Zwischen Aufstand der Armen, Barrikade und Bittbrief
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in Seminar und eine Stellungnahme

von Anne Seeck

10/11

trend
onlinezeitung

Am 28./29.10 führen einige AktivistInnen im Mehringhof ein Seminar zu "Perspektiven der Erwerbslosenbewegung" durch.

In dem Seminar "Zwischen Bittbrief und Barrikade" soll es eine Analyse über Erfolge und Misserfolge geben. Was können wir aus der Geschichte und von anderen Protestbewegungen lernen, in Deutschland, aber auch international. Und vieles mehr. 

Hier die Ankündigung: Zwischen Bittbrief und Barrikade 

Zur Vorgeschichte:  

Das Seminar wird in der Berliner Erwerbslosenszene kontrovers diskutiert. Das liegt an dem Titel mit dem Wort "Bittbrief" und an mir.

Ich hatte im Januar 2011 den Artikel "Aufstand der Armen? Fehlanzeige!" im Trend veröffentlicht.

Leider habe ich diesen im Frust geschrieben...

Hier der mißlungene Artikel: http://www.trend.infopartisan.net/trd0111/t210111.html  

Ich bin zwar seit 1997 in der Erwerbslosenbewegung aktiv, was aufgrund von Mißerfolgen Frust erzeugen kann. Ich hätte aber Abstand gebraucht, alles nochmal überdenken müssen, um diesen Artikel sachlicher schreiben zu können. So habe ich leider einige unnötige Nebenbemerkungen gemacht und damit Anlässe für Protest geboten, woraufhin sich Aktive verletzt fühlten, was ich so nicht wollte und leider nicht mehr rückgängig machen kann, wofür ich mich auch entschuldige. (Nicht aber für meine grundsätzliche Kritik.) Es ist auch zu bedenken, dass es sich um gegenseitige Verletzungen handelt. Im Vorfeld aufgrund von Hierarchien, Dominanz und Streitereien. Danach durch eine Gegendarstellung, die mich zum alleinigen Feindbild hochstilisiert, und durch Ausgrenzung. Ich hoffe, dass sich diese Front nicht noch weiter verhärtet. Ein Feindbild dient auch immer der Stärkung der Eigengruppe. Angesichts der Diffamierung und Abwertung von Hartz IV- BezieherInnen in der Gesellschaft ist es nötig, einen gemeinsamen Dialog in der Erwerbslosenbewegung zu führen. 

Zum Verständnis: Was war der letzte Auslöser meines Frustes über diese Szene? 

1. Die bundesweite Krach-Schlagen-Demo in Oldenburg mit 3000 TeilnehmerInnen wurde als "voller Erfolg" gefeiert. Ich hatte im einzigen Bus von Berlin nach Oldenburg gesessen und dieses als frustrierendes Erlebnis empfunden. Dagegen waren zur Blockade gegen den Nazi-Aufmarsch in Dresden aus Berlin viele Busse gefahren, das war für mich ein ganz anderes Gefühl.

Das Krach- Schlagen-Bündnis: http://www.krach-statt-kohldampf.de/sites/index.html

2. Im Vorfeld der Regelsatzentscheidung im Bundestag wurden Briefe an alle Bundestagsabgeordneten geschickt. Das Wort "Bittbriefe" stammt nicht von mir. Auch wenn es keine "Bittbriefe" waren, so ist doch der "sanfte" Ton selbst bezeichnend. An die Verursacher von Hartz IV solche Zeilen zu schreiben, als ob sie nicht über die Konsequenzen ihres Handelns wüßten.  

