Editorial
"Der Schoß ist fruchtbar noch,
aus dem das kroch"
(B.Brecht 1941)

von Karl Mueller

7/2017

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Unlängst verhinderte in Nordneukölln ein engagiertes Auftreten von Antifaschist*innen aus der Nachbarschaft die Veranstaltung einer örtlichen Kiezzeitung mit einem AfD-Funktionär. Der Wirt des Lokals im Schillerkiez darüber aufgeklärt, wer beim ihm Reden sollte, zog sofort die Raumzusage zurück. Die Redaktion der Kiezzeitung, die mit dieser Veranstaltung auf die kommenden Bundestagswahlen vorbereiten wollte und dazu auch die anderen Parteien des örtlichen Gemeindeparlaments eingeladen hatte, trat angesichts ihrer skandalösen Offerte an die AfD sofort die Flucht nach vorn an und beendete die Veranstaltungsreihe. Angeblich sei ihnen am Telefon Gewalt angedroht worden. Für die Hauptstadtpresse ein gefundenes Fressen. Der Tagesspiegel titelte: "Linksextreme schüchtern Berliner Kiezblatt ein".

Im finnischen Asyl auf die Einreiseerlaubnis in die USA wartend, schrieb Bertolt Brecht im März 1941 in nur drei Wochen  das groteske Theaterstück: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Seine Gangsterstory ist einerseits orientiert an der Geschichte des Hitlerfaschismus und anderseits ist es jedoch nicht ihre schlichte Verfremdung für die Bühne, sondern Brechts Stück zeichnet in prinzipieller Weise wesensgleiche Praxen faschistischer Bewegungen nach. Um dies zu unterstreichen lautet der Epilog des Stücks fürs Publikum folgerichtig:

Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Daß keiner uns zu früh da triumphiert -
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das
                                kroch!

(Bertolt Brecht Stücke, Band IX, Berlin und Weimar, 1965, S.367)

Doch wer oder was ist der Schoß? Soziologisch betrachtet die Mitte der Gesellschaft. Der Teil also, der alles zusammenhält und bestimmt. Kurz die ökonomische Interaktion und ihre kulturelle Verarbeitung in dafür passenden politischen Bahnen. Und deshalb heißt es richtigerweise über diesen "Schoß" bei Max Horkheimer:

"Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen."  

(Max Horkheimer, Studies in Philosophy and Social Science, Band 8,
The Institute of social research, New York 1939, S. 115)

In dieser Ausgabe veröffentlichen wir den Diskussionsbeitrag Partei »Alternative für Deutschland« – wo führt das hin?  von Anton Latzo zu Rolle und Funktion der AfD, den er auf der 3. Tagung der 18. Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei gehalten hat. Für Anton Latzo ist

die AfD eine "Klassenpartei des deutschen Imperialismus", deren Funktion darin besteht, " die nationalkonservativen Grundpositionen, die von mächtigen und wirtschaftlich wie politisch bestimmenden Kreisen des deutschen Imperialismus seit Ende des 19. Jahrhunderts als Grundlage der Politik vertreten werden, in der Gesellschaft der BRD zu verbreiten, zu verankern und zur Grundlage der Politik zu machen. Sie ist Instrument dieser Kreise!"

Zugleich warnt er in seinem Beitrag:

"Es reicht nicht, nur die Erscheinungen, die Selbstdarstellung der AfD zurückzuweisen. Ihre Entlarvung muss in Zusammenhang mit der Aufdeckung ihrer gesellschaftspolitischen Funktion und deren Grundlagen erfolgen."

Sein Diskussionsbeitrag, dessen Mängel an anderer Stelle zu diskutieren wären, hat den großen Vorteil, dass er von Horkheimers richtungsweisendem Diktum getragen wird und damit einen Diskurs anregt, der in den oben erwähnten Neuköllner Ereignissen (und leider häufig auch anderswo) keine Rolle mehr spielt.

