Vierter offener Brief an den Sozialdemokraten
von Dr. Antonín Dick

07-2014

trend
onlinezeitung


Illustration von A.Dick
 

Berlin, den 30. Juni 2014

Sehr geehrter, lieber Herr Buchmann(*),

Ihre Antwort vom Februar 2014 auf meinen letzten Brief zum Fall Peter Huchel habe ich erhalten, komme allerdings wegen vielfältiger essayistischer Tätigkeiten für die Presse erst jetzt dazu, mich eingehend damit zu beschäftigen. Ich bitte Sie daher um Verständnis und will dafür ausführlich auf die von Ihnen aufgeworfenen Fragen antworten.

Sie schreiben gleich am Anfang: „Ich darf Ihnen versichern, dass uns/ mich in Hellersdorf niemand auf die Huchelkritischen Forschungen des britischen Literaturhistorikers Stephen Parker aufmerksam machte, als wir uns – über Monate hinweg und öffentlich – mit der Umbenennung der Abusch- in eine Peter-Huchel-Straße befassten.“
 

Wissen Sie, diese Wendung, im Lichte dessen betrachtet, was man gemeinhin Wiedervereinigung der Deutschen zu nennen pflegt, überrascht mich, denn entscheidend ist doch, dassdeutsche Nation lernt, auf neue Art geschichtlich zu handeln. Die eigene Erkenntnis, die eigene Selbsttätigkeit brauchen die Deutschen, um die Lehren ihrer Geschichte zu begreifen und zu erfüllen. Da werden Sie mir doch zustimmen, oder? Und um die eigene Selbsttätigkeit geht es doch letzten Endes? Das war doch auch der Impetus des sozialen und politischen Aufbruchs in der DDR, der dann – leider! – zum Verschwinden der DDR führte, nicht wahr? Und da kommen Sie mir mit der passiven Lieferhaltung kleinbürgerlicher Provenienz aus der nationalbolschewistischen Spätphase der DDR in den achtziger Jahre? Wo bleibt da Ihre Selbsttätigkeit? Ihre Eigeninitiative? Ihre eigene Willensäußerung? Sie hätten beispielsweise mich fragen können, der ich kürzlich, nämlich am 26./27. April, in meinem Essay „Das Dreigestirn“, veröffentlicht in der sozialistischen Tageszeitung „Neues Deutschland“, eine historisch-kritische Würdigung auch der tragisch verwickelten Gestalt eines begabten Lyrikers wie Peter Huchel vorgenommen habe. Dort habe ich schließlich die neuesten Forschungsergebnisse über Huchel, einschließlich der von Stephen Parker, dem Publikum vorgestellt. Warum haben Sie mich nicht gefragt, der ich mich schon seit Jahren mit der Stellung von Peter Huchel im nationalsozialistischen Gesellschaftssystem beschäftige? Ich hätte Sie ins Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde geschickt, wo Sie eigenständig die amtliche Akte des Peter Huchel der Reichsschrifttumskammer des Dritten Reiches hätten studieren können, was für einen öffentlichen Vorgang wie den eines Tausches des Straßennamens doch das Mindeste gewesen wäre, was man hätte tun müssen, meinen Sie nicht auch?

test

Zwischen August 2013 und Januar 2014 wurden drei offene Briefe "an den Sozialdemokraten" von Dr. Antonín Dick verfasst.

1. Brief  vom 23. August 2013
2. Brief  vom 29. Oktober 2013

3. Brief  vom 27. Januar 2014

Der 1. Brief setzte sich mit dem Faschismusbegriff des Sozialdemokraten Buchmann und dessen geschickt verpackten "Entgleisungen mit judenfeindlichem Hintergrund" auseinander.

Im 2. Brief kritisierte Dr. Antonín Dick, dass der Sozialdemokrat Buchmann, "in dem Hellersdorfer Straßennamenstreit den verfolgten Juden und aktiven Antifaschisten Alexander Abusch  gegen den Profiteur des Nazireiches Peter Huchel" ausgetauscht hat.

Im 3. Brief vertiefte Dr. Antonín Dick diese Kritik und hielt Buchmann vor, das er die "wertvolle autobiographische Erbe von Alexander Abusch ... in den Dreck der Rechten" stoße.

Zum Skandal der Berlin-Hellersdorfer Straßenumbenennung erschienen bei TREND folgende Artikel:

Wissen Sie, diese Wendung, im Lichte dessen betrachtet, was man gemeinhin Wiedervereinigung der Deutschen zu nennen pflegt, überrascht mich, denn entscheidend ist doch, dassdeutsche Nation lernt, auf neue Art geschichtlich zu handeln. Die eigene Erkenntnis, die eigene Selbsttätigkeit brauchen die Deutschen, um die Lehren ihrer Geschichte zu begreifen und zu erfüllen. Da werden Sie mir doch zustimmen, oder? Und um die eigene Selbsttätigkeit geht es doch letzten Endes? Das war doch auch der Impetus des sozialen und politischen Aufbruchs in der DDR, der dann – leider! – zum Verschwinden der DDR führte, nicht wahr? Und da kommen Sie mir mit der passiven Lieferhaltung kleinbürgerlicher Provenienz aus der nationalbolschewistischen Spätphase der DDR in den achtziger Jahre? Wo bleibt da Ihre Selbsttätigkeit? Ihre Eigeninitiative? Ihre eigene Willensäußerung? Sie hätten beispielsweise mich fragen können, der ich kürzlich, nämlich am 26./27. April, in meinem Essay „Das Dreigestirn“, veröffentlicht in der sozialistischen Tageszeitung „Neues Deutschland“, eine historisch-kritische Würdigung auch der tragisch verwickelten Gestalt eines begabten Lyrikers wie Peter Huchel vorgenommen habe. Dort habe ich schließlich die neuesten Forschungsergebnisse über Huchel, einschließlich der von Stephen Parker, dem Publikum vorgestellt. Warum haben Sie mich nicht gefragt, der ich mich schon seit Jahren mit der Stellung von Peter Huchel im nationalsozialistischen Gesellschaftssystem beschäftige? Ich hätte Sie ins Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde geschickt, wo Sie eigenständig die amtliche Akte des Peter Huchel der Reichsschrifttumskammer des Dritten Reiches hätten studieren können, was für einen öffentlichen Vorgang wie den eines Tausches des Straßennamens doch das Mindeste gewesen wäre, was man hätte tun müssen, meinen Sie nicht auch?
 