"Sehr geehrte Frau / Herr XXXXX,  

Sie werden in den nächsten Wochen ganz unmittelbar über die Lebensverhältnisse von Millionen Erwerbsloser und indirekt – wegen der Folgewirkungen – auch von Erwerbstätigen und ihren Familien entscheiden, wenn Sie über das Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe ab-stimmen. Der Rückgriff auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vermittelt den Schein von Objektivität, so dass die an verschiedenen Stellen des Verfahrens vorgenommenen Wertungen aus dem Blick geraten. Die vom BMAS vorgeschlagenen Beträge1 werden in verschiedenen Einzelposten sowie insgesamt von vielen, auch namhaften Sachverständigen2 für unzureichend gehalten. Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts war, dass der Regelsatz jedem Einzelnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen muss.3

Es erscheint uns daher gerechtfertigt, Sie ganz persönlich zu fragen, welche Höhe der Regelsatz (in Euro) haben müsste, damit Sie, wenn Sie erwerbslos wären, damit ein menschenwürdiges Leben führen können. Bitte gehen Sie von Ihrer Lebenserfahrung aus, stellen Sie sich vor, Sie seien alleinstehend und vergessen Sie vorliegende Statistiken.

Bedenken Sie dabei bitte auch, dass ein menschenwürdiges Leben auch jenen ermöglicht werden muss, die aufgrund fehlender Chancen oder weil sie nicht erwerbsfähig sind, über einen langen Zeitraum nur diese Regelleistung zur Verfügung haben.

Der Regelsatz soll alles zum Leben in gesellschaftlicher Teilhabe beinhalten (auch z.B. die Kosten für Strom, Telefon und Internet). Nur die Ausgaben für Miete und Heizung gehören nicht zum Regelsatz.

Wir beabsichtigen, Ihre Reaktion bzw. Ihre Angaben der Öffentlichkeit unter anderem über‘s Internet zugänglich zu machen. Für eine kurzfristige Antwort, möglichst in der ersten Sit-zungswoche im November (8.11. – 12.11.), wären wir dankbar, damit eine offene Diskussion noch möglich wird; die 2./3. Lesung ist bekanntlich Anfang Dezember geplant.  

Mit freundlichen Grüßen
für das Bündnis Regelsatzerhöhung jetzt!"

Als ob man nicht jahrelang gegen die Einführung von Hartz IV gekämpft hätte. Tausende Betroffene waren auf der Straße und sie haben es ausgesessen. Und jetzt fragt man sie höflich, welche Höhe des Regelsatzes sie sich vorstellen können. Auch das "öffentlich machen" ist eine harmlose Variante, Politiker haben genug "Orte", wo sie ihre Meinungen bekunden können.

Die Antworten und Nicht-Antworten sind hier zu nachzulesen:

http://www.regelsatzerhoehung-jetzt.org/  

Seit der Veröffentlichung des Artikels "Aufstand der Armen? Fehlanzeige!" wurde ich von Teilen der Erwerbslosenbewegung zur "Unperson" erklärt. Die Gegenerklärung "Trennlinien überwinden!" beginnt bezeichnenderweise so: "In trend online, Nr. 01/11 fanden sich viele Worte von Anne Seeck zum “fehlenden Aufstand der Armen”. Dort wurde gezeigt: viel schreiben heißt nicht gleich, viel Erkenntnisträchtiges oder Hilfreiches beizutragen. Vielmehr ging es dort ins Gegenteil. Die Autorin rückte die Aktivitäten Erwerbsloser unnötig in schlechtes Licht, verlor sich in Widersprüchen und arbeitete mit Falschdarstellungen, um ihre negativen Darstellungen zu vervollkommnen. Politische Inhalte der Aktionen von Erwerbslosen unterschlägt sie. Politische und ökonomische Rahmenbedingungen der Aktivitäten von Erwerbslosen und Niedrigverdienenden zieht sie in ihre Darstellung nicht ein. Zu vielem aus der “Erwerbslosenszene” äußert sie sich unsolidarisch und herablassend. Vorhandene Qualität würdigt sie nicht wirklich. Wenn sie beklagt, dass sich dort zu wenige engagieren, wird das spätestens nach ihrem Beitrag viele nicht mehr wundern. Sie verstand den Beitrag als Aufforderung zur “Reflexion”. Wir geben diese Aufforderung zurück."  

