Editorial
Gedankensalat


von Karl Mueller

11/10

trend
onlinezeitung

Ralf Landmesser ist ein freundlicher und umgänglicher Mensch, zu dem Polemik und ideologische Grobschnitte eigentlich nicht passen, so habe ich ihn jedenfalls bisher in den letzten 20 Jahren kennengelernt. Von daher gab es keine Einwendungen, die Veröffentlichung seines Referats Wie kann Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Realsozialismus gestaltet werden? nicht zuzusagen, um die wir von Seiten der VeranstalterInnen des Seminars  „Was tun, wenn ich die Ostalgie nicht ertrage?“ gebeten wurden. Als jedoch der Text vorlag, sträubten sich bei uns die Nackenhaare. Wir haben uns dennoch für die Veröffentlichung entschieden, erstens, weil wir an unserem strömungsübergreifenden Konzept auch bei so einem Text festhalten wollen. Denn Ralf Landmessers Ansichten sind (leider) unter sich linksradikal begreifenden Menschen heute nicht selten zu finden.  Und werden von so genannten KommunistInnen auch noch ungewollt gestützt, wie in einer DKP-Parteitagsrede zum Thema DGB und alternative Listen in dieser Ausgabe nachzulesen ist.

Deswegen hoffen wir zum andern auf entsprechende Reaktionen seitens unserer LeserInnenschaft, damit Landmessers Sammelsurium von links larvierten antikommunistischen (Vor-)Urteilen in seriöser Weise widerlegt werden. Ich - meinerseits - werde mich noch in dieser Novemberausgabe zu Ralf Landmessers Text in einem separaten Artikel (am 9.11.erschienen)  äußern.

Das Verknäulen verschiedener nicht zueinander passender bzw. durch die gesellschaftliche Realität widerlegter Argumente, um für ein bestimmtes politisches Ziel werben, ist aber nicht nur eine Methode, die bei Ralf Landmesser zum Tragen kommt. Das Phänomen, eine Art politischen und ideologischen Gedankensalat zu produzieren, begegnet uns vor allem in Kampagnen bzw. in entsprechenden Bündnisaufrufen. Als prägnantes Beispiel in dieser Ausgabe der Bericht von der Hamburger Demo "Leerstand zu Wohnraum", wo es in den Kampagnen-Forderungen heißt: "Wir fordern ein Recht auf Wohnraum, welches für jede Person unabhängig von Alter, Nationalität, Aussehen, Geschlecht oder der Größe des Geldbeutels bestehen muss." Und einige Zeilen danach: "Wohnraum und Fläche müssen in gesellschaftliches Eigentum übergehen. Ein erster Schritt aus der profitorientierten Wohnungspolitik ist die Schaffung eines kommunalen Wohnungsbestandes."

Als die SPD 1875 in ihrem Gothaer Programm "Gleiche Volkerziehung" forderte, kommentierte Karl Marx: "Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man, daß in der heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für alle Klassen gleich sein kann?" (MEW, 19, S.30)

Genauso verhält es sich hier mit der Forderung nach dem "Recht auf Wohnraum" in Verbindung mit der strategisch richtigen Forderung nach Vergesellschaftung von Wohnraum und Flächen. Glauben die Hamburger GenossInnen allen Ernstes, sie müssten den Anwalt für alle spielen? Und: Vergesellschaftung bedeutet für das Proletariat nicht nur Aneignung, sondern vor allem Enteignung von Privateigentum der besitzenden Klasse.

Oder anders: Die Wohnraumfrage ist eine Klassenfrage und erst mit der Zerschlagung des Lohnsystems werden für alle wirklich befriedigende Wohnverhältnisse geschaffen werden können. Dies wiederum heißt aber nicht, dass nicht bereits schon  im Kapitalismus der Kampf um die Vergesellschaftung von Wohnraum geführt werden soll, wodurch heute möglicherweise bestimmte Übergangsformen erkämpft werden können. Diese beiden Ebenen dürfen halt nicht vermischt werden, sonst gilt schließlich das Wort von Konfuzius "Der Weg ist das Ziel", das auch Ralf Landmesser zu seinem Motto erkoren hat.

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Am 18.10.2010 war die kleine "Lunte" rappelvoll. Mehr als 30 Leute wollten die Vorstellung der Bücher von Kirsten Heisig und Thilos Sarrazin hören. Aufmerksam und gespannt folgten sie dem 90minütigen Referat von Karl-Heinz Schubert, der besonderen Wert darauf legte aufzuzeigen, welche ökonomischen und politischen Angriffe auf das Proletariat von diesen beiden AutorInnen dem herrschenden politischen Personal konzeptionell empfohlen werden. Besonders bei Sarrazin wies er nach, dass Sarrazin bis auf das menschenverachtende ideologische Beiwerk keine Vorschläge zu formulieren hatte, die nicht  zuvor bereits in den so genannten Denkfabriken des Kapitals erarbeitet worden waren. Insofern erfüllen sowohl Heisig als auch Sarrazin - so Schuberts Resumee - nur die Funktion des agent provocateurs, der durch Tabuverletzungen dazu beiträgt, Themen im öffentlichen Diskurs zu verankern, die die Herrschenden sozusagen "eins zu eins" nicht ohne größere Widerstände losgeworden wären.

In der anschließenden fast zweistündigen Diskussion, an der rund 15 Leute teilnahmen, wurde immer wieder versucht, Schnittstellen zwischen den Kämpfen im Stadtteil und im Betrieb aufzuspüren, da ja gerade die "Heisig/Sarrazin"-Vorschläge auf beide gesellschaftlichen Felder zielen. Einen Sonderstrang innerhalb der Diskussion bildete die Feststellung, dass das so genannte "anti"deutsche Spektrum in Gestalt von Jungle World und Bahamas Wohlwollen gegenüber diesen reaktionären Kräften formulierte, wobei die Islamphobie dafür ein fungibles Einfallstor bietet.

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Der Aufruhr in Frankreich bewegte seit Wochen sogar in der BRD die bürgerliche Medienland.  Von daher war es nur folgerichtig ein TREND SPECIAL einzurichten, gerade auch deshalb, weil uns mit  Bernard Schmid ein in Frankreich lebender Autor mit herausragender Kompetenz zur Verfügung steht. Seine Berichte befassen sich unter anderem mit der Rolle der Gewerkschaften in diesen Kämpfen. Diesem Thema widmet sich auch eine Artikelsammlung der IKS Frankreich. Die politischen Schlüsse aus beiden Positionen zu ziehen, überlassen wir hier diesmal bewußt unseren LeserInnen.

Viel Spaß mit der neuen TREND.

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Die BesucherInnenzahlen vom Oktober 2010, in Klammern 2009, 2008

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