Sie werden mir doch sicherlich zustimmen mit meiner Forderung nach eigener Selbständigkeit? Ich gehe davon aus. Dann darf ich Ihnen auch zu Ihrer Aufklärung mitteilen, dass die gesamte Passage von „dass die deutsche Nation lernt …“ bis „die Lehren ihrer Geschichte zu begreifen und zu erfüllen“ von Ihrem Hassobjekt stammt, von Alexander Abusch, und zwar aus seinem Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte „Der Irrweg einer Nation“, herausgekommen beim Aufbau-Verlag Berlin, erstmals in Druck gelegt von „Mittag & Co.“ in Berlin-Lichterfelde, wo Huchel zur Welt kam und wo sich jetzt das Bundesarchiv befindet, im Jahre 1946 unter der Genehmigungsnummer 6366 der Viermächteregierung der Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition von Groß-Berlin, geschrieben im legendären mexikanischen Exil, nachzulesen auf der letzten Seite als Bilanz des Kampfes eines antifaschistischen Emigranten. Was nun offensichtlich im Widerspruch steht zu Ihrem bizarren Vorsatze, sich den Juden und Kommunisten Alexander Abusch zu Ihrem Intimfeind zu erküren. Aber was wollen Sie mit diesem Hass ausrichten? Wollen Sie sich damit gleichzeitig einen verspäteten Krieg gegen die Anti-Hitler-Koalition genehmigen? Sozusagen den ideologischen Werwolf geben fast 70 Jahre nach der militärischen Niederlage Hitlerdeutschlands?

Nun gut – der Reihe nach, und auch ohne zusätzliche Zuspitzungen unseres Konfliktes, der noch lange antagonistisch genug sein wird, um nicht wirkungslos im geschichtlichen Nichts zu verschwinden.

Empirisch auffällig ist, dass Sie Alexander Abusch durchweg in eine Negativgestalt zu verwandeln suchen, und zwar entgegen allen nachweisbaren Verdiensten, die sich diese Persönlichkeit in den Klassenkämpfen der Weimarer Republik erworben hat, entgegen allen Verdiensten, die sich diese Persönlichkeit im antifaschistischen Exil in Prag, Paris und in Mexiko erworben hat, entgegen allen Verdiensten, die sich diese Persönlichkeit als anerkannter politischer Autor erworben hat. Mit Letzterem meine ich nicht nur seine tagtägliche politische und kulturpolitische Publizistik, ich meine damit auch seine politikwissenschaftlichen Arbeiten wie eben die bereits erwähnte profunde Untersuchung über das politische Deutschland oder die von ihm mitverfasste Dokumentation „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror“ (Paris 1933) sowie seine literarischen Arbeiten, seinen Erzählungsband „Der Kampf vor den Fabriken“ (1926) und seine Vielzahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, abgesehen von seinen Exilerinnerungen, die ständig von beeindruckenden erzählerischen Passagen durchtränkt sind und zusätzlich beweisen, dass an ihm ein Erzähler von Rang verloren gegangen ist.

Alexander Abusch wird von renommierten Standardwerken und Standardeinrichtungen der Literatur gewürdigt, wie zum Beispiel vom Lexikon deutschsprachiger jüdischer Autoren, vom Archiv der Akademie der Künste, vom Literatur-Lexikon des Germanisten Walther Killy, vom Munzinger Biographie-Lexikon, vom Literarischen Führer Berlin, von Literaturport, einem Lexikon deutschsprachiger Autoren, geführt vom Literarischen Colloquium Berlin und von der Brandenburgischen Literaturlandschaft e. V. Sie, sehr geehrter Herr Buchmann, leugnen augenscheinlich diesen objektiven Sachverhalt berechtigter gesellschaftlicher Würdigung. Sie sprechen Alexander Abusch jede Daseinsberechtigung ab, ja, mehr noch. man kann gerade nach gründlichem Studium Ihres Schreibens vom 3. Februar 2014 ohne Übertreibung sagen, dass Sie gegen diesen Arbeiterfunktionär und diese einzigartige Gestalt der Politikgeschichte des 20. Jahrhunderts einen regelrechten ideologischen Vernichtungsfeldzug führen. Sie verbrennen ihn in effigie wie die mittelalterliche Kirche die Andersdenkenden, und es erhebt sich zwangsläufig die Fragestellung, was Sie antreibt, was dabei Ihr persönliches Interesse ist, Ihre subjektive Energie. Der Wunsch ist bekanntlich der Vater des Gedankens.

Was sind die Gründe für diese Strafaktion, die in der Eliminierung seines Namens aus dem öffentlichen Bewusstsein gipfelte? Dieser wichtigen Fragestellung gilt meine Erwiderung, und sie ist keine ideologische, sondern eine soziale.

