Editorial
Geschichte und Klassenbewußtsein revisited

von Karl Müller

05/2016

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Im Februar 2016 wurde Georg Klauda vom TREND-Herausgeberkreis AKKA zu einer Diskussion über sein Referat "Haupt- und Nebenwiderspruch revisited", das er auf dem 20 Jahre TREND-Veranstaltungswochenende gehalten hatte, eingeladen. Hieraus entwickelte sich mit Georg Klauda eine Diskussion über seine Darstellung der Kritischen Theorie, in der von  Karl Reitter herausgegebenen Aufsatzsammlung "Karl Marx". Dabei beschäftigte sich der Arbeitskreis auch mit der darin von Georg Klauda kritisierten Lukács Schrift "Geschichte und Klassenbewußtsein"(G&K), die als das Schlüsselwerk des westlichen Marxismus gilt.

In der zeitgenössischen Rezeptionen von "G&K" wird zwar erwähnt, dass es sofort nach Erscheinen von "G&K" (1923) seitens der Komintern erhebliche Einwände gegen die darin propagierte Lesart des "Marxismus", gegeben hat - auch werden Namen bisweilen genannt (Deborin und Rudas) oder auch nicht wie bei Wikipedia, doch sowohl Deborins Lukács-Kritik als auch die von Rudas sind heutzutage schwer zu bekommen. Sie wurden nur für kurze Zeit als Raubrucke in der 1970er Transformationsphase der Jugend- und Studentenbewegung verbreitet.

Die heutige Abwesenheit dieser Texte in linken Diskursen erklärt sich schlicht aus der politischen Diagnose von Georg Klauda, dass nämlich mit der Kritischen Theorie ein Marxismus ohne Klassen gefeatured wird, der seinerseits in der deutschen Linken den Mainstream bildet. Kritiker wie Deborin und Rudas haben eben halt als Verteidiger des dialektischen Materialismus gegen Lukács idealistische Geschichtskonstruktion von Klasse und Bewußtsein  in solchen Diskursen nichts zu suchen. In dieser Ausgabe beginnen wir daher, um dieser Verdrängung zu begegnen, unter dem Stichwort Lukács-Debatte mit der Veröffentlichtung der ausgegrenzten Texte von Rudas und Deborin.

Der erste Text, getitelt "Orthodoxer Marxismus", stammt von Ladislaus Rudas  aus dem Jahre 1924 und setzt sich mit dem auseinander, was Lukács als seinen "Marxismus" definiert. Desweiteren tritt Rudas der Lukács'schen Kritik an Friedrich Engels entgegen und zeigt auf, wie Lukács dessen philosophische Aussagen falsch deutet.

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"Keine Atempause Geschichte wird gemacht" lautete die Liedzeile eines in den 1980er Jahren beliebten Songs der Rockgruppe Fehlfarben. Hausbesetzungen, die Verhinderung von flächendeckendem Altbauabriß, das Entstehen der autonomen Bewegung in den freigekämpften selbstverwalteten Nischen, das war der Stoff, der diesem Song als ideologischer Subtext diente - und eine folgenschwere Verwechselung beförderte: Tatsächlich wurden in jenen Jahren viele - auch prägende - linke Geschichten gemacht, aber leider keine Geschichte. Die Geschichtsschreibung der radikalen Linken kennt diesen Unterschied offensichtlich nicht und hält das Alltägliche-sich-wehren in gesellschaftlichen Widersprüchen für die Produktion von Geschichte. Für dieses Missverständnis steht exemplarisch die  "Antifaschistische Koordination 36", die letztes Jahr ihre Gründungserklärung just mit diesem Fehlfarbenslogan labelte und den Text mit der Parole abschloss: Seite an Seite gegen den Faschismus! Lasst uns Geschichte schreiben!

Was aber ist Geschichte? Das ist die Geschichte von Klassenkämpfen, heißt es resumierend im Kommunistischen Manifest. Und im "Elend der Philosophie" (MEW 4, 180f) hatte Marx in diesem Sinne zuvor entwickelt: "Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst." Dass aus den Kämpfen der proletarischen Klasse ein Klassenkampf wird - wodurch das Proletariat (seine) Geschichte schreibt, setzt jedoch voraus, dass sich die "Leute" für ihre Interessen zusammenschließen, um so gemeinsam den Kampf als Kampf ihrer Klasse zu führen.

Die Geschichte würde jedoch im Kreise laufen und bliebe auf eine Ansammlung von Geschichten reduziert, wenn dieser Klassenkampf nicht auf die Aufhebung des Kapitalismus zielte: "Eine unterdrückte Klasse ist die Lebensbedingung jeder auf den Klassengegensatz begründeten Gesellschaft. Die Befreiung der unterdrückten Klasse schließt also notwendigerweise die Schaffung einer neuen Gesellschaft ein. Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muß eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst." (ebd.)

Blicken wir nach Frankreich und verfolgen - dank Bernard Schmids informativer Berichterstattung - die seit Februar 2016 sozial immer breiter werdenden Kämpfe gegen die "Arbeitsrechts-„Reform“, so erhalten wir hier ein Lehrstück zum marxistischen Geschichtsbegriff. Im Kampf gegen die Verschlechterung der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft schließen sich die Leute - ihre Sonderinteressen hintanstellend - zum gemeinsamen Kampf zusammen. Die sinnliche Erfahrung ihres Kampfes als Klassenkampf trägt den Keim in sich, das Bewußtsein zu befähigen, den Schleier der kapitalistischen Fetische als Klassenbewußtsein zu durchbrechen - Geschichte wird machbar.

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In dieser Ausgabe stellen wir das Selbstverständigungpapier der Antikapitalistischen nichtweißen Gruppe im Aufbau vor. Mit diesem Papier will die Gruppe sich  programmatisch "antikapitalistisch" aufstellen. Dazu definiert sie den Kapitalismus als eine widersprüchliche Gesellschaft, wo "ganz viele Menschen" jeden Tag arbeiten und "dabei einen unglaublichen Reichtum" produzieren, der jedoch im Gegensatz dazu  privat angeeignet wird. Jener Widerspruch ist für sie der "Hauptwiderspruch", auf dem alle anderen "Unterdrückungsformen" als "Nebenwidersprüche" aufbauen. Kurzum: Ihre antikapitalistische Politik soll durch eine per Definition bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit in Gang kommen.

Mal abgesehen davon, dass hier der Hauptwiderspruch mit dem Grundwiderspruch verwechselt wird und damit die gesamte gedankliche Konstruktion im Hinblick auf das Verhältnis von Haupt-und Nebenwiderprüchen missrät, zeigt sich im Umkehrschluss, dass die Fähigkeit, den Kapitalismus als historischen Prozess zu analysieren, voraussetzt, die Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen zu begreifen. Dies wird allerdings nicht gelingen, wenn bei der begrifflichen Verarbeitung der klassengesellschaftlichen Wirklichkeit nicht von dieser, sondern stattdessen von den angeblich nicht zutreffenden Definitionen andere politischer Gruppen ausgegangen wird.

Und schließlich gilt es zu beachten, worauf Marx in seiner Hegelkritik hinweist:

"Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen."