Editorial
Postfaktisch

von Karl-Heinz Schubert

01/2017

trend
onlinezeitung

Am 9. Dezember 2016 meldete die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), dass sie "postfaktisch" zum Wort des Jahres gekürt hat. Folgt mensch den Erläuterungen für diese Entscheidung, dann drängt sich der Eindruck auf, dass es sich hier um einen ideologischen Befreiungsschlag handelt, um die Hausse der politischen Legitimationsverluste des bürgerlichen Lagers zu kappen:

"Das Kunstwort postfaktisch verweist darauf, dass es heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen »die da oben« bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der »gefühlten Wahrheit« führt zum Erfolg."

Kurzum: Ein deutlicher Fingerzeig der Ideologie produzierenden Bedienstetenklasse an das politische Personal bei der Vermittlung ihrer Praxen von "gefühlter Wahrheit" selber mehr Gebrauch zu machen.

Aber nicht nur das! Da wir laut GfdS in einer "neuen Epoche" leben:

"Die Wortbildung postfaktisch könnte auf den ersten Blick befremdlich erscheinen...  Zugrunde liegt aber, ähnlich wie bei Postmoderne oder Poststrukturalismus, die Vorstellung einer neuen Epoche."

ist die Abkehr von einer klassisch bürgerlichen Politik, die sich der Aufklärung als "Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit" (Kant) verbunden fühlt, für die politische Klasse zur zwingenden Notwendigkeit geworden. Damit sich die bürgerliche Gesellschaft so reibungslos wie möglich reproduziert, muss den werktätigen Massen halt beigebracht werden, dass Lohnarbeit zu verrichten heute bedeutet, sich von der Schwere des Faktischen der Lohnarbeit gedanklich zu lösen und an deren Stelle die medial generierte Leichtigkeit eines Bewußtsein zu platzieren, wo die Klassenindividualität von der persönlichen abgespalten und ausgelöscht wird.

Bedauerlicherweise gelingt es der bundesdeutschen Linken immer noch nicht, diesen wirkmächtigen Spintisierereien ein schlüssiges materialistisches Gesellschaftsbild entgegen zu stellen, das - ausgehend von der Faktizität des Lohnsystems - dessen praktische Aufhebung  zum Gegenstand hat. Sie verzichtet lieber darauf, sich für diesen ideologischen Kampf zu qualifizieren und bejubelt stattdessen die gefühlten Wahrheiten eines Didier Eribon; oder nutzt den nostalgisch verklärten Blick auf gescheiterte sozialistische Projekte als narratives Surrogat. Im schlimmsten Fall reicht es hier nur noch zur G(l)osse.

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Mit dem 31.12.2016 endete TREND's 21. Erscheinungsjahr. Begonnen hatten wir es, anläßlich von TREND's 20. Geburtstag, mit einem Veranstaltungswochenende, dessen Fahrplan von der Redaktion in Kooperation mit den Herausgeber*innen erstellt worden war. Auch hier ging es  um Fragen des ideologischen Kampfes. Speziell vermittelt durch die Veranstaltungen von Georg Klauda und Detlef G. Schulze. Einen guten Überblick über 20 Jahre TREND gab es zudem durch eine kleine "Diashow".

In den folgenden Monaten sollten uns weiterhin Fragen des ideologischen Kampfes beschäftigen. Als einer der Höhepunkte sind hier die Veröffentlichungen zum 50. Jahrestag der chinesischen Kulturrevolution zu nennen, abgerundet durch sehr gut besuchte  Veranstaltungen, worin die Rezeption der Mao Tse-tung Ideen im Kontext der 68er Bewegung vorgestellt wurde. 

In der zweiten Jahreshälfte geriet der Eribon-Hype ins Zentrum unserer theoretischen Bemühungen. Eine entsprechende TREND-Veranstaltung vertiefte meine Vorstellung des Eribonschen "Rückkehr-Buches" in "Dr. Seltsams Wochenschau".