Offen gestanden, ich glaube diesem Schilderkrieg nicht. Zugespitzt gesagt: Was Sie, für die Öffentlichkeit sichtbar, treiben, nämlich den Austausch des einen Straßenschilds gegen ein anderes, konkret, das Schild Abusch gegen das Schild Huchel, scheint mir lediglich eine Haupt- und Staatsaktion zu sein, die Sie bedienen, und da es hier um eine Schilderbewegung geht, an der Sie als Schilderträger maßgeblich beteiligt sind, wird man sehr schnell an das Höhlengleichnis des Plato erinnert, bei dem ja auch bemalte Schilder vorbeigetragen werden, um bei den Zuschauenden eine Täuschung über die Wirklichkeit zu erzielen. Was also ist die Wirklichkeit, mit der wir uns hier auseinanderzusetzen haben? Die reale, soziologisch nachweisbare Existenz des Schilderträgers Buchmann im Zeitalter der DDR wäre die Antwort. Kein wachsamer Zuschauer, der in der Buchmannschen Höhle hockt und dessen Bilder vorbeihuschen sieht und nicht vom Gedanken durchzuckt wird, dass sich hinter dem künstlich aufgebauten Gegensatze zwischen Abusch und Huchel in Wahrheit eine objektive Widerspruchssituation versteckt, die ans Tageslicht gezerrt werden muss bzw. dadurch offenbar wird, dass man aus der Höhle rennt und in der Realität zu suchen beginnt. Und als erstes Ergebnis dieser Suche stellt sich heraus: Es ist ein Werk der Täuschung, dass Sie aufführen, sehr geehrter Buchmann, denn weder haben Sie etwas mit dem Mut eines Alexander Abusch noch etwas mit dem des Peter Huchel zu tun, und es geht bei unserem Konflikt mitnichten um den von Ihnen inszenierten Schilderkrieg Huchel versus Abusch, sondern um den Widerspruch zwischen der Buchmannschen Existenz in der DDR und den beiden einzigartigen Vorbildern Huchel und Abusch, die diese Existenz, jedes auf seine Weise, in Frage stellen.

Beweis:

Unsere Wege in der DDR, sehr geehrter Herr Buchmann, haben sich mehrfach gekreuzt. Ich durfte Ihre Lebensbahn ein wenig mitverfolgen. Zeitgleich haben wir in Leipzig studiert: Sie am Bereich Kulturwissenschaft der Sektion Marxistisch-Leninistische Philosophie an der Karl-Marx-Universität zu Leipzig, ich an der Abteilung Theaterwissenschaft der Theaterhochschule „Hans Otto“ zu Leipzig. Studenten Ihres Bereichs hörten teilweise Vorlesungen an der Theaterhochschule, und ich hatte zu einem kleinen Teil dieselben Lehrkräfte wie Sie in Ihrem Bereich Kulturwissenschaft. Als ich mit meinem Studium begann, inszenierte ich zusammen mit Arbeitern des Leipziger Drehmaschinenwerkes kritische Szenen zur sozialen Lage der Arbeiterklasse in der DDR. Und darüber lernte ich Ihren Kommilitonen Peter Grünstein kennen, mit dem sich – er ist ein jüdisches Emigrantenkind wie ich – freundschaftliche Beziehungen herauszubilden begannen. Er besuchte die Premiere, diskutierte dort, zeigte sich wach und an der Aufdeckung systemimmanenter Widersprüche der DDR interessiert. Sie enthielten sich dieser unbequemen Besichtigung, obwohl Sie von 1960 bis 1962 just in dieser Fabrik als Transportarbeiter gearbeitet haben. Prinzipiell wäre hier zu fragen: Warum hatte diese Verwurzelung in der Arbeiterschaft der DDR keine Folgen für Sie gehabt? Im Herbst 1965 organisierte ich an der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst ein Konzert von Wolf Biermann, der ebenfalls mit Verve und Witz die Frage nach der Lage der Arbeiter in der DDR stellte. Es war sein letztes offizielles Konzert in der DDR, was weder Biermann noch ich zu diesem Zeitpunkt wissen konnten. Ich wollte die offene Diskussion über Grundfragen des Arbeiter-und-Bauern-Staates nach Errichtung der Mauer, die erst vier Jahre zurücklag. Peter Grünstein half mir dabei, denn er war an dieser öffentlichen Debatte außerordentlich stark interessiert. Auftritt und anschließende Diskussion wurden ein großer Erfolg, denn beides traf genau den Zeitgeist jener spannungsgeladenen geschlossenen und zugleich erstaunlich offenen Jahre. Biermann lud ich nämlich nicht zuletzt wegen eines nach Hegel und Heine riechenden Verses aus seinem Lied „Warte nicht auf bessre Zeiten“ nach Leipzig ein, der so geht:

Und das beste Mittel gegen
Sozialismus (sag ich laut)
Ist, dass ihr den Sozialismus
AUFBAUT !!! Aufbaut! (aufbaut)

Doch in der anschließenden Diskussion stellte ich dem politischen Bänkelsänger auch unbequeme Fragen zum Germanozentrismus, dem er leider immer wieder verfiel, wie übrigens auch sein Freund Robert Havemann, obwohl dieser während der Nazizeit in einer Widerstandsgruppe tätig war, die den Namen „Europa“ trug. Hier schwieg des Sängers Unhöflichkeit. Er wollte mich einfach nicht verstehen. Für mich war die DDR kein nationales Projekt, sondern einzig und allein ein soziales mit internationaler Fundierung. Bei ihrer Gründung lag der deutsche Faschismus gerade einmal vier Jahre militärisch am Boden.

