Editorial
Teilnehmende Beobachtung

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on Karl Müller
08/04

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Der kapitalistische Produktionsprozess, im Zusammenhang betrachtet, oder als Reproduktionsprozess, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der anderen Seite den Lohnarbeiter."
(MEW, 23, S. 604)

In der letzten Ausgabe veröffentlichten wir in der Rubrik "das besondere Dokument" den Wortlaut der so genannten "Hamburger Erklärung". Darin wurde behauptet, dass "verkürzte Kapitalismuskritik und der Versuch, das abstrakte Kapital als Judentum zu konkretisieren" zentrale Elemente des Antisemitismus in der Linken seien. Kritik am Zionismus wurde als Antisemitismus denunziert. Apodiktisch heißt es: "Die Projektionsfläche des Antisemitismus hat sich gewandelt: im Gegensatz zu Anfeindungen gegen „die Juden” ist er heute als Antizionismus konsensfähig. Vernichtungsphantasien, wie sie sich in der Parole „Tod Israel” und dem Verbrennen der israelischen Fahne zeigen, stehen in der Tradition des Antisemitismus. Weder die Existenz Israels noch seine staatliche Souveränität hat zur Debatte zu stehen."

Die Gleichsetzung von Antisemitismus mit Antizionismus folgt augenfällig dem Junktim, mit dem der sozialdemokratische konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza die BRD-Linke auf der Grundlage der BRD-Staatsdoktrin - des Philosemitismus -zu spalten versuchte, als er im Mai 2002 in seinem Politmagazin verbreiten ließ, dass Israel einer "Klassenanalyse", d.h. der Frage "wer, wen?" nicht mehr unterworfen werden dürfe.

Die Herrschaftsfrage nicht mehr an Israel zu richten, Israel, die besetzten Gebiete und Palästina nicht mehr als Klassengesellschaft zu untersuchen, dortige Ausbeutung und Unterdrückung, d.h. die spezifische Erscheinungsform der  Herrschaft der "toten" Arbeit über die "lebendige" in Nahost zu ignorieren, etablierte sich seitdem rasch als reines Glaubensbekenntnis jener Kräfte innerhalb der Linken, die etwa wie die Bahamas-Gruppe als Schreiberlinge von Gremliza schon vorher und/oder auch aus anderen Gründen Abschied vom Marxismus genommen hatten.

Infolge der Eskamotierung des Proletariats als historischem Subjekt war es eine leichte Übung an die Stelle der Klassenanalyse, die Partei nimmt für das Proletariat und den Kommunismus, propagandistisch  im linken Szenemilieu eine andere Parteinahme  - nämlich für jene nationalistischen Kräfte -  zu etablieren, die sich seit dem 1. Zionistenkongress 1897 ein jüdisches Volk imaginieren, um diesem auf Kosten anderer eine "garantierte Heimstatt zuzusichern".

Unbestritten war die Gründung Israels - seit Ende des 19. Jahrhundert propagiert und als koloniales und nationales Projekt geplant und vorbereitet (siehe dazu Weinstock) - eine unabwendbare Notwehrhandlung infolge des Holocaust.  Doch mit der Gründung Israels erfolgte keinesfalls automatisch eine Bestätigung des nationalistisch-völkischen Staatsverständnis der ZionistInnen. Mit der Gründung Israels gab es auch andere Optionen - eher sozialistisch - eher in Richtung Assimilierung und eher im Sinne eines nachbarschaftlichen Nebeneinanders von Menschen aus verschiedenen kulturellen und sozialen Zusammenhängen.  All dies blieb seitdem auf der Strecke und die israelische Linke, die sich in der Tradition jenes sozialistischen Gedankenguts (Stichwort: Kibbuz) sieht, ist in Israel marginalisierter denn je.

Durch die eingangs zitierte Sichtweise wird die israelische Linke tabuisiert bzw. willkürlich segmentiert und flankierend die BRD-Linke entlang zusammenphantasierter Begründungen ("verkürzte Kapitalismuskritik") gespalten. Damit werden schließlich ein vorurteilsfreier Zugang zu den programmatischen Positionen der israelischen Linken, die Parteinahme für deren Sache und eine kritische Auseinandersetzung mit ihr verhindert. Übrig bleibt - nachzulesen bei St. Grigat - ein mickriger Blick ins linke Spektrum, orientiert an dem, was die Poplinke in der BRD so umtreibt.

Obgleich wir solchen "Hamburger Erklärungen" inhaltlich ablehnend gegenüberstehen, haben wir diese und werden wir zukünftig auch andere veröffentlichen. Dies sind wir unserem publizistischen Selbstverständnis schuldig:

1. Wir veröffentlichen im WWW-Internet und dieser virtueller Raum kennt in letzter Konsequenz keine Ausschlüsse, weil im Prinzip jede Gruppe oder Einzelperson zu diesem Raum Zugang hat. An die Stelle von Ausschluss und Totschweigen sind also im WWW  Auseinandersetzung und Widerstreit der Meinungen getreten.

2. D.h. nicht, dass auf unserem Server alles und jedes veröffentlicht wird, nur weil die AutorInnen sich selber als "links" labeln. Wir entscheiden dies sehr wohl nach politischen Kriterien. Zukünftig  wollen wir diesen Entscheidungsprozeß durch einen Beirat auf eine breitere inhaltliche Basis stellen.

3. Unbeschadet dessen wird gelten, und dies lässt sich anhand der aktuellen Ausgabe gut nachvollziehen: Texten, wie z.B. denen von Grigat oder Brym, werden andere Text zu Seite gestellt, wie etwa Die„israelische Linke“ oder Palästinasolidarität, die deren unzulängliche und verkürzte Argumentation sichtbar werden lassen. 

Mensch könnte, wollte mensch diese drei Essentials auf den Begriff bringen, unser Veröffentlichungskonzept als "teilnehmende Beobachtung" definieren. Dieser Begriff war in den 70er Jahren unter Sozialwissenschaftlern recht verbreitet und sollte signalisieren, dass jene nicht bereit waren, den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess in der Faktenhuberei der empirischen Sozialforschung verkommen zu lassen. Im Prozess der Untersuchung sollten statt dessen die Untersuchungsobjekte in dialektischer Weise zu Subjekten des Prozesses werden und umgekehrt, die Forschenden zu Lernenden.

In diesem Sinne glauben wir durch das Gegeneinanderstellen sich widerstreitender Auffassungen das Wissen der Leute zu verbreitern, damit diese an anderer Stelle (z.B. X-Berg), nämlich dort wo es konzeptionell erwünscht ist, in einen Dialog treten und - wenn es gelingt - ihren Disput ins wirkliche Leben hineintragen, um die Verhältnisse so zu kritisieren, dass die Verhältnisse zu tanzen beginnen und das historische Objekt - die LohnarbeiterInnen - zum Subjekt für eine klassenlose Gesellschaft wird.