Sang- und klanglos hatte sich im Frühjahr 2016 das Nao-Projekt von der Kleinbühne linksradikaler Bemühungen verabschiedet. Auch hier gab es unsererseits Bemühungen, eine Aufarbeitung anzuschieben, wo das in der NaO unbegriffene dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis reflektiert wird. Die relativ gut besuchte Veranstaltung erwies sich im Hinblick darauf als Flop. Zu sehr dominierten gefühlte Wahrheiten - durch die Froschperspektive des eigenen Minizirkels geformt.

Doch was wäre TREND ohne seine Autor*innen?

2016 gab es eine Menge Artikel, die sich durch Sachkenntnis und politisch-theoretische Seriosität auszeichneten. Und wieder herausragend: Bernard Schmid und seine Frankreich-Berichte. Allein in den Monaten März bis August informierte Bernard in gut 50 Artikeln "just-in-time" über den Widerstand gegen die sogenannte "Arbeitsrechtsreform.

Von hier aus: Ein dickes  Dankeschön an Euch alle!

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Ein beliebtes Feld des Postfaktischen ist für bestimmte Spielarten des politischen Marxismus zweifellos die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung. 2016 stand allweil der spanische Bürgerkrieg, der 1936 ausbrach, im Zentrum der Erinnerungen. Dass parallel dazu die Moskauer Prozesse liefen und die in der Komintern zusammengeschlossenen Parteien abweichende Ansichten ihrer Genoss*innen nicht nur nicht duldeten, sondern die Genoss*innen als fünfte Kolonne des Faschismus in ihren Reihen diffamierten, ausschlossen, verfolgten und umbringen ließen, war kaum einer Erwähnung wert. Stattdessen wurde das hohe Lied vom aufopferungsvollen Kampf gegen den Faschismus ohne solche Misstöne angestimmt. In dieser Ausgabe wollen wir jenem postfaktischen Konstrukt aus halben Wahrheiten mit Fakten entgegentreten. Wir erinnern daher exemplarisch im Hinblick auf diesen Verfolgungswahn an jene 242 Genoss*innen, die - faschistisch verfolgt - in die Sowjetunion emigrierten und dort ab 1936 umgebracht bzw. an die Nazis ausgeliefert und von diesen ermordet wurden.

Der vor 60 Jahren in Ungarn brutal niedergeschlagene Aufstand erhielt in den linken Spektren noch weniger Aufmerksamkeit. Wir sind den Genoss*innen von "Klasse gegen Klasse" dankbar, dass sie den lesenswerten Artikel von Hovhannes Gevorkian "Das Martyrium der ungarischen Arbeiter*innenklasse" veröffentlichten. Wir spiegeln ihn in dieser Ausgabe.

Für 2017 steht zu befürchten, dass der 100. Jahrestag der Oktoberrevolution nur der Affirmation dient, um die eigene Organisation als würdige Erb*in zu inszenieren, anstatt dieses historische Ereignis zu nutzen, um durch eine kritisch-sachdienliche Aufarbeitung zu einer Strategie der Aufhebung des Kapitalismus auf einer analysierten "Höhe der Zeit" zu gelangen. Wir werden mit unseren geringen Kräften versuchen, hierfür einen Beitrag zu leisten.

Am 2. Juni 1967 wurde Benno Ohnesorg bei einer Demonstration von dem westberliner Polizeibeamten Kurras, der auch auf der Gehaltsliste der DDR-Stasi stand, erschossen. Diese brutale Tat war für viele, die die sogenannte 68er Bewegung bildeten, ein Schlüsselerlebnis. Anknüpfend an unser Engagement für den "Benno-Ohnesorg-Kongress 1997" wird  "68" ab Mitte 2017 ein Schwerpunktthema von TREND werden. Im bürgerlichen Mainstream und in der linken Erinnerungskultur ist mit entsprechender Legendenbildung zu rechnen - es wird viel zu tun geben, dem Postfaktischen ein wenig entgegen zu treten. 


screenshot vom 4.1.2017 / 90 % der Besuche erfolgen bei TREND