Texte zu Klasse & Partei
Die Auffassungen Rosa Luxemburgs
Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung (Teil 3)

Diskussionsvorlage des ZK der KPD (1979) 

05/2016

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Die Position Rosa Luxemburgs ist für uns aus zwei Gründen bedeutsam: Einmal ist sie innerhalb der Sozialdemokratie und der 2. Internationale eine der bedeutendsten Theoretikerinnen gerade auch in der Organisationsfrage, scharfe und hellsichtige Kritikerin der verbürgerlichten, bürokratischen Apparate, der ,,Schulmeister der Revolution", denen sie die ausschlaggebende Rolle und die Selbständigkeit der Massen entgegenstellt. Zweitens aber wird Rosa häufig — gerade in ihrer Polemik gegen Lenin — als demokratische Alternative zum bürokratisch-zentralistischen Leninismus gesehen oder gar für Organisation -konzepte in Beschlag genommen, die mit Rosas Auffassungen nichts zu tun haben.
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Der Ausgangspunkt ihrer organisationstheoretischen Vorstellungen ist die Sozialdemokratie, deren Führung und Apparat zunehmend starrer, bürokratischer wurde. Gegenüber einer Vorstellung, die in der deutschen Sozialdemokratie die Einheit der Klasse als verwirklicht ansah, auf den graden Weg des Parlamentarismus und „ordentlicher" Verhandlungen statt „chaotischer" Massenstreiks und Massenkämpfe zum Sozialismus hoffte, setzte Rosa die Arbeiterklasse und die Massen als Schöpfer ihrer Geschichte ins Recht. Die Verbindung zum Denken Lenins („Alle Macht den Räten.'") und Mao Tsetungs („Die wahren Helden sind die Massen") ist offensichtlich. Gegenüber der Kritik von Seiten der modernen Revisionisten, aber auch gegenüber der Verurteilung des „Luxemburgismus"durch die KI und die KPD als spontaneistisch, gilt es gerade, an dieser Position Rosas festzuhalten und von ihr zu lernen. Denn die modernen Revisionisten kritisieren Rosa aus einer Position, die in der Partei die Klasse aufgehoben sieht und die Klasse zum Objekt der Behandlung durch das revisionistische Politbüro degradiert.

Rosa Luxemburg läßt sich aber auch nur durch Zurechtstutzen von SB-Theoretikern wie Negt zur historischen Zeugin einer „Struktur revolutionärer Praxis" erheben, die „Züge einer dezentralisierten Praxis" (Negt, Sozialismus..., S. 203) angenommen hätte. Schließlich war der Bezugsrahmen Rosas, die sozialdemokratische Partei, sogar zu stark, denn einer ihrer schwersten Fehler bestand ja darin, angesichts der Verbürgerlichung den revolutionären Flügel nicht früh genug aus der organisatorischen Umklammerung in der Sozialdemokratie herausgelöst zu haben. Der Kern des Denkens von Rosa läßt sich auch deshalb nicht für das Negtsche Konzept reklamieren (der natürlich auch auf die weit veränderten Bedingungen gegenüber Rosas Zeiten hinweist), weil die strategischen Vorstellungen Rosa Luxemburgs zwar gegenüber dem gradualistischen und reformistischen Konzept der SPD-Führung auf einen revolutionären Prozeß bauten, aber insgesamt sich doch im Rahmen der revolutionsstrategischen Vorstellungen der 2. Internationale bewegten, über die erst Lenin hinausging.