Und nun unsere Differenz, sehr geehrter Herr Buchmann, die Ihre Existenz betraf, nicht Ihre nachträglichen Gedankensysteme und Verlautbarungen. Im Zusammenhang mit diesem aufsehenerregenden gesellschaftlichen Ereignis in Leipzig wurde ich von der Theaterhochschule relegiert, denn Biermann erhielt inzwischen Auftrittsverbot. Das hier wichtige Ereignis, das Sie, sehr geehrter Herr Buchmann unmittelbar betraf, war Ihr feiges Nichterscheinen zum Biermann-Konzert. Obwohl durch Peter Grünstein informiert und instruiert (wir hatten fest vereinbart, dass er für Konzert und Debatte auch im Bereich Kulturwissenschaft politisch interessierte Teilnehmer gewinnt), haben Sie, wohlwissend, was die Teilnahme an der Biermann-Veranstaltung für ein hohes Risiko für das persönliche Fortkommen bedeutet, es vermieden, durch persönliches Erscheinen bzw. aktives Auftreten in der dann folgenden Diskussion Mut zu beweisen. Der Erhalt des Studienplatzes hatte für Sie Vorrang gegenüber dem offenen Eintreten für die offene Debatte, die in der DDR während jener Phase so lebensnotwendig war. Sie hatten eine lebenspraktische Entscheidung getroffen. Und die ideologischen Rollkommandos, die dann die Leipziger Studentenschaft durchkämmten, schienen Ihnen ja – vom Standpunkt Ihres individuellen Erhaltungssatzes – auch Recht zu geben.

Etwa zeitgleich waren wir dann in Berlin, ich am Deutschen Theater Berlin und dann als Doktorand am Bereich Philosophie und Wissenschaften der Sektion Marxistisch-Leninistische Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin, Sie als Sektorenleiter beim Präsidium des Kulturbundes der DDR, dem Alexander Abusch ab 1972 als Vizepräsident, ab 1975 als Ehrenpräsident vorstand. Sie kannten also Alexander Abusch persönlich aus Ihrem Arbeitszusammenhange. Er war Ihr Vorgesetzter, sehr geehrter Herr Buchmann, mit allen folgenreichen Befugnissen und möglichen Konfliktsituationen. Denn auch in Berlin gab es offene, ins Reich der Öffentlichkeit vorstoßende Ereignisse und Manifestationen, zu denen man sich so oder so verhalten konnte, also persönliche Entscheidungen getroffen hatte, die oft ein hohes Risiko für die eigene Existenz in sich bargen.

Seit dem Helsinki-Abkommen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Jahre 1975 und der darauf folgenden allgemeinen Aufbruchsstimmung in der DDR gab es eine Reihe von offenen Widerstandsaktionen im kulturellen Bereich. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die weltweit geachteten und politisch unangepassten Theaterexperimente eines Benno Besson an der Berliner Volksbühne. Ich erinnere an die unabhängige Jugenddemonstration im Jahre 1976 aus Anlass des 7. Oktober auf dem Berliner Alexanderplatz. Ich erinnere an die verschiedenen politischen Aktionen, Theaterperformances und Formen offenen Widerstandes in den Aufbruchsjahren seit der Solidarnosc-Bewegung. Auch übrigens derjenigen aus den Reihen der Berliner Arbeiterschaft. In diesem Zusammenhang denkt man, was Berlin anbetrifft, vor allem an die Umwelt-Bibliothek in der Evangelischen Gemeinde der Zions-Kirche, an die alternativen Punk-Konzerte in der Zions-Kirche, an die großen Musik-Kundgebungen der Berliner Arbeiterjugend vor dem Brandenburger Tor, an die Performances des Arbeitertheaters des KWO gegen einen Atomkrieg, an den wunderbaren Evangelischen Kirchentag von 1987 in Berlin, der eine ganze Stadt umzukrempeln schien, und an die vielen öffentlichen Veranstaltungen eines autonomen und engagierten Liedschaffens in der DDR. An keinem dieser wichtigen Orte politischer Manifestationen offenen widerständigen Verhaltens sind Sie, sehr geehrter Buchmann, gesehen worden. Sie haben sich auf Selbsterhalt getrimmt, nicht auf Teilnahme an den kollektiven Bemühungen um gesellschaftliche Veränderungen der immer kritischer werdenden Lage in der DDR, nicht auf grundlegende Veränderungen für die soziale Lage der Arbeiterschaft, nicht auf risikoreiche individuelle Teilnahme an diesen Veränderungen, die Ihre gesamte Persönlichkeit gefordert hätte. Im Prinzip haben Sie dem Status quo gedient – also dem, was auch Alexander Abusch am Herzen lag. Das ist keine Verurteilung, sondern eine Tatsachenfeststellung. Und kein geringerer als Sie selbst hat dies auch nachträglich so präzise dokumentiert.