Hier im Erwerbslosenforum der gesamte Text: http://www.elo-forum.net/leser-meinung2/2011041816239.html  

Nur eine Antwort, z.B. zu den Widersprüchen. Natürlich habe ich mich in dieser emotionalen Schreibweise auch in Widersprüchen verloren. Meinungen können sich auch ändern und natürlich können sich Menschen auch in Widersprüchen verwickeln. Der Mensch ist kein starres Wesen. Als ich 1989 in den Westen kam, war ich total orientierungslos. Vor allem seit meiner Aktivität in der Linken ab 1997 bin ich Lernprozesse durchlaufen, so wie auch andere Menschen das tun. Die Orientierungslosigkeit spiegelt sich bei vielen wieder, viele Linke sind dann immer irritiert, wie bei Slogans "Wir sind das Volk". Lernprozesse beinhalten auch, Vorurteile und Stereotypen zu bekämpfen, die sich allerdings immer wieder aufgrund von negativen Erfahrungen herausbilden (z.B. grüne Mittelschicht, homophobe türkisch-arabisch männliche Macho-Jugendliche etc.) Bilder im Kopf, die man nicht loskriegt. Wir sind nicht die "Guten", der Kapitalismus steckt auch in uns, auch in unseren Kommunikationsformen. Nur- ich habe den Artikel im Frust allein geschrieben, die Gegendarstellung wurde aber von "wichtigen" Personen der Erwerbslosenbewegung im Kollektiv geschrieben, aus einer Position der "relativen Macht", das macht den Unterschied. In einer Situation, in der auch ein sachlicher Diskussionsprozeß zumindestens zwischen ihnen möglich gewesen wäre.   

In dem Text "Trennlinien überwinden" wird vor allem "bürokratische Kritik" geäußert, wie jemand formulierte, und nicht auf den wesentlichen Kern eingegangen. So hatte ich angesichts des Zustandes eine kritische Reflexion der bisherigen Erwerbslosenbewegung und eine strategische Neuorientierung angeregt. Eine Kritik war auch die Staatsfixiertheit in Teilen der Erwerbslosenbewegung.  

Die wesentlichen Dinge sind hier zu finden: 

Hier mein Interview in der Direkten Aktion: http://www.direkteaktion.org/204/erwerbslosenbewegung-interview  

Und hier mein Artikel in analyse und kritik: http://www.akweb.de/ak_s/ak559/33.htm  

Mit meinen Artikeln wollte ich nicht sagen, dass es nicht auch gute Arbeit der Erwerbslosenbewegung gegeben hätte. Natürlich ist die Beratung wichtig. Diese hat z.B. Erfolge, so sind die Klagen bei den Sozialgerichten sprunghaft angestiegen, im Clement-Bericht "Vorrang für die Anständigen" wurden die Berater als "Anstifter zum Sozialmißbrauch" bezeichnet. Und natürlich ist das Sanktionsmoratorium wichtig, auch wenn einige Erstunterzeichner gegen eine komplette Abschaffung von Sanktionen waren. Und natürlich machen viele Akteure eine wichtige Arbeit, ob die ALSO in Oldenburg oder Initiativen in Berlin. Und natürlich ist eine Breite des Protestes notwendig.  

Aber auch radikale Formen. So forderte Peter Grottian Zivilen Ungehorsam. Leider ist Radikalität in der Erwerbslosenbewegung in Deutschland selten. Die piqueteros in Argentinien agierten da anders, z.B. mit Besetzungen. 

