Editorial
77.001 für die Enteignung

von Karl-Heinz Schubert

07/2019

trend
onlinezeitung

Der Erfolg war überwältigend. Seit April hatte die Initiative "Deutsche Wohnen enteignen" an 150 Stellen in Berlin 77.001 Unterschriften gesammelt. Sie wurden am 14. Juni 2019 pressewirksam im Roten Rathaus übergeben. 20.000 Unterschriften hätte es nur gebraucht. Doch die Empörung in Berlin gegen Wohnungsnot und Mietpreistreiberei war mittlerweile so angeschwollen, dass es ein Leichtes war, das benötigte Limit deutlich zu überschreiten. Von dieser Welle getragen, ließen die Initiator*nnen die interessierte Öffentlichkeit per Twitter wissen: "Jetzt kommt der Sommer der #Vergesellschaftung."

Nehmen wir sie beim Wort und fragen: "Was hat es mit der "Vergesellschaftung auf sich?"

Auf ihrer Website ist einer ganz Strauß von Gründen für eine Enteignung von "Deutsche Wohnen & Co." aufgeführt. Im zur Abstimmung gestellten Beschlusstext des Volksbegehrens heißt es dazu, dass mit dem Volksbegehren der Berliner Senat "zur Erarbeitung eines Gesetzes zur Überführung von Immobilien sowie Grund und Boden in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung nach Art. 15 Grundgesetz" aufgefordert wird.

Angestrebt wird ganz offensichtlich nicht die Schaffung von staatlichem Wohneigentum nach dem Muster der bereits vorhandenen sechs städtischen Wohnungsgesellschaften, die als AG oder GmbH am kapitalistischen Marktgeschehen teilnehmen, sondern eine "Anstalt öffentlichen Rechts" unter "demokratischer Verwaltung durch Mieter*innen, gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Stadtgesellschaft unter Mitbestimmung der Angestellten".

Wenn wir davon ausgehen, dass das Volksbegehren bereits in ihrem jetzigen Stadium, wo es zunächst um die Einleitung des Begehrens geht, den rot-rot-grünen Senat motiviert, eine entsprechende Anstalt ins Leben zu rufen, um die aufgebrachte Stadtbevölkerung zu beruhigen und Zuversicht zu stiften, wäre dann das gesetzte Ziel schon erreicht? Es mag ja sein, dass in den informellen Strukturen der Kampagnen-Akteur*innen für diesen Fall schon Plan B und C im Gespräch sind, falls untaugliche Lösungen wie bei dem letzten wohnungspolitischen Volksbegehren als Ergebnis drohen. Ich möchte es ja glauben - allein mir fehlt der Wille.

Was aktuell entlang der Enteignenkampagne an Theorien zur Wohnungsfrage publiziert wurde, trifft kurz gesagt nicht den Kern der Sache. Auf unterschiedliche Weise wird die Immobilienwirtschaft nicht als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess behandelt, sondern unter Ausblendung von Produktions- und Wertschöpfungssphären nur als ein Konstrukt der Schaffung und Verwertung von fiktivem Kapital behandelt, angesiedelt in der Zirkulationsphäre des Kapitals. Den Höhepunkt theoretischer Entleerung bildet dabei die gern gebrauchte Aussage: "Wohnungen sind in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung wie in der BRD eine Ware wie jede andere." (Andrej Holm über Mietpreis und Profit, in: ISW-Report 116/117)

Wenn der olle Engels Recht hat, dass die Wohnungsfrage im Kapitalismus nicht zu lösen ist, dann wird die Kritik an den Verhältnisse  - d.h. die Aufklärung - zum unverzichtbaren Teil dieser und anderer wohnungspolitischer Kampagnen. So wie die Kolleg*innen in den Betrieben, den Kampf um den Preis ihrer Ware Arbeitskraft als gewinnsenkenden Eingriff in die kapitalistischen Profite führen müssen, so kommen Mieter*innen nicht umhin, in die Renditepraxen des Immobilien verwertenden Kapitals einzugreifen. Das kann eine Enteignungkampagne ebenso sein wie ein Mietstreik. Ohne das richtige Wissen über die politische Ökonomie der Immobilienwirtschaft, das in der politischen Praxis beflügelt durch Wut und Empörung, mit kühlem Kopf von dem Kämpfenden angeeignet kann, wird auch das aktuelle Volksbegehren bei positivem Ausgang nur zu einigen Stückchen vom Kuchen führen, während die Bäckerei unbeschadet so weiterläuft wie bisher. Aus dieser politischen Aufgabenstellung sollten die Initiator*innen der Enteignen-Kampagne nicht entpflichtet werden.

In diesem Sinne wurden in die Juliausgabe zwei Beiträge von mir aufgenommen. Zum einen die Internetrecherche über Mitglieder und Mitgliedsunternehmen des "ZIA".  Sie versteht sich als Ergänzung zu einer Untersuchung der Berliner Mietergemeinschaft. Zum andern wird mit einem Blick auf die Verfassung(en) der DDR eine Sichtung des "realsozialistischen" Enteignungbegriffs vorgenommen, um einen naiven Umgang, wie er durch die aktuelle Kampagne befördert wird, zu problematisieren.

Zum Thema passend spiegeln wir einen aktuellen Artikel von der Website "der funke - marxistische linke".  Mit Verweis auf Engels wird dort für die Enteignen-Kampagne geworben. Auch werden eigene Vorschläge unterbreitet. Aber die zentralen theoretischen Mängel der Kampagne bleiben, warum auch immer, unerwähnt. Kritische Solidarität sieht anders aus.

Metereologisch soll es weiterhin heiß bleiben.
Wohnungspolitisch hoffentlich auch.

In kühlen Räumen hingegen läßt es sich bei diesen Sommertemperaturen besonders gut lesen. Meine Empfehlung: Wilma Ruth Albrechts Dokumentarerzählung über das Frühjahr 1945.

++++++++++++++++++++++++++++

Hier fehlt die monatliche Ranking-Auswertung der Alexa-Rubrik "Deutsch/Medien/Alternative_Medien"

[Alexa bietet diesen Dienst nicht mehr kostenfrei an. Wir suchen derzeit eine Alternative]