In Ihren umfangreichen „Annotationen zum Umgang mit der DDR-Geschichte“, niedergeschrieben als Vorwort zu einer kürzlich publizierten Anthologie mit unangepassten, illegalen DDR-Texten, haben Sie indirekt fast so etwas wie ein öffentliches Schuldeingeständnis abgelegt zu der Frage nach Ihrem fehlenden gesellschaftlichen Engagement, wenn Sie in vielkurvigen Sprachschleifen, eleganten Satzperioden und eigentümlichen Huckepacksätzen, bei denen man nie sicher ist, ob die Wahrheit die Unwahrheit trägt oder umgekehrt, gegen die unleugbaren Tatsachen der Geschichte anzuschreiben versuchen, nur um Ihre völlig willfährige Rolle im Gesellschaftssystem der DDR zu rechtfertigen. Und so fällt dann auch Ihr apologetisches und zusammengelogenes Resümee aus: „Widerständiges war selten offener Widerstand. Der war nach dem 17. Juni 1953 und dem Mauerbau für jeden Realpolitiker unter den internen Kritikern der DDR obsolet geworden. Widerständiges war zu unterschiedlichen Zeiten auf Grund unterschiedlicher Rahmenbedingungen Unterschiedliches. Häufig war es ‚nur‘ der vergebliche Versuch, aus dem ‚Realsozialismus‘ mehr wirklichen Sozialismus zu machen. Und Menschen wie ich hatten kaum mehr als einen Beitrag zu dem zu leisten versucht, was man in Polen die ‚Entlügung‘ der Geschichte nannte. Da jedoch war bei mir der Glauben an den steten Tropfen und dessen Macht niemals verloren gegangen. Erst im Herbst 1989 war die gesellschaftliche Situation in der DDR sichtbar eine andere geworden. Unter dem Dach der evangelischen Kirche waren in den achtziger Jahren kleine Gruppen neuer ‚Berufsrevolutionäre‘, die ‚Bürgerbewegung‘ entstanden, die – von Honecker nicht mehr völlig unterdrückt, allerdings z. T. übel traktiert – sich an die Spitze des Aufbruchs zu setzen verstanden, als die Gesellschaft dann auf einmal ziemlich rasch zu beben begann. Es war zudem in jenen Jahren eine neue junge Generation herangewachsen, die in der DDR der Politbüro-Greise keine Zukunft mehr für sich sah und das Land über unvermittelt sich öffnende Tore kurz zuvor in Scharen verlassen hatte, oder die im Inland gleich danach mit der Forderung nach einer neuen Politik auf die Straße ´gegangen war, weil für sie die Erfahrung des 17. Juni 1953 nicht mehr prägend war.“ Um Himmels Willen, sehr geehrter Herr Buchmann, was machen Sie da? Sie reden sich um Kopf und Kragen gegenüber den auf der Hand liegenden Erfahrungen und gesicherten Erkenntnissen der Zeitgeschichtsforschung! Gegenüber denjenigen, die Sie direkt oder indirekt kennen!

Doch mit Verlaub gesagt, sehr geehrter Herr Buchmann, mir ist kein Text aus der Zeit nach dem Mauerfall bekannt, der so voller Apologie steckt, so voller Rechtfertigungsbewusstsein, um die eigene Feigheit zu bemänteln wie dieser – Feigheit in Hinblick auf die Verantwortung als Intellektueller für die prekäre Situation der Arbeiterschaft in der Spätphase der DDR. Und als ob Sie Ihrer Apologie noch die Krone aufsetzen wollten, eine Krone aus all dem Papier, das herhalten musste für Ihre unzähligen Proben unnützen Vollkritzelns mit Systemanpassungsgerede, setzten Sie dieser zum Himmel schreienden Apologie noch eine Bemerkung über ein angebliches eigenes Beben voran: „1988 hatte ich … über Leben und Wirken … des Ehrenbürgers X … zu forschen begonnen … Inspiriert durch das harte Schicksal eines seiner Vertrauten schrieb ich im ersten Halbjahr 1989 einen dann infolge der politischen Entwicklung nicht mehr veröffentlichten Aufsatz, in dem ich – zwar mit sanften Worten, aber immerhin – ansprechen wollte, dass die sowjetische Besatzungsmacht nach 1945 KZ’s der Nazis als Internierungslager benutzt hatte und dorthin auch Unschuldige verbracht worden waren. Das war bekanntlich einer der weißesten Flecke der ostdeutschen Geschichte nach 1945 gewesen.“

Das schlägt dem Fass den Boden aus, sehr geehrter Herr Buchmann! Bitte sagen Sie mir, was die Alliierten nach dem schwer errungenen und opferreichen Sieg über Nazideutschland hätten machen sollen? Lager bauen, um all die Täter unvorstellbarer Verbrechen und Anstifter zu den Verbrechen festzusetzen? Was werfen Sie der Roten Armee vor? Dass sie die bestehenden Lager der Deutschen benutzt hatte für die Verbrecher an der Menschlichkeit und ihre willigen Helfer? Wollen Sie auch den US-amerikanischen Streitkräften in Berlin vorwerfen, dass sie 1945 auf das Gelände der ehemaligen SS-Leibgarde des Führers der Deutschen Adolf Hitler in Berlin-Lichterfelde gezogen sind? Wo Sie noch heute die furchteinflößenden SS-Bauten der Naziarchitekten besichtigen können als unbekümmerter Leser des Bundesarchivs? Wollen Sie Johannes R. Becher und seinen Mitstreitern vorwerfen, dass sie am 8. August 1945 den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands im Gebäude der ehemaligen NS-Reichsfilmkammer in der Westberliner Schlüterstraße 45 gegründet haben? Können Sie mir bitte sagen, wohin mit dieser ganzen schwarzrotgoldenen Moral, die Sie hier trotzig auffahren, nur um das Ansehen der Anti-Hitler-Koalition nachträglich zu beschädigen? Merken Sie den fahnenschwenkenden Aberwitz dieser Methode, die irgendwie den Ruch eines letzten Aufgebotes hat? Aber Aufgebot wofür? Nur damit Sie sich diese Afterkrone aus teutonischer Selbstgerechtigkeit und Alliiertenhass aufsetzen können?