Oder einige Aktionen der französischen Erwerbslosen 1997/98:

• Besetzung von Arbeitsämtern und der Arbeitslosenversicherung
• Besetzung der staatlichen Stromgesellschaft
• Zerstörung der Eingangstüren eines Arbeitsamtes und Einschmeißen der Scheiben einer Präfektur
• Ein Rathaus wurde gestürmt und zwei stellvertretende Bürgermeister festgesetzt
• Besetzung einer Eliteschule
• Besetzung der Börse, brennende Akten wurden aus dem Fenster geworfen
• in einem Pariser Nobelhotel erzwangen sich 30 Arbeitslose ein Gratisessen mit Austern und Champagner 

Mögliche Formen wären auch Spaßguerilla....: 

Am 12.12.1980 wurden bei Karstadt am Hermannplatz 600 weiße Mäuse in die Lebensmittelabteilung eingeschmuggelt, in Cornflakespackungen versteckt. Die Tiere fraßen sich durch und gingen an die umherstehenden Lebensmittel.

Dazu gab es eine Kommandoerklärung der MAF (Mäusearmeefraktion):

Uns Mäusen stinkt die Konsumscheiße schon lange und wir lassen uns von diesen amerikanischen kolonialistischen Mickeymäusen nicht länger verarschen. Wir wollen kein Disneyland! Karstadt muß in Mäusehand! Knastmauern sind für uns nur größere Käsebrocken.

Wir fressen alles auf, was uns kaputt macht ! 

Möglich sind auch Direkte Aktionsformen: 

1. Verweigerung:

- Streik: Hier wird die Arbeitskraft verweigert. Es gibt Streiks, die als direkte Aktion zu werten sind, z.B. die spontane Arbeitsniederlegung, politischer Streik.

- Boykott: Die Auseinandersetzungen der neuen sozialen Bewgungen sind hauptsächlich im Reproduktionsbereich angesiedelt. Bei ihren Verweigerungsaktionen geht es darum, festgefügte Rollenerwartungen außerhalb der Produktionssphäre, z.B. als KonsumentIn, WählerIn oder SteuerzahlerIn, nicht zu befolgen. (Totalverweigerer, Boykott gegen Anteil der Stromgebühren, der zur Finanzierung der Atomenergiewirtschaft verwendet wird, Boykott gegen Produkte von Nestle, Volkszählungsboykott) Die wohl häufigste Form der Verweigerung stellt die Ignorierung polizeilicher Anordnungen und Aufforderungen sowie gerichtlicher Verfügungen dar.

- Hungerstreik und Fastenaktion: RAF, Startbahn-West-Gegner. Im kirchlichen Rahmen ist das Fasten aber eher als demonstrative Aktion zu betrachten und in eine Reihe mit Mahnwache und Schweigekreis zu stellen. (Friedensbewegung) 

2. Behinderung

In-Aktion: Die Teilnehmer versuchen durch ihre Anwesenheit den gewohnten Gang der Dinge zu stören, z.B. Go-,Sit-oder Sleep-in. Es herrscht nicht der Ernst der Blokade, sondern es werden Soldaten „besucht“, man „spaziert“ im Wald, „schläft“ auf öffentlichen Straßen oder veranstaltet ein „kollektives U-Bahnfahren“.(z.B. Probeschlafen auf dem Kudamm 1981, um gegen die Räumung besetzter Häuser zu protestieren) Die Ortsblockade: z.B. Gorleben, Brokdorf, Wackersdorf, Startbahn West: Der friedensbewegte Protest richtet sich überwiegend gegen militärische Einrichtungen. Bei der Ortsblockade geht es um die Blockierung der Austauschbeziehungen eines Objektes mit seiner Umwelt durch Blockierung des Bau-, Werk-und Militärverkehrs.

Die Verkehrsblockade: Sie zielt auf die allgemeine Mobiliät der Gesellschaft durch Behinderung des Straßen-, Bahn-und Flugverkehrs. Eine der größten und erfolgreichsten Straßenblockaden war die „Wendland-Blockade“.

Als Funktionsblockaden werden Aktionen bezeichnet, die sich gegen Handlungsgeschehen richten, die sich unter Kontrolle des Konfliktgegners befinden, wie z.B. gegen Militärmanöver und den Bau von industriellen und atomaren Großanlagen. 

3. Besetzung

Platzbesetzung: Am 18.Februar 1975 wurde in Whyl das erste Mal in der Protestgeschichte der Bundesrepublik ein für den Bau eines Atomkraftwerkes vorgesehenes Gelände besetzt. Weitere Besetzungsversuche scheiterten in den 70er Jahren, am Einsatz massiver Polizeiaufgebote. 1980 wurde eine Tiefbohrstelle besetzt und darauf die Freie Republik Wendland errichtet und nach 4 ½ Wochen geräumt. Weitere Beispiele sind die Startbahn West und Wackersdorf.

Baum-und Strommastbesetzung: In der Ökologiebewegung werden insbesondere in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Baum-und Strommastbesetzungen zumeist von Mitgliedern der Robin-Wood-Initiativen organisiert. Der Baum steht für den bedrohten Wald, der Strommast verweist auf die durch Atomtechnologie erzeugte Energie.

Gebäudebesetzung: Es gab vor allem Kirchenbesetzungen. Nach der Räumung des  Hüttendorfes an der Startbahn West wurde der Hessische Rundfunk besetzt. Auch die Redaktionsräume großer Zeitungen wurden aus verschiedenen Anlässen immer wieder mal besetzt. 1983 während eines NATO-Manövers wurde das Rathaus in Kaiserslautern besetzt.

Betriebsbesetzung: Bis Ende der 70er selten, ab 1980 häufigere Aktionsform (z.B.Alcatel) 

4. Zerstörung.... 

Hier eine Protestgeschichte: http://www.freiheitpur.i-networx.de/Protestgeschichte%5B1%5D.pdf

Hier eine Geschichte der Sozialproteste: http://www.trend.infopartisan.net/trd0210/trd570210.html  

Ich war lange Teil der Erwerbslosenbewegung, habe z.B. selbst schon Petitionen an Politiker geschrieben oder war resolute Anhängerin eines bedingungslosen Grundeinkommens. In dieser Zeit bin ich aber durch Lernprozesse gegangen, die Konsequenz ist eine radikale Kapitalismuskritik und eine radikale Ablehnung kapitalistischer Lohnarbeit, falls letzteres "durchzuhalten" ist.... Hier das Manifest gegen die Arbeit: http://www.krisis.org/1999/manifest-gegen-die-arbeit  

Die Arbeitslosenzahl ist auf dem tiefsten Stand seit 1991, im September waren 2,796 Millionen offiziell arbeitslos. Viele sind aus der Statistik rausgerechnet, bei der Zahl der Hartz IV- BezieherInnen z.B. in Neukölln sieht es ganz anders aus.

Heinrich Alt, Vorstand Grundsicherung der BA sagte: "Auch wenn der Sockel bröckelt, kommen wir jetzt natürlich an den harten Kern. Es bleiben diejenigen zurück, bei denen sich durch verschiedenste Problemlagen eine erfolgreiche Integration in naher vielleicht auch in weiter Zukunft nicht abzeichnet. Ab jetzt wird jeder Schritt schwerer und die Herausforderung immer größer". Ja die Herausforderungen.... 

Neuköllner"I"nnen 

A.: Ich wollte mir eigentlich einen Job suchen aber heute war ich zu schlapp 

B.: Vielleicht mach ich bald in Marmelade. 

C.: Wenn es dunkel wird wache ich auf. 

D...: So habe ich in einem Artikel im aktuellen Trend Folgendes geschrieben:  

"Nur radikaler Antikapitalismus und konsequenter Ausstieg aus der kapitalistischen Lohnarbeit könnte heute noch schockieren, wenn er massenhaft auftritt. ...Beides ist gesellschaftlich nicht akzeptiert und wird ausgegrenzt. Vor der massenhaften Mischung von Beidem, also dem Aufstand der Armen, haben die Herrschenden am meisten Angst. 