Die Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Lenin entzündet sich an den Auseinandersetzungen auf dem 3. Parteitag der SDAPR 1904, wo es um die Frage ging, ob jeder Streikende, Professor o.a. ohne Mitarbeit Mitglied werden konnte (wie es die Menschewiki wollten), oder ob eine Pflicht zur Mitarbeit bestehen sollte (Lenins Position). Lenin stellt diese Kontroverse in seiner Schrift „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" (Werke Bd. 7) dar. Rosa Luxemburg wendet sich in ihrer Schrift „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie" von 1904 gegen Lenins Position und wirft ihm vor: „Die Aufrichtung der Zentralisation in der Sozialdemokratie auf diesen zwei Grundsätzen — auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet — sowie auf der schroffen Abgrenzung des organisierten Kerns der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird — erscheint uns deshalb als eine mechanische Übertragung der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen. " (Luxemburg Werke Bd. 1/2, S. 429)

Rosa Luxemburgs Gegenargument gegen diese Abgrenzung lautet: "Tatsächlich ist die Sozialdemokratie aber nicht mit der Organisation der Arbeiterklasse verbunden, sie ist die eigene Bewegung der Arbeiterklasse. " (dgl.) Der Kern der Polemik ist die Frage, ob die politische Partei mit der Bewegung der Klasse identisch, „ihre eigene Bewegung"ist, wie Rosa meint, ob man wie-Lenin davon ausgeht, daß die politische Partei sowohl Teil der Klasse, wie etwas Besonderes mit ihr nur Verbundenes darstellt. Es geht also um die Rolle der Partei und ihre Beziehung zur Klasse.

Wenn Rosa sagt, „daß zwischen dem bereits in feste Parteikader organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und der bereits vom Klassenkampf ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung befindlichen Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann. "(a.a.O., S. 428f), so hat sie damit recht. Nur trifft dieser Hinweis Rosas das eigentliche Problem — und damit Lenins Position — gar nicht. Denn Lenin will keine „absolute Scheidewand"zwischen der Partei und der Klasse aufbauen. Ihm geht es um das Verhältnis zwischen der politischen Partei als selbständiger und gegenüber der Klasse besonderer Organisation und andererseits als Ausdruck der Klasse, in der sich die grundlegenden Interessen des Proletariats manifestieren. Lenin faßt dies als widersprüchliches Verhältnis, weil es in der Wirklichkeit mit den Schichtungen im Proletariat und anderen Faktoren so ist, während Rosa die Partei nur als unmittelbaren, direkten Ausdruck der (ganzen) Klasse sieht. Das entspricht aber nicht der Wirklichkeit und ist spontaneistisch.

1910 entwickelte Rosa Luxemburg die strategische Vorstellung der Verbindung des Proletariats mit dem demokratischen Kleinbürgertum, wobei der Massenstreik, die Verbindung des ökonomischen mit dem politischen Kampf dem Proletariat die Initiative sichern sollte.

Die Forderungen nach gleichem Wahlrecht (gegendas preußische Dreiklassenwahlrecht) und nach der demokratischen Republik mit dem Kampfmittel Massenstreik als Unterpfand — dies sah Rosa Luxemburg als Weg des Herankommens an die sozialistische Revolution in Deutschland Die Losung der Republik ist also in Deutschland heute unendlich viel mehrmals der Ausdruck eines schönen Traums vom demokratischen , Volksstaat'.. .sie ist ein praktischer Kriegsruf gegen Militarismus, Marinismus, Kolonialpolitik, Weltpolitik, Junkerherrschaft, Verpreußung Deutschlands...Die besten demokratischen Reformen sind aber nur kleine Etappen auf dem großen Marsch des Proletariats zur Eroberung der politischen Macht. " (nach „Ein anderes Deutschland", S. 232) Mit dieser Strategie kämpfte sie gegen die Revisionisten wie Bernstein, aber auch gegen Kautskys Zentrismus, der auf eine „Ermattungsstrategie" über Wahlen und immer weitere Vergrößerung von Wählerpotential und Mitgliedschaft baute (bis schließlich die SPD-Führung .ermattete'). Rosa erkannte den Revisionismus und Opportunismus auf der politischen Ebene und kämpfte gegen ihn, sie ging allerdings davon aus, daß die Verschärfung der Widersprüche diesen im revolutionären Prozeß beiseite drängen würde, und sie fühlte sich im Einklang mit der revolutionären Entwicklung, der sozialdemokratischen Massenbewegung. Ihr Fehler dabei war, die sozialökonomischen Veränderungen und auch die politischen Veränderungen in der Klasse hin zum Reformismus nicht analysiert zu haben. Den Revisionismus und Opportunismus begründete sie nur aus dem bürgerlichen Parlamentarismus und der Disziplinlosigkeit der Akademiker (Luxemburg, a.a.O., S. 437)

Die wirkliche Entwicklung zeigt Rosas Analyse der Lage in der Sozialdemokratie als Fehleinschätzung, weil die reformistisch-revisionistische Strömung sich als Hauptstrom erwies.