Sie haben in der DDR nichts getan, Sie haben Ihre Arbeit getan, und ich werfe Ihnen das überhaupt nicht vor. Was ich Ihnen vorwerfe, ist, dass Sie anderen, zum Beispiel Alexander Abusch, vorwerfen, in der DDR nichts getan zu haben, nur ihre Arbeit getan zu haben.

Doch zurück zum Thema, zurück zu Ihnen und Ihrer Rolle im DDR-System! Tatsache ist – und dies sage ich Ihnen nicht, damit Sie sich zusätzlich dahinter verstecken können, sondern als Appell an Ihre Verantwortung als Sozialdemokrat heute bezüglich der prekären Situation heutiger Lohnabhängiger in einem Deutschland ohne die DDR – dass in den letzten zwanzig Jahren der Existenz der DDR ein nicht unbeträchtlicher Teil der Intelligenz der DDR, also der Künstler, Schriftsteller, Publizisten, Journalisten, Kulturfunktionäre, Wissenschaftler, Techniker, Lehrer, Gelehrte und Kulturarbeiter aller Art in staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, massenweise das betrieben hatte, was die aktuelle französische Aufklärung mit Recht als den Verrat der Intellektuellen im zwanzigsten Jahrhundert bezeichnet. Leipzig 1989 war die Tat der Arbeiterschaft, nicht der Intellektuellen. Ihr gesamter umfangreicher Text „Annotationen zum Umgang mit der DDR-Geschichte“ fällt vor allem dadurch auf, dass er Ihren Rechtfertigungsbedürfnissen dienen soll, nicht der Klasse, aus der Sie stammen. Nicht ein einziges Mal sprechen Sie darin von den Arbeitern der DDR, von den elementaren Lebensbedürfnissen der Arbeiterschaft, von der Arbeiterklasse und ihrer objektiven Aufgabenstellung in der speziellen historischen Situation der DDR. Ein ganzes Viertel dieses Anthologie-Bandes illegaler Lebenszeugnisse haben Sie für Ihre eigenen Bedürfnisse in Beschlag genommen, über 50 Seiten. Das ist ungewöhnlich und auffällig selbstbezogen für ein Vorwort zu einem Buch, welches doch ursprünglich Andersdenkenden gewidmet werden sollte, nicht Angepassten mit nachträglichen Selbstbespiegelungsversuchen.

Und aus welchem Grund diese mammutartigen Ausmaße von Apologie? Weil auch Sie, sehr geehrter Herr Buchmann, aus Gefühlen bestehen. Weil Sie emotional zu ansteckungsfähig sind bezüglich der Wahrheit Ihrer Persönlichkeit, weil Sie sich selber nicht ausweichen können, weil das Gewissen schlägt, weil Sie Ihre eigene Not spüren, weil Sie mit Recht um Ihr Seelenheil bangen, kurzum, weil Sie sich schämen. Sie stellten und stellen sich nach dem Mauerfall unentwegt die Frage nach Ihrem eigenen Widerstand. Aber der blieb aus. Und Sie sind entsetzt über sich selbst. Aber Sie sprechen sich da nicht offen aus, wie es beispielsweise der Kommunist und Exilant Prof. Jürgen Kuczynski nach 1989 getan hat: Wir Kommunisten mit hoher Verantwortung für das Land haben schwere und unverzeihliche Fehler gemacht. Der Antifaschist und Emigrant hat offen und rückhaltlos über seine Scham bezüglich des eigenen politischen Versagens in der DDR gesprochen.

Sie sollten sich gerade an diesem einflussreichen Funktionär der DDR ein Vorbild nehmen, nicht zuletzt deswegen, weil Sie Ihren herausgehobenen Arbeitsplatz als Sektorenleiter beim Präsidium des Kulturbundes der DDR vor allem dem politischen Wirken von Jürgen Kuczynski verdanken, denn dieser war im englischen Exil maßgeblich an der Gründung des Freien Deutschen Kulturbundes in Großbritannien beteiligt, und dieser war bekanntlich die Vorläuferorganisation des Kulturbundes der DDR.

Ganz sicher tun Sie es im stillen Kämmerlein. Aber warum schlagen Sie derartig auf den Exilanten, Antifaschisten, Juden und hohen Verantwortungsträger Alexander Abusch ein, so dass kaum noch etwas von seinem Ruf übrigbleibt? Weil Sie es sich nicht verzeihen können, dass sie Ihr eigenes Selbst so zugerichtet haben via Anpassung an den Status quo der DDR. Wie oft hätten Sie so gern Ihrem Vorgesetzten widersprochen, eigene Überlegungen zur Ausrichtung des Kulturbundes gern umgesetzt gesehen, doch Ihr Gehorsam gegenüber den herrschenden Verhältnissen und ihren Repräsentanten hat Ihnen das untersagt. Jetzt quälen Sie sich. Politischer Katzenjammer umwölkt Sie. Aber Sie verschaffen sich auf Kosten eines Verantwortungsträgers, der Ihr Vorgesetzter war, Luft, kühlen Ihr Mütchen, lösen aber Ihre persönliche Qual nicht. Der Katzenjammer geht nicht weg. Und so schlagen Sie um sich, suchen Schuldige. Der sich nicht mehr wehren kann, wird jetzt abgestraft, der Tote, der Schwache, der Entmachtete, der Wehrlose. „Sie können sich nur am Kinde revanchieren“, führt der Überlebende des Holocausts Georges-Arthur Goldschmidt in seiner Analyse „Der bestrafte Narziss“ über das Verhältnis der Erwachsenen zum schwachen Kinde aus, „es bestrafen dafür, dass sie nicht mehr sich selbst sind, dass sie es gar nie waren.“

Genau! Dies nehmen Sie sich im Stillen übel, dass Sie in der DDR nicht Sie selbst waren, obwohl Sie es hätten sein können, und deswegen schlagen Sie so hemmungslos auf Alexander Abusch ein, der in seiner ersten Hälfte des Lebens eben dies sein konnte: er selbst. Und die DDR – jedenfalls die in ihrer Anfangsphase und bis in die beginnenden siebziger Jahre – als Fortsetzung seines selbstlosen Einsatzes für die Interessen der Arbeiterklasse und ihrer verbündeten Klassen in den Zeiten der Klassengesellschaft ansehen konnte.

Und auch an Peter Huchel, den Sie in Ihrer Schilderhöhle nicht müde werden gegen Alexander Abusch ins Feld zu führen, könnten Sie sich ein Beispiel nehmen, wenn Sie den Mut aufbrächten, Ihr Schilder-Höhlen-Scheinleben endlich vor den Nöten und Bedürfnissen Ihrer Existenz, der Existenz eines Arbeiterjungen, verblassen zu lassen.

Ein Mann wie Peter Huchel, der unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur das ganze Desaster seiner Verstrickungen in die Strukturen des Regimes begriff, sich tief schämte und dann über dieses Schuldeingeständnis ergreifende Gedichte der Scham und Trauer in seinem Zyklus „Der Rückzug“ geschrieben hatte, weil er, der hochbegabte Poet und ins Dritte Reich Verstrickte sich der harten Arbeit der selbstkritischen Schuldanalyse gestellt hatte. Er bekannte öffentlich, dichterisch, seelisch verarbeitet und voller Schmerzen seine persönliche Schuld, suchte erst gar keine Entschuldigungen für sein Versagen im Abladen von Schuld auf die Schultern der Vorgesetzten, dazu war er viel zu aufrichtig:

„Verbrannt, vereist,
o öder Samen,
der Toten Feld im Wind verwaist!
Dass wir den grauen Halm vergessen,
o tiefe Schuld!
Im Namen wessen
erweisen sie Geduld?“

Dies schrieb einer, der ein paar Jahre vorher noch germanozentrische und regimetreue Gedichte und Hörspiele geschrieben hatte.

Kommen Sie ins Offene, sehr geehrter Herr Buchmann, treten Sie heraus aus Ihrer dunklen Schilderhöhle, denn von beiden Persönlichkeiten, die Sie in einem höchst oberflächlichen Schilderspiel auftreten lassen, von Alexander Abusch und Peter Huchel, können Sie, wir alle, Einzigartiges lernen, von Alexander Abusch den Mut, mit dem er sich in der Zwischenkriegszeit in alle Klassenschlachten der Arbeiterschaft geworfen hatte, von Peter Huchel den Mut, nach dem Zusammenbruch des blutigen Hitlerreiches sich nicht mit Verweis auf die Vorgesetzten bequem aus der Affäre gezogen zu haben, sondern als Intellektueller, der den braunen Kultureinrichtungen widerstandslos gedient hatte, mit sich selbst hart ins Gericht gegangen zu sein, indem er den einsetzenden Prozess der Scham, der in ihm Höllenqualen ausgelöst haben musste, frei und demütig zugelassen und dichterisch durchlitten hatte gleich einem urchristlichen Beter.

Gerade beides ist heute mehr denn je notwendig: Mut zur politischen Aktion für den gesellschaftlichen Progress und Fähigkeit zum Zulassen des affektiv-politischen Prozesses der Reue. Wohl dem, der beides miteinander zu verbinden weiß. Das verstehe ich unter politischer Verantwortung. Am Schluss Ihres Briefes steht das Gegenteil, denn Sie versuchen, den Fragenden wieder in Ihre Schilderhöhle zu ziehen, statt Ihr eigenes Versagen bezüglich des Ergreifens von politischer Verantwortung zu thematisieren: „Wir haben in Hellersdorf, zumindest solange ich darauf Einfluss hatte, niemandes Namen von Straßen- und Platzschildern entfernt, weil er Antifaschist, Jude oder Kommunist (s. u. a. die noch existente Etkar-Andre-Straße) war, sondern Straßen und Plätze nur um benannt, wenn sie Namen von Personen aufwiesen, die politische Verantwortung für den 1989/90 endgültig historisch bankrott gegangenen stalinistischen Sozialismus in der DDR getragen hatten.“ Amen! Wir alle haben in der DDR Verantwortung getragen, sehr geehrter Herr Buchmann, und es kam nur darauf an, wie wir sie genutzt haben. Ich hoffe, Sie merken vor dem Hintergrund Ihres eigenen Versagens die Oberflächlichkeit und Durchschaubarkeit Ihrer ideologisch verpuppten und heillosen Fluchtversuche.

Wir sind noch einmal davongekommen. Sie sind nicht davongekommen, sehr geehrter Herr Buchmann. Niemand ist davongekommen. Auch ich nicht. Auch Alexander Abusch nicht, dem Sie ganz sicher im Stillen vorwerfen, davongekommen zu sein. Doch dieser Kommunist litt auch unter dem Diktat seiner Vorgesetzten, konnte in der DDR nicht er selbst sein. Im Jahre 1950, als der Kalte Krieg längst in vollem Gange war, geriet Abusch unter die Räder der antisemitischen Maßnahmen, die alle Länder des Sozialismus erfassten, auch wenn man unbedingt davon auszugehen hat, dass diese Art von Vorbehalten gegenüber kommunistischen Juden auf keinen Fall rassistisch begründet war, sondern in einem vulgären und schematischen Antikapitalismus. Abusch hatte alle seine hohen Ämter in Partei und Staat verloren, er stand kurz vor einem unumkehrbaren Absturz, und nur in einer schier unmenschlichen Überangepasstheit erblickte er die Rettung, tat alles, damit sein Makel, seine jüdische Herkunft, nicht mit dem Staatssozialismus kollidieren konnte. Jedes kleinste Anzeichen des Abweichens von der Linie der Partei, das er an sich selber diagnostizierte, musste ihm jüdisch vorgekommen sein, und das hieß existentiell, als Zeichen eines bevorstehenden Sturzes in den Abgrund. Er muss im Alltag der DDR Ähnliches durchgemacht haben wie Sie, obgleich Ihr menschlicher Makel natürlich ein ganz anderer war, denn Sie hatten nicht die schwere Bürde eines Überlebenden der Nazibarbarei in Zeiten des Verbergens der Herkunft zu tragen.

Alexander Abusch hat sich verleugnet, sein Jüdischsein, aus der Sehnsucht heraus, dem Sozialismus dienen zu dürfen, die Gesellschaft der DDR als Ganzes voranzubringen. Sie haben sich verleugnet, Ihre Herkunft aus der Arbeiterschaft, aus der Sehnsucht heraus, etwas aus sich zu machen, herauszuwachsen aus den unmittelbaren Lebensbedingungen der Arbeiter, Ihre Persönlichkeit zu entfalten. Was für Alexander Abusch Ziel war, war für Sie nur Bedingung. Dass unterscheidet Sie, aber der Prozess einer Herkunftsverleugnung macht Sie gleich.

Warum ich dies alles so herausstelle? Weil ich eine Bitte an Sie habe. Gehen Sie auf Abusch zu – nicht zuletzt wegen dieser Gleichheit. Gehen Sie auf den Arbeiterfunktionär Abusch zu wie kürzlich Ihre Parteiführung auf die Parteiführung der LINKEN zuging, zunächst in Geheimgesprächen, doch hoffentlich bald in regulären Verhandlungen zur Ablösung der germanozentrischen und arbeiterfeindlichen Koalition, die augenblicklich die Bundesrepublik Deutschland führt. Reden Sie mit Abusch, sehr geehrter Herr Buchmann, gehen Sie auf den Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde, legen Sie nach jüdischer Sitte einen kleinen Stein auf den Grabstein des Abgeschiedenen und reden Sie mit ihm. Er wird die passenden Worte für dieses Gespräch schon finden, damit Sie zu reden anfangen, da können Sie ganz gewiss sein. Denn Ihre Sehnsucht, Sie selbst zu sein, unterscheidet sich dem Wesen nach kaum von seiner Sehnsucht, und unterschätzen Sie bitte nicht seine Wirkmächtigkeit aus dem Reiche der Abgeschiedenen. Das wird nicht einfach für Sie sein, ich weiß. Eine uralte Überlieferung könnte deshalb Ihr Wegweiser sein auf Ihrem neuen Weg zu dem von Ihnen so Geschmähten. Ich meine damit eine chassidische Geschichte, und zwar die Geschichte „Wie Sussja starb“. Und diese Geschichte gibt auch einen ersten Vorgeschmack auf ein solches Tiefengespräch am Grabe des Abgeschiedenen, das ich Ihnen von ganzem Herzen wünsche, denn glücklicherweise haben Sie im Gegensatz zu diesem Sterbenden noch unendlich viele Möglichkeiten, Ihr Leben zu ändern, auch und gerade Ihr politisches Leben, zurückzufinden zu Ihren proletarischen Wurzeln, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der mutigen Annäherung Ihrer Partei an die Partei der LINKEN. Die Geschichte ist umwerfend, umwerfend einfach und geht so: „Vor dem Ende sprach Rabbi Sussja: ‚In der kommenden Welt muss ich nicht verantworten, dass ich nicht Mose gewesen bin; ich muss verantworten, dass ich nicht Sussja gewesen bin.“

Ich habe dem nichts hinzuzufügen …

In diesem Sinne –
mit Grüßen der Verbundenheit

Dr. Antonín Dick

Mitglied der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten e. V.

*)Der authentische Name wurde durch ein Pseudonym ersetzt.

Editorische Hinweise

Den "4. offenen Brief" und die Illustration erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.

Ursprünglich war geplant, ein vom Autor in ein lyrisches Versmaß transformiertes Zitat aus Alexander Abusch Schrift "Irrweg einer Nation" auf der Titelseite mit der vom Autor erstellten Illustration (siehe oben) grafisch zu verbinden. Dies scheiterte am Medium Website. Wir bringen daher dieses "lyrische" Zitat gesondert - sozusagen als NACHWORT.

Weil Hitler in Deutschland zur Macht kommen konnte
Wurde der deutsche Name am Ende des zweiten Weltkrieges
Zum meistgehassten in der Welt
Doch Hitlers Ende in Blut und Schande auf dem Trümmerfeld Deutschlands
Ist nicht das Ende der deutschen Nation
So tief auch ihr Absturz sein mag
Um zu wissen
Wohin Deutschland nun gehen soll
Muss geklärt sein
Woher das Deutschland Hitlers kam
So wollen wir hier ein Blickfeld abstecken
An welchen Wendepunkten der deutschen Geschichte
Setzte die unheilvolle Entwicklung ein
Die zur Etablierung der Nazibestialität auf deutschem Boden führte
Oder zumindest ihr Kommen erleichterte

Alexander Abusch: Einleitung zu „Der Irrweg einer Nation“