Ein aktuelles Interview mit der Autorin des Buches "Aufstand der Armen" Frances Fox Piven in den USA: http://www.democracynow.org/   

Wer für die Abschaffung des Kapitalismus kämpft, wird in die extremistische Ecke gestellt. Wer im Kapitalismus die Lohnarbeit verweigert, wird als Schmarotzer diffamiert. In beiden Fällen hat man mit Repression und Kontrolle zu rechnen...

Alternative wäre z.B. ein Leben in Kommunen: http://www.contraste.org/kommunen.htm

Oft sind die Mitglieder der Kommunen aber nur noch am Arbeiten und haben kaum Zeit für politische Arbeit.

Auch sie sind im Kapitalismus mit dem Marktregime konfrontiert."  http://www.trend.infopartisan.net/trd1011/t421011.html  

Trotzdem sind Gegenstrukturen, z.B. die Schaffung einer linken Infrastruktur (in der es auch Arbeitsplätze gibt und eine Existenzsicherung möglich ist), notwendig und wünschenswert.  

In einem anderen Artikel habe ich formuliert, was m.E. notwendig wäre:  

"Die lokale Ebene: Alltagskämpfe  

Aktiv ist zur Zeit in diesem Bereich vor allem die Bewegung gegen Gentrifizierung, die in Stadtteilinitiativen organisiert ist. Was der Linken selten gelingt, ich habe schon MieterInnenversammlungen erlebt, an denen der Querschnitt der Bevölkerung des Kiezes beteiligt war. Auch die Anti-AKW-Bewegung lebt von der Unterstützung der Bevölkerung im Wendland. Und auch beim Kampf gegen Stuttgart 21 waren große Teile der Bevölkerung beteiligt. Weitere Alltagskämpfe können in Betrieben (z.B. Babylon, Ambulante Dienste) und in Jobcentern (Zahltag, Keine/r geht allein zum Amt, Jobcenterversammlungen) stattfinden. Diese Kämpfe sollten allerdings auch eine internationale Perspektive haben und sich mit anderen Kämpfen verknüpfen... 

Die globale Ebene: Vernetzung sozialer Kämpfe  

Nach dem Niedergang der globalisierungskritischen und Sozialforumsbewegung bedarf es neuer Ansätze. In der arabischen Welt, in Griechenland, in Spanien, Israel etc. wird der Aufstand geprobt. Es sind vor allem soziale Proteste aufgrund hoher Jugendarbeitslosigkeit und schlechter Existenzbedingungen. Hier bedarf es einer Vernetzung der Kämpfe. Aber auch Projekte, z.B.der Solidarischen Ökonomie außerhalb von Kämpfen, können sich global vernetzen. Gerade in der Krise nimmt die Bedeutung der globalen Ebene zu. Viele Probleme der multiplen Krise können nur global angegangen werden.   

Anders leben in der Gegenwart  

Auch hier gibt es bereits Ansätze. Wie wollen wir leben? Hier und Jetzt! Ob es eine andere Lebensweise im globalen Norden ist, anders arbeiten oder anders wirtschaften, ob es gemeinschaftliche Lebensformen sind. Es geht um die Schaffung von Freiräumen.Die Herrschaft reicht so tief, dass es selbst das Vorstellbare beeinflußt. Von einer Revolutionierung der Arbeits- und Lebensweise sind wir weit entfernt.   