Rosa Luxemburgs Polemik mit Lenin über die Organisationsfrage muß einmal vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden Gemeinsamkeit des Kampfes gegen die Führung der 2. Internationale, wie sie im 1. Weltkrieg sich praktisch manifestiert, gesehen werden; zweitens aber auch im historischen Bezugsrahmen ihrer eigenen Vorstellungen. Für Rosa Luxemburg ist dies die Auseinandersetzung mit der bürokratischen Führungsschicht der Sozialdemokratie, die sie gegen „ Ultrazentralismus"etc. wettern läßt. Für Lenin ist dies die russische Situation, wo die Revolutionäre der gegenüber Westeuropa in ihrer Entfaltung — ökonomisch, politisch und kulturell — zurückgebliebenen Arbeiterbewegung politische und Bildungselemente zuführen mußten, einer sich entwickelnden, aber unreifen Arbeiterbewegung die marxistische Theorie zuführen mußten und damals konkret immer noch die Aufgabe anstand, aus zersprengten, ideologisch heterogenen marxistischen oder revolutionären Zirkeln eine einheitliche Organisation zusammenzuschweißen. Die Kritik aneinander wird so von Rosa und Lenin jeweils mit dem Blick auf ihre Bedingungen geführt, weshalb Lenin z.B. in seiner Antwort auch mehr von Mißverständnissen Rosas schreibt, als ihr widerspricht. Es ist deshalb auch ganz falsch, innerhalb dieser Polemik die Position einzunehmen, daß die Geschichte gezeigt hätte, daß Rosa doch recht hatte, und Rosa damit zu einer überhistorischen Figur des antibürokratischen Kampfes zu erklären.

Bereits der konkrete historische Zusammenhang steht quer zu diesem Versuch. Denn dieselbe Rosa, die den „Ultrazentralismus" Lenins angreift, befürwortet in der deutschen Sozialdemokratie ein Statut und Organisationsprinzipien, die weit zentralistischer sind als die Lenins von 1904. Der eigentliche und bis heute wichtige Kern der Kontroverse mit Lenin sind die organisationstheoretischen Vorstellungen zum Verhältnis Partei und Klasse, zur Einheit und zu den Spaltungstendenzen der Arbeiterklasse. Rosa erweist sich hier als die „orthodoxere Marxistin", und gerade deshalb hat sie ihm gegenüber unrecht, weil es in der Arbeiterbewegung nach 1900 angesichts der neuen Veränderungen darauf ankam, über Marx ebenso hinauszugehen wie über den theoretischen und revolutionsstrategischen Rahmen der 2. Internationale.

Lenin faßt dies als widersprüchliches Verhältnis, während Rosa einseitig die Faktoren betont, die gegenüber der Partei den Vorrang der Klasse betonen und die Partei nur als unmittelbaren und direkten Ausdruck der Klasse begreifen. Ein historischer Rückbezug auf Rosa im Sinne des Lernens kann sich deshalb nur auf den grundlegend richtigen Blick „von unten", auf die Klasse und die Massen, die die Geschichte vorantreiben, beziehen, nicht aber auf ihre Fehler und Einseitigkeiten, ihr Verhaftetbleiben im Organisationsmilieu der Sozialdemokratie und den theoretischen Vorstellungen der 2. Internationale.
 

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:  Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung, in: Theorie und Praxis 2/1979, Köln 1979, S. 24-27