Durch eine nämlich in dieser Weise angelegte Behandlung faschistischer Tendenzen in der BRD, die infolge des Rechtsrucks des herrschenden politischen Personal befördert werden, werden sogenannte linke Antifa-Projekte zu einer überfälligen Selbstkritik angeregt. D.h. sie werden erkennen müssen, sich mit ihrer bisherigen Politik und Propaganda zu befassen, die sich oft nur mit der Kritik an den Erscheinungsformen begnügte, anstatt deren Zusammenhang zum Kapitalismus ins Zentrum zustellen. Mittels einer solchen klassenpolitisch definierten Antifa-Arbeit wäre dann auch der bürgerlichen Betrachtung von Politikformen, worin selbstorganisierter Widerstand gegen faschistische und reaktionäre Kräfte mit rechten Politikformen gleichgesetzt wird, ein Riegel vorgeschoben.

Vom 14. bis 16. Juli 2017 organisiert die Initiative "Bündnis Neukölln" ein "buntes Programm aus rund 100 Veranstaltungen und Aktionen" mit dem Ziel Neukölln als "gemeinsamen Lebensraum für Menschen aus mehr als 150 Ländern" zu bewerben und diesen damit gegen "rechtsradikale Übergriffe" zu schützen. In diesem Bündnis arbeiten Christ*innen, SPD, Grüne, Linkspartei und Antifaschist*innen zusammen.

Die LUNTE wird sich mit einer Veranstaltung am 15.7. um 19 Uhr unter dem leider missverständlichen Titel "Bürgerlicher Antifaschismus - linker Antifaschismus - Was geht, was nicht?" daran beteiligen. Es bleibt zu hoffen, dass die bisherigen Standpunkte einer antifaschistischen Stadtteilpolitik im Hinblick auf die klassenpolitische Behandlung der sozialen Frage bei dieser Gesprächsrunde kritisch hinterfragt werden.

Dass eine klassenpolitische Behandlung sozialer und kultureller Sachverhalte nicht ohne ein adäquates Verständnis von Individualität in der spätkapitalistischen Gesellschaft auskommt, dürfte wohl unstrittig sein. Doch auch hier gibt es theoretische Abklärungen zu machen, wodurch überhaupt erst die Chance einer politischen Wirkmächtigkeit erwächst.

In der letzten Ausgabe veröffentlichten wir dazu den Aufsatz des marxistisch-leninistischen Soziologen Erich Hahn "Unmittelbarkeit und Vermittlung".  Darin stellte er fest, dass eine Beschränkung in einer gesellschaftpolitischen Analyse darauf,  nur "von individuell Handelnden oder individuellen Handlungen" auszugehen, bedeutet, "ein Element zum Ausgangspunkt zu wählen, in dem notwendigerweise ideelle Momente primär sind", während infolgedessen der gesamtgesellschaftliche Kontext zweitrangig wird.

In der heutigen Juli-Ausgabe lassen wir den Begründer des "genetischen Strukturalismus"  Lucien Goldmann mit seinem Vortrag "Das Subjekt der Kulturschöpfung" zu Wort kommen, der darin versucht, der Psychoanalyse einen Platz in der Soziologie einzuräumen, um damit einer vermeindlichen Zweitrangigkeit des Individuellen gegenüber dem Gesellschaftlichen in einer als marxistisch verstandenen Soziologie aufzuheben. Ob ihm das gelingt oder seine Arbeitsthese überhaupt richtig ist - die Antwort darauf überlassen wir gern unseren geneigten Leser*innen.

Ebenfalls zum Thema Antifa-Politik passend in dieser Ausgabe der exzellente Bericht über die innere Krise der Front Nationale "Die Nacht der Taschenmesser ist eröffnet?"  von Bernard Schmid.

Schlussendlich  ist noch zu vermerken, dass diese Ausgabe mit einer geringeren Artikelzahl - als sonst im Jahresdurchschnitt üblich - startet, da einige unserer Autor*innen nach unseren Redaktionsferien ihre eigenen angeschlossen haben.