Gegenentwurf für die Zukunft  

Es ist nicht so einfach mit Alternativen. Kommunismus ist nämlich nicht nur Utopie, sondern es gibt geschichtliche Erfahrungen zum Kommunismus. Kommunismus ist Vergangenheit und Zukunft. Wir müssen den Begriff des Kommunismus oder wie wir eine lebenswerte Gesellschaft nennen wollen, endlich mit emanzipatorischen Inhalten füllen, sonst machen es die Herrschenden mit dem Wort GULAG....Utopie wird oft als lächerlich empfunden, wird abgelehnt. Sie wird aber auch gefürchtet, denn sie schafft Unruhe, Unzufriedenheit und übt Druck zur Veränderung aus. http://www.trend.infopartisan.net/trd0911/t400911.html  

Mir geht es also um eine Verknüpfung der hiesigen Alltagskämpfe von Einkommensarmen (Zahltag, Begleitung, Militante Untersuchung am Jobcenter etc.) mit sozialen Kämpfen in anderen Ländern (z.B. Israel, Griechenland). Zudem um Gegenexperimente und Suchbewegungen im Hier und Jetzt ("anders leben", ein "gutes Leben") verknüpft mit einer antikapitalistischen Zukunftsperspektive. Es geht also nicht mehr nur um Verteilungsfragen, es geht auch darum, eine andere Lebensweise, die nicht imperial ist, zu entwickeln. Das muß auch für die Zukunftsfrage bedacht werden. Die Wachstumsideologie und der Slogan "Hauptsache Arbeit" müssen in Frage gestellt werden. Denn es geht um den Klimawandel, der in die Apokalypse führt.  

Interessant ist auch, dass internationale Bewegungen die Demokratisierungsfrage mit der sozialen Frage verknüpfen. Aufgrund ihrer sozialen Situation sind viele politikverdrossen. Aus den USA sind die Proteste auch nach Deutschland übergeschwappt. Die Organisierung erfolgt z.B. über soziale Netzwerke. http://occupyreichstag.blogsport.de/

Infos bei attac: http://www.attac.de/aktuell/eurokrise/europaweiter-aktionstag/dezentrale-aktionen/  

Bisher hatte 2010/2011 insbesondere das Bürgertum, z.B. gegen Großprojekte wie Stuttgart 21 oder den Großflughafen Schönefeld protestiert. Das bürgerliche Lager scheint brüchig zu werden. Eine andere sozialchauvinistische und rassistische Tendenz sind Abwertungen schwächerer Gruppen (Sarrazin, Hamburger Bildungsreform).  

Über die Proteste von Stuttgart 21 heißt es in einem RLS Papers: "Die Bewegung entsteht spontan und ungeplant, bricht immer wieder aus den Bahnen aus, auch insofern diese von ihren eigenen Sprecher_innen vorgezeichnet wurden. Die Dynamik, mit der sich immer wieder eigenständige Gruppen mit eigenen Belangen und Artikulationsformen gebildet haben, zunächst die „Parkschützer“, dann innerhalb dieser und unabhängig davon weitere Gruppen, sind ein wunderbares Beispiel für diese nicht zu steuernde Produktivität. Ohne diese wären die Erfolge der Bewegung undenkbar. Ein noch eindringlicheres Beispiel sind die Montagsdemonstrationen. Von vier Privatpersonen initiiert, ohne sich mit dem Aktionsbündnis als Koordinationsgremium der Widerstandsbewegung abgestimmt zu haben, gewann diese Protestform binnen weniger Monate eine Massenbasis....

Der Protest gegen „Stuttgart 21“ speist sich aus verschiedenen Motiven. Ich würde drei Motivbündel unterscheiden: erstens den Protest gegen Demokratiedefizite, zweitens den Kampf gegen die Ökonomisierung und drittens jenen gegen die Beschleunigung des Lebens und die „Unwirtlichkeit“ der Städte. Die Unterscheidung darf nur als analytische verstanden werden, denn die Motive sind in der Realität miteinander verknüpft, was auch eine Stärke des Protests ausmacht....Die Stadt ist der Nahraum, in sich der größte Teil des Lebens der Menschen abspielt. Die Konsequenzen der Ökonomisierung der Gesellschaft durch Imperative der Kapitalverwertung werden hier unmittelbar spürbar. Dies eröffnet die Möglichkeit, einen abstrakten Prozess an den lebensweltlichen Erfahrungen der Menschen zu konkretisieren. Der Widerstand gegen „Stuttgart 21“ gewinnt seine Zugkraft daraus, dass die Menschen „vor ihrer Haustür“ erleben, was eine Politik, die von Kapitalverwertungsinteressen dominiert wird, in ihrer Lebenswelt anrichtet. Die wenigsten stellen diesen Nexus her und es wäre auch kontraproduktiv, plump antikapitalistische Parolen in den Protest zu tragen. Mit dem Einsatz für eine soziale und kulturvolle Stadtentwicklung können aber Alternativen mehrheitsfähig gemacht werden, die für eine andere gesellschaftliche Entwicklungsweise stehen. „Wie wollen wir hier leben?“, „Wie können wir uns die Stadt (neu) aneignen?“ „Was heißt ‚Recht auf Stadt‘ konkret?“....

Dass sich Menschen aus verschiedenen sozialen Klassen, Schichten und Milieus in diesem Protest vereinen, zeigt, dass es hier ein verbindendes Moment der Kritik gibt. Dies ist nicht per se links. Aber es besteht die Chance, mit einer ethisch argumentierenden normativen Kapitalismuskritik am alltagsbewussten Unwohlsein anzuknüpfen." (Papers S. 13-26) 

Interessant an diesen Protesten war vor allem, dass es viele Protestneulinge gab. Selbst beim konservativen Lager ist eine Erosion festzustellen. Es wurden Befragungen durchgeführt. (siehe RLS Papers) 21,5% hatten keine Erfahrung mit Protesten. 46,3% hatten in den letzten 5 Jahren nicht an Protesten teilgenommen. Es gab 26,9% moderate Protestneulinge (kaum vorherige Protesterfahrung, politische Mitte) und 52,6% situativ Engagierte (geringe Protesterfahrung, mitte-links).Rund 90% der Befragten waren für den Ausbau direktdemokratischer Elemente. 43,7% hatten bereits an direkten Aktionen (Blockade, Besetzung, Ziviler Ungehorsam etc.) teilgenommen, 22,4% würden das tun. Sie haben einen Widerspruch zu Veränderungen ihrer Lebenswelt, boten aber keinerlei Fläche, um sie zu kriminalisieren. Allerdings gab es auch in Stuttgart heftige Polizeiübergriffe.

Trotzdem gibt es eine zunehmende Akzeptanz, was zivilen Ungehorsam und direkte Aktionen betrifft. Auch die Massenblockaden in Dresden gegen die Naziaufmärsche sind für viele attraktiv. 

RLS Papers "Der Herbst der 'Wutbürger'": http://www.rosalux.de/publication/37266/der-herbst-der-wutbuerger.html 

Angesichts dessen sollten viele in der Erwerbslosenbewegung nachdenken, ob demonstrative und intermediäre Aktionsformen wirklich attraktiv sind, bzw. nicht durch direkte Aktionsformen ergänzt werden sollten. Zudem gibt es auch eine neuartige Politisierung, vor allem bei jungen Leuten (siehe Piraten und soziale Netzwerke).  

Ich denke auch, dass wir heute nicht mehr von einer Erwerbslosenbewegung sprechen sollten, denn viele "Arbeitslose" arbeiten, z.B. als Ein-Euro-Jobber, Bürgerarbeiter, Selbständige, Minijobber, sind in einer Weiterbildung etc. Zudem müßten die Kämpfe von "Erwerbslosen" und "Prekären" verknüpft werden. Ob wir nun von prekären Lebenslagen oder Einkommensarmen sprechen, auch darüber kann in dem Seminar diskutiert werden. 

Ich hoffe, dass wir in dem Seminar zu einem interessanten Dialog zwischen Einkommensarmen/Erwerbslosen/Prekären angesichts neuer Entwicklungen kommen und Trennlinien wirklich überwinden.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin.