatzpapier" und versteht sich nun als "kommunistische Organisation". Sie will mit ihrer Politik dazu beitragen, dass eine kommunistische Partei wieder entsteht, die es ihrer Meinung nach heute in der BRD nicht mehr gibt. Diese Partei kann nur eine marxistisch-leninistische sein, die das Proletariat vor und während der Revolution führt (siehe dazu S. 29ff). Im Kontext dieser prinzipiellen Festlegung stehen  über das Papier verstreute Einschätzungen der Widersprüche in der Epoche des Kapitalismus und Vermutungen über die zukünftigen gesellschaftlichen und politischen Strukturen von Sozialismus und Kommunismus. Gemäß diesem Geschichtsverständnis ist das Proletariat für  SoL als das "revolutionäre Subjekt" (S.10) gesetzt. SoL begreift sich selber als proletarischer Zirkel, der sich durch "unermüdliche Kleinarbeit" in der eigenen Klasse verankern will (S.17).

Das SoL-Grundsatzpapier ist unter formalen Gesichtspunkten betrachtet überwiegend eine Prinzipienerklärung, von der die Gruppe sich offensichtlich erhofft, ihre beiden derzeitigen Hauptaufgaben "Artikulation eines klaren proletarischen Klassenstandpunkts und der Schulung unserer GenossInnen" (S.3) erledigen zu können.

In diesem Zusammenhang definiert SoL ihr Verständnis von Theorie als Praxis in einem ganz unmittelbaren (und damit reduzierten) Zusammenhang zur politischen Praxis:

"Die Theorie als Waffe bleibt jedoch immer stumpf und nutzlos, geht sie nicht mit einer revolutionären, an der ArbeiterInnenklasse orientierten Praxis einher. Es geht darum, in den klassenkämpferischen Auseinandersetzungen – ob in Schule, Uni, Fabrik oder Knast – mit den Betroffenen zusammenzukämpfen und eine konsequent antikapitalistische Position zu vertreten und zu etablieren. Erst mit einer solchen Praxis können wir die gesellschaftliche Situation unserer Klasse und die Sprengkraft aktueller Klassenwidersprüche in voller Gänze erfassen, in die Kämpfe eingreifen und die Theorie umsetzen. Die Praxiswerdung und Umsetzbarkeit der Theorie ist dabei der Maßstab ihrer Gültigkeit, denn nur hier zeigt sich ihre volle Wirkung. Falsche Ansätze und Fehleinschätzungen gilt es in einem Prozess theoretischer Aufarbeitung zu analysieren, ihren entgegenzuwirken und die Wiederholung in der Praxis zu vermeiden." (S.4)

Die Beschäftigung mit revolutionärer Theorie zum Beispiel für den ideologischen Kampf oder gerade auch im Hinblick auf die Entwicklung eigener programmatischer Grundlagen kommt der SoL ansonsten nicht in den Sinn;  auch indirekt nicht – etwa in ihrer kursorischen Darstellung der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (siehe S.11ff). Strategisch- programmatische Differenzen in der Weimarer KPD können folglich nicht als solche definiert sondern nur noch als "Verrat" bezeichnet werden: "

"Es waren ein langer Kampf und bittere Niederlagen notwendig bis die KommunistInnen ihre Mängel erkannten und unter Federführung Ernst Thälmanns eine Neuausrichtung der Partei gelingen konnte. Demokratischzentralistische Strukturen ersetzten die alten, der wissenschaftliche Sozialismus als grundlegende Theorie wurde anerkannt, Personen, die offen als VerräterInnen an der Klasse auftraten, wurden aus der Partei ausgeschlossen und die Beschlüsse der Kommunistischen Internationale (KI) umgesetzt." (S.12)

Wer erwartet hat, in einem Grundsatzpapier zumindest Aktionsvorschläge für die "unermüdliche Kleinarbeit" in der eigenen Klasse zu lesen, wird enttäuscht. Stattdessen vertrösten die AutorInnen ihre LeserInnenschaft mit Phrasen: 

"Unterstützung leisten, wo es geht, und in Gesprächen mit den fortschrittlicheren KollegInnen über Mängel und Beschränktheit der Kämpfe so etwas wie Klassenbewusstsein zu wecken, kann dabei ein Ansatz sein. Die unausweichlichen Rückschläge aber dürfen nicht zur Resignation führen." (S. 17)

So auch zur Frage des Aufbaus einer revolutionären Gewerkschaftsopposition:

"Welches der Konzepte in der aktuellen Situation zielführender ist und inwiefern Mischformen möglich sind, muss sich in praktischen Erfahrung zeigen." (S. 19)

Fazit. Anhand des Grundsatzpapiers kann ich nicht erkennen, wo es irgendeine Schnittstelle für eine Programmdiskussion mit der SoL jenseits ihrer selbst gewählten ML-Nische gäbe.

5) Fast dreimal so lang (90 Seiten) ist das "Grundsatzpapier" der Gruppe Avanti -Projekt undogmatische Linke von 2004 und liest sich wie ein Kompendium dessen, was im linksalternativen und autonomen Spektrum als Theorie in den letzten Dezennien für gut und richtig befunden wurde:

"Armut und Elend im globalen Maßstab / Ausbeutung und soziale Ungleichheit in den reichen Industriestaaten / Neue Weltordnung – neue Kriege / Der Angriff auf die demokratischen Rechte / Patriarchale Strukturen / Rassistische Diskriminierung / Umweltzerstörung / Entfremdung" (S.13-31)

"Die Frauenbewegungen / Die Friedens- und Antikriegsbewegung / Die internationale Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung / Die Anti-Atom- und Umweltbewegung / Die antifaschistische und antirassistische Bewegung" (S.47-61)

Da die Bewegung, aus der die Avanti-MacherInnen stammen (die Gruppe gibt es seit 1989), schon lange ihren Zenit überschritten hat, geht es Avanti ebenfalls wie der SoL um die gesellschaftliche (Wieder-) Verankerung der eigenen Gruppe, jedoch nicht speziell im Proletariat:

"Gesellschaftliche Verankerung meint also die Einbettung von AVANTI in ein Netzwerk von Bündnissen und/oder Kontakten sowohl mit anderen linken (nicht unbedingt revolutionären) Organisationen als auch mit politisch interessierten und engagierten Menschen, die z.B. in politischen Gruppen oder Bürgerinitiativen aktiv sind." (S. 73)

Im Zuge der Verankerung will Avanti die "Aufhebung der Spaltung zwischen der eher autonom geprägten radikalen Linken und der ArbeiterInnenbewegung" (ebd.) erreichen. Vor allem will das Avanti-Projekt mit seiner Politik "demokratisches und revolutionäres Bewußtsein voranbringen" (S. 75)

Insofern trägt das Projekt stark pädagogische Züge. Als Etikette sollen nach außen gelten:

"Wir streben an, dass andere uns als faire und verlässliche PartnerInnen in der Zusammenarbeit erleben, die ihre Positionen offen vertreten und – wo vertretbar – zu vernünftigen Kompromissen bereit sind." (ebd.)

Und diese nach Innen:

"Wir bemühen uns um ein Diskussionsklima, in dem sich alle zuhören, ausreden lassen und dadurch auch äußern können und mögen. Dies erfordert die Reflexion und den Abbau von dominantem Redeverhalten, das insbesondere von Männern oft praktiziert wird. Es kann z.B. in langen Monologen, ständigen Wiederholungen oder Ins-Wort-Fallen bestehen. In unseren Diskussionen wollen wir miteinander, nicht gegeneinander reden. Die Entwicklung eines solchen Diskussionsstils ist ein fortdauernder Lernprozess, der auf der Selbstverantwortung aller Beteiligten basiert und diese umgekehrt auch fördert." (S. 84f)

Ausgestattet mit solchen pädagogischen Ritualen hofft die Gruppe die "Organisierung von RevolutionärInnen" (S.7) befördern zu können. Laut Statut, Abschnitt "Aufnahme von neuen GenossInnen" handelt es sich bei RevolutionärInnen um solche Menschen, die die Avanti-Grundsätze anerkennen und bereit sind, "in der lokalen Gruppe aktiv und verbindlich mitzuarbeiten sowie die festgelegten Beiträge zu entrichten." (S.87) Dies wiederum lässt den Umkehrschluss zu, dass es sich bei den Avanti-Grundsätzen um revolutionäres Gedankengut handelt, wozu der "orthodox erstarrte Marxismus" (ebd.) nicht gehört. Was unter solch einem Marxismus zu verstehen wäre, wird ausdrücklich nicht erläutert, sondern erschließt sich nur patchworkartig aus dem oben erwähnten Kompendium.

Die "praktische politische Arbeit vor Ort" (ebd.) steht für das Projekt zweifellos im Vordergrund. Ihr Verhältnis zur Theorie klärt Avanti erst 75 Seiten später und stellt hierin  unter Beweis,  dass ihr Projekt  genauso zur Bewegungslinken gehört wir das ihrer Hamburger KonkurrentInnen von der SoL - eben nur mit anderen ideologischen "Leitplanken":

"Theoretische Erkenntnisse sind für eine revolutionäre Politik unverzichtbar. Aktionismus, der die Folgen und die Ziele der eigenen politischen Arbeit nicht ausreichend reflektiert, wollen wir vermeiden. Gleichzeitig müssen wir unsere theoretischen Anstrengungen unseren Möglichkeiten und Erfordernissen anpassen. Denn rein theoretische Debatte, die sich nicht auf politische Praxis bezieht und nicht zu einer (veränderten) Praxis führt, ist mindestens so falsch wie Aktionismus .... Theorie beweist ihre Gültigkeit und ihren Wert in der Praxis, wir wollen sie daher auch in enger Verbindung zu dieser Praxis entwickeln bzw. weiterentwickeln." (S. 82)

Wer sich die Arbeit am Programm als prinzipienloses Zusammenschreiben aus verschiedenen Plattformen vorstellt und keinen besonderen Wert auf Kohärenz legt, der findet im Avanti-Grundsatzpapier ein wahres Eldorado an nützlichen Textstellen. Wie so ein ideologisches Copy & Paste geht, kann exemplarisch bei den SchönebergerInnen nachvollzogen werden.

6) und 7)

Angesichts der Tatsache dass es sich beim  RSB und der SAV um zwei miteinander konkurrierende trotzkistische Zirkel handelt, deren ideologischen Grundlagen im Wesentlichen die selben sind (1) - während nur die taktischen Überlegungen voneinander abweichen, erlaube ich mir, beide gemeinsam bzw. vergleichend zu behandeln.

Der Revolutionär Sozialistische Bund (RSB) ist in der BRD neben der ISL Teil der 1938 gegründeten IV. Internationalen. Das Organisationsziel lautet: „Unser Ziel als RevolutionärInnen ist es, durch unsere Aktivität und Propaganda, in Kämpfen und Bewegungen unsere Organisation aufzubauen.“ (RSB-Grundsatzprogramm, S.14)  Der RSB wurde 1994 gegründet.

Die Sozialistische Alternative Voran (SAV)  steht in der Tradition des Trotzkismus, geht aber davon aus, dass es die 4. Internationale nicht mehr gibt. Auf der SAV-Internetseite heißt es dazu unter "Was will die SAV?": "Die Diktatur der Konzerne muss überwunden werden. Weltweit. Dafür bedarf es einer internationalen marxistischen Organisation. Das Komitee für eine Arbeiterinternationale (CWI) will eine solche aufbauen. Die SAV ist Teil des CWI."  Das Komitee für eine Arbeiterinternationale (KAI bzw. engl. CWI) ging aus einer Spaltung wegen des Entrismus in der Labour Party in Großbritannien 1991/92 hervor. Die SAV wurde auch 1994 gegründet.

Beide Programme stammen vom Ende des vorigen Jahrhunderts. Das RSB-Programm wurde 1996 beschlossen, das SAV-Grundsatzprogramm 1999. Unter dem Gesichtspunkt Prinzipien- oder Aktionsprogramm gilt für beide, dass sie eine Mischform darstellen. Während der RSB seine Forderungen für den Tageskampf in den Text des Programms integriert, stellt die SAV ihre - sie nennt sie Übergangsforderungen - ans Ende des Grundsatzprogramms.

Beide Zirkel wollen sich mit ihrer Kaderorganisation an den Klassenkämpfen beteiligen, um dort Agitation und Propaganda für den Sozialismus zu betreiben und dadurch eine kämpfende Massenorganisation der ArbeiterInnen aufzubauen:

"Eine politische Organisation ist nur nützlich, wenn sie sich an Kämpfen beteiligt. Sie kann sich letztlich nur in Bewegungen und Kämpfen aufbauen. Auch die Zersplitterung wird nur durch Zusammenarbeit überwunden werden. In diesem Prozeß kann eine Sozialistische Arbeiterpartei als kämpfende Massenorganisation aufgebaut werden. Zu diesem Zweck werden wir uns an fortschrittlichen Bewegungen und Kämpfen beteiligen." (RSB, S. 14)

Und

"Die SAV wartet nicht passiv ab bis sich sozialistisches Bewusstsein von alleine entwickelt. Breite Propaganda für Sozialismus ist ständiger Teil ihrer Arbeit. Dadurch versucht sie kritische und kämpferische ArbeiterInnen und Jugendliche, die schon heute das System in Frage stellen oder offen sind für unsere sozialistische Ideen, für die Mitgliedschaft in einer revolutionären Partei zu gewinnen." (SAV, o. S.)

Eine klassenanalytische Fundierung dieser strategischen Ausrichtung findet sich in beiden Programmen nicht.  Der RSB kann gerade mal einige Zahlen wiedergeben, die in jedem Wirtschaftsteil einer bürgerlichen Zeitung zu finden sind:

"Der "Klassenkampf von oben" erfolgt im Interesse einer winzigen Schicht des Kapitals, die nur etwa 300.000 Menschen zählt. Die Hälfte davon lebt in einem Freizeitpark mit unglaublichem Luxus. Sie tut buchstäblich nichts und verpraßt die Erträge ihres Kapitals. Unterstützt wird das Kapital jedoch durch das Kleinkapital in Handel, Handwerk, Landwirtschaft und Dienstleistungen - etwa ein Zehntel der Erwerbstätigen - sowie durch das Leitungspersonal in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Sie stellen etwa 4% der Erwerbsfähigen und werden hoch bezahlt. Im Interesse dieser Oberschichten wird Politik gemacht. Über 85% der Erwerbsfähigen sind hingegen lohnabhängig oder sozial ausgegrenzt. Über die Hälfte aller Einkünfte entfällt auf das Kapital, seine kleinbürgerliche Basis und sein Leitungspersonal. Die Vermögen sind noch ungleicher verteilt. Knapp zwei Drittel der Menschen in der Republik sind vermögenslos und haben weder Wohneigentum noch nennenswerte Reserven. Das Produktivvermögen konzentriert sich auf Kapital und Leitungspersonal, und das zu sehr ungleichen Teilen. Das Kleinkapital hat keinen großen Einfluß auf die Organisation der Wirtschaft." (RSB, S. 5)

Noch dünner wird die Suppe bei der SAV:

"Die Arbeiterklasse ist die entscheidende Kraft in der kapitalistischen Gesellschaft. Ihre Stärke ergibt sich aus ihrer Stellung in der Produktion, ihrem zahlenmäßig großen Anteil an der Bevölkerung und ihrer Fähigkeit zum gemeinsamen oder kollektiven Handeln. Sie produziert den wirtschaftlichen Reichtum. 'Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will', dieser Satz gilt heute mehr denn je. In Deutschland sind 1999 89% der Erwerbstätigen lohnabhängig. Die hohe Arbeitsproduktivität, die fortgeschrittene Arbeitsteilung und die Just-in-time-Produktion haben dazu geführt, dass Belegschaften einzelner Betriebe oder Branchen die gesamte Wirtschaft lahmlegen können." (SAV, o. S.)

Bei der Darstellung ihrer Konzepte trennen sich allerdings die Wege unserer beiden trotzkistischen Zirkel. Während der RSB schwerpunktmäßig die unerträglichen Alltagsbedingungen im "Spätkapitalismus" schildert,

"Das vereinte Europa soll ein neoliberales Europa sein....Die Folgen sind sinkende Reallöhne und Sozialeinkommen sowie wachsende Armut. Dieser Prozeß hat erst eingesetzt und wird durch die Politik der Deregulierung aller Arbeitsbedingungen rasch vorangetrieben." (RSB, S. 5)

zeichnet die SAV in ihrem Grundsatzprogramm hauptsächlich das rosige Bild einer Arbeiterdemokratie:

"Die Einbeziehung der Arbeitslosen in die Produktion und die Erhöhung der Produktivität durch moderne Produktions- und Kommunikationstechnologien werden es erlauben, die notwendige wöchentliche Arbeitszeit auf 20, 10 und weniger Stunden zu reduzieren." (SAV, o. S.)

Mehr als ein Jahrzehnt sind vergangen, seit dem diese beiden Programme verabschiedet wurden. Da beide Programme mehr oder weniger nur ausufernde feuilletonistische Oberflächenbeschreibungen von gesellschaftlichen Zuständen  liefern und darüber hinaus noch einen bunten Reigen von so genannten Aktionsforderungen enthalten, statt im Sinne von Friedrich Engels "so kurz und so präzis wie möglich" zu formulieren, müssten sie je nach Tageslage ständig aktualisiert werden. Dazu jeweils nur ein Beispiel aus beiden Programmen.

Der RSB stellt in dem Abschnitt "Blindlings in die Katastrophe" fest:

"Die Technik wird nicht nach humanen, sondern nach Profitbedürfnissen entwickelt und produziert Monster wie die Atomtechnik, deren "friedliche" Produktion allein schon ein untragbares Risiko darstellt .... Die etablierten Parteien blocken jede tiefgreifende Maßnahme mit dem Argument ab, damit würde die internationale Wettbewerbsfähigkeit untergraben und die Erwerbslosigkeit wachsen." (RSB, S. 7)

Aus dem Abschnitt "Das Verhältnis der SAV zu anderen Parteien":

"Die SAV schlägt der PDS, je nach konkreter Situation, Aktionseinheit im Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, Rassismus und Neonazis vor. Sie ist für die SAV ein potentieller Bündnispartner, wenn sie bereit ist, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten. Bei Wahlen ruft die SAV, falls sie nicht selbst antritt, zur Wahl der PDS auf." (SAV, o. S.)

Beide Programme sind leider  - oder besser "gottseidank" - nur geeignet, um an ihnen ein zentrales Problem bei der Erstellung eines Programms für eine "antikapitalistische Organisation"  aufzuzeigen.

Prinzipien- oder Aktionsprogramm?

Mit den folgenden Überlegungen komme ich auf die eingangs erwähnte Frage des Genossen Schulze nach einer Programmdiskussion zwischen verschiedenen  Zirkeln zur Bildung einer gemeinsamen Organisation zurück.

Wir haben es hier beim RSB und der SAV mit zwei Zirkeln zu tun, die gemessen an den anderen von Genossen Schulze genannten Zirkeln als TrotzkistInnen ideologisch ganz nahe beieinander sind. Beide waren in den 1990er Jahren im Gegensatz zu anderen trotzkistischen Strömungen Gegner des Entrismus (geworden) und propagierten stattdessen den Aufbau einer eigenständigen revolutionären Organisation. Sie taten dies aber nicht gemeinsam, sondern schufen miteinander konkurrierende Organisationen. Dies hatte seine Ursachen in den politisch-ideologischen Eigentümlichkeiten des trotzkistischen Spektrums, deren Behandlung den Rahmen dieser Betrachtung hier sprengen würde.

Betrachten wir deshalb die Sache nur immanent und stellen fest, dass beide Gruppen Bewegungslinke sind, d.h. die Teilnahme am praktischen Klassenkampf bildet für sie ein absolutes Muss. Von daher enthalten ihre Programme eine Reihe von Aktionsforderungen, die sowohl miteinander kompatibel sind als auch im Widerspruch zueinander stehen. Desweiteren finden sich Losungen für die Praxis, die beim jeweils anderen Zirkel nicht enthalten sind. Da – wie oben erwähnt – keine klassenanalytischen Befunde in die Programme aufgenommen wurden, hängen die Aktionsforderungen wie z.B. „Geschützte Arbeitsverhältnisse für alle“  (RSB) oder „Verteilung der Arbeit auf alle“ (SAV) sozusagen klassenneutral in der Luft. Und da die GenossInnen als Zirkel (!) unbedingt an allen Klassenfronten praktisch präsent sein wollen, werden Losungen für Bereiche („Kein inländischer Flugverkehr“ – RSB oder „Einstellung von 25.000 LehrerInnen jährlich“ – SAV)  ausgegeben, wo die LeserInnen nur noch spekulieren können, was das mit dem Aufbau einer revolutionären Partei/Organisation (so beider Zirkel Ziel) zu tun haben soll.

Kurzum: Das jeweilige Sammelsurium von Aktionslosungen folgt keiner inneren Logik, die ihre Grundlage in einer Klassenanalyse der BRD hat und die Erfahrungen der (Teil-)Kämpfe der proletarischen Klasse aufnimmt, sondern versucht nur, besonders mit besonders weitreichenden Forderungen gegen die Politik der bürgerlichen Parteien zu agitieren.

Auf der anderen Seite gehören beide Zirkel zu zwei (von mindestens vier) miteinander weltweit konkurrierenden trotzkistischen Strömungen. Von daher ist es verständlich, dass sie aus deren Fundus die Prinzipienerklärungen in ihr jeweiliges Länderprogramm aufnehmen. Daraus entstand - wie oben angesprochen – ein Mischprogramm. Dies mag den politischen Ansprüchen eines trotzkistischen Zirkels genügen, mir jedoch erscheint es als Strukturvorbild und ableitungstheoretisch für eine Grundsatzerklärung einer zu gründenden „antikapitalistischen Organisation“ ungeeignet.

Welches Programm braucht heute (2) eine Organisation, die aus einem Zusammenschluss von Zirkeln hervorgehen soll und mit der perspektivisch die Herstellung der proletarischen Klasseneinheit in der BRD möglich werden kann?  Gehen wir zur Beantwortung noch einmal in die russische Geschichte des Jahres 1899 zurück.

Die Partei der russischen ArbeiterInnenklasse war zwar 1898 proklamiert, aber sie besaß – abgesehen von einer 15 Jahre alten Prinzipienerklärung - kein Programm, auf deren Grundlage ihr Aufbau hätte erfolgen können.  Die Prinzipienerklärung hatte zur Sammlung der Kräfte, die sich gegenüber anderen sozialrevolutionären Kräften als marxistische Strömung abgrenzen wollten, gedient, nun ging es nach Lenin um den Parteiaufbau, daher:

„Um diesen Schritt tun zu können, brauchen wir ein Pro­gramm; das Programm muß unsere Grundanschauungen formulieren, unsere nächsten politischen Aufgaben genau festlegen, die nächsten Forderungen aufzeigen, die den Kreis der Agitationstätigkeit umreißen sollen, es muß ihr Einheit verleihen, muß sie dadurch erweitern und vertiefen, daß es die Agitation aus einem Stückwerk, einer partiellen Agitation für kleine, nicht zusammenhängende Forderungen zu einer Agitation für die Ge­samtheit der sozialdemokratischen Forderungen macht.“ (LW 4, S. 224)

Lenins Vorbild war daher explizit das Erfurter Programm der SPD von 1891, das ein so genanntes Mischprogramm („prinzipieller und praktischer Teil“ – Lenin) war. Jedoch wies er daraufhin, dass es nur nachgeahmt, aber nicht aus ihm abgeschrieben werden sollte, denn sonst würden die „Besonderheiten Russlands“ (patriarchalische Überreste, Bauernfrage) im praktischen Teil nicht zum Tragen kommen (siehe ebd. S. 229ff)

Wenn wir heute die Gründung einer antikapitalistischen Organisation diskutieren und am Anfang eines Parteibildungsprozesses stehen und uns nicht am Beginn eines Parteiaufbaus befinden (siehe dazu meine Referatsthesen), dann stehen wir bei der Behandlung der Programmfrage nicht vor dem Problem ein Mischprogramm erarbeiten zu müssen, sondern vor der Entscheidung, ob wir für so eine Organisation ein Prinzipienprogramm erstellen müssen oder nicht?

Wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, dass es im Hinblick auf die programmatischen Grundlagen für eine „antikapitalistischen Organisation“ unverhandelbare Punkte gibt (siehe dazu das „Schöneberger Papier“), dann bedeutet dies, dass es um den Zusammenschluss auf einer gemeinsam ideologischen Grundlage geht. Das heißt im Klartext: Die Debatte, die geführt werden muss, ist eine Prinzipiendebatte mit dem Ziel eine entsprechende Erklärung als vereinheitlichende Grundlage der zukünftigen Organisation zu erarbeiten. Damit wird die Theoriearbeit zur Hauptseite der politischen Betätigung.

Gehen wir dagegen davon aus, dass die Zirkel sich in ihrer Praxis besser aufeinander abstimmen wollen und dafür den organisatorischen Rahmen „antikapitalistische Organisation“ für ein Mindestmaß an Verbindlichkeit brauchen, dann benötigen sie eine Auflistung der gesellschaftlichen Konfliktfelder, in die intervenieren wollen, und eine Art von Plan für gemeinsame Aktionen, verbunden mit abgesprochenen Parolen. Letzteres in Gang zu setzen, braucht es Kenntnisse der BRD-Klassenstruktur und Konfliktkonstellationen sowie Untersuchungen des subjektiven Faktors. Und dennoch bleibt bei diesem Ansatz die Praxis die Hauptseite der politischen Betätigung.

Damit stehen wir vor dem alten Grundproblem, dass der revolutionären BRD-Linke seit Dezennien immer mal wieder ins Bewusstsein tritt. Was soll die Hauptseite sein? Theorie oder Praxis?

Ende Teil 2

*) Sommerzeit ist für mich auch Urlaubszeit, so dass dann meine Schwerpunkte nicht unbedingt auf dem Gebiet der Publizistik liegen. Ich bitte daher um Verständnis, dass ich hier nur einige Punkte anspreche. Doch ich denke, aufgrund der vielen Mühe, die sich Genosse „DGS“ mit meinem Text gemacht hat, dass ihm eine ausführliche Antwort zusteht. Ich werde sie in Teilen liefern.

Der dritte und letzte Teil wird die Frage nach dem Verhältnis von Klassenanalyse und Programm behandeln und dazu näher auf die Problematik des Verhältnisses von Theorie und Praxis eingehen; insbesondere auf die Feststellung des Genossen Schulze, dass heute „die theoretischen Bedingungen eher besser“ sind als zur Zeit der Gründung der K-Gruppen.

Anmerkungen 

1) Das Übergangsprogramm der 4. Internationale ist - abgesehen von dem Abschnitt „Die UdSSR und die Aufgaben der Übergangsperiode“ -  seit 1938 (!!!!)  sozusagen die Bibel aller trotzkistischen Organisationen, weil damit die strategischen Grundlinien der proletarischen Revolution unter den Bedingungen des imperialistischen Kapitalismus von Trotzki angeblich richtig bestimmt sind. Aus diesem ideologischen Bezugsrahmen sollen unter Führung der Zentrale der 4. Internationale  trotzkistische Gruppen und Parteien, so sie denn der 4.  Internationale angehören, die jeweiligen Länderprogramme ableiten.

2) Es besteht zunächst subjektiv betrachtet kein zwingender Grund ein Programm aus solchen oder jenen Teilen zu erstellen. Allerdings beanspruchen MarxistInnen, dass ihr Programm grundsätzlich auf wissenschaftlichen Grundlagen fußt. Diese Fundamente sind nichts anderes als der mehr oder minder gelungene Versuch - gestützt auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie - die aktuellen Klassenverhältnisse verallgemeinert widerzuspiegeln und daraus das Programm und die nächsten Aufgaben abzuleiten. So sind halt auch Konstellationen des Klassenkampfs denkbar, wo ein hauptsächlich konkretes Programm - wie das Gründungsprogramm der KPD 1918/19, für eine Etappe ausreichend sein kann. Im Übrigen ist das so genannte Programm der KPD auf dem Gründungsparteitag nicht beschlossen worden, sondern es wurde beschlossen,  die Rede der Genossin Luxemburg, welche mit dem Programm identisch ist, als Agitationsbroschüre herauszugeben. Siehe dazu: Kommunistische Partei Deutschlands Protokoll des Gründungsparteitages

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe