Berichte aus Brasilien
Brasiliens erotischer Sex

von Klaus Hart

06/03    trend onlinezeitung

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„Wenn es ein Land gibt, das etwas von Erotik versteht, sie lebt, praktiziert, dann ist es Brasilien“, schreibt der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, nennt Erotismo „ein Zeichen von Zivilisation, dazu Rückzugs-und Zufluchtsort des Individuums, gegen die Normierung, Vereinheitlichung des Lebens von heute.“ Schwer zu übersehen – Brasilianern ist Sinnlichkeit, Erotik, Sex auch im Alltag viel wichtiger als den anderen Südamerikanern, ganz zu schweigen von Mitteleuropäern.

Paulo Coelho von der Copacabana, Brasiliens meistgelesener Autor auch in Deutschland, haut jetzt in die gleiche Kerbe wie Llosa, hat endlich mal ein Buch nur über erotischen Sex geschrieben, voraussichtlich wieder ein Welt-Bestseller. „Die Leute reden zwar viel drüber, aber machen wenig Sexo, gehen mit dem ganzen Thema scheinheilig um,  belügen den andern, um zu gefallen; überall  Ängste, Tabus – für Phantasie und Kreativität bleibt kein Raum.“ Sex werde überall abgewertet, eklig kommerzialisiert, banalisiert. Schlimm, daß die „copula humana“ gewöhnlich  nur um die elf Minuten dauere, meint der 55-jährige Coelho, nennt seinen  Roman über eine brasilianische Prostituierte in Genf deshalb „Onze Minutos“. Er enthält ausführliche Lektionen über Zärtlichkeit und Erotik, Körper und Seele, die Klitoris, den G-Punkt.  Männer, ob in Deutschland oder Brasilien, die Coelhos Handlungsanweisungen künftig immer noch nicht befolgen wollen, laufen Gefahr, mit diesem Buch völlig zu Recht drangsaliert zu werden. Coelho kennt sich aus, baute selber viel Mist, steht dazu. „Ich verlor  viel Zeit mit dieser Besessenheit, meine Männlichkeit beweisen zu müssen, hatte sogar mehrere Frauen gleichzeitig.“ Mit Partner Raul Seixas, der längst dahingegangenen Musiker-Legende, schrieb er einst brasilianische Rockgeschichte, opponierte gegen die Militärdiktatur, gehörte zu Brasiliens Hippie-Gemeinden, einer internationalen Psycho-Sekte, machte dort reichlich „Sexo grupal“, hat homosexuelle Erfahrungen – wie die meisten Männer im bisexuellen Brasilien, ist seit immerhin dreiundzwanzig Jahren mit der Künstlerin Christina Oiticica verheiratet. Und hofft, daß „Onze Minutos“ Leuten in allen Kulturkreisen zu mehr – und besseren – Orgasmen, echter sexueller Befreiung verhilft. Die Liebeskunst, läßt er seine Protagonisten sagen, erfordere Technik, Geduld, Kühnheit, intimste Kenntnisse über den Körper des anderen und vor allem viel Praxis des Paares. Die beste, genußvollste Stellung für die Frau – wenn sie ihn von oben reitet, so lange und so oft wie möglich.

Eigentlich alles gar nicht so neu – nur halten sich, wie jeder weiß, nur die wenigsten daran, fährt der große Rest die schönste Sache der Welt zielstrebig gegen die Wand. Sucht Ersatzbefriedigung etwa bei Prostituierten, die Paulo Coelhos Copacabana-Avenida scharenweise heimsuchen. Auch da läßt Coelho seine Romanheldin – und Edelnutte Maria gnadenlos mit dem eigenen Gewerbe abrechnen -  daß Prostituiertensex deprimierend minderwertig ist, weiß ebenfalls längst jeder Halbgescheite. „Ich hasse, was ich tue“, schreibt Maria ins Tagebuch, „ich zerstöre damit meine Seele, verliere den Kontakt zu mir selbst.“  Huren verkauften etwas, das sie doch viel lieber für Genuß, Wollust und Zärtlichkeit hergeben, verschenken  würden – „und das zerstört.“

   In der deutschen Ersatzbefriedigungsgesellschaft finden es viele schick, Erotisches, Sex unangenehm klinisch zu sezieren, zynisch herunterzumachen – Brasilien ist da nach wie vor kribbelndes, anregendes, doch auch widerspruchsvolles, ambivalentes Kontrastprogramm.  Sonia de Almeida beispielsweise,  schlechtbezahlte Lehrerin in Sao Paulo, 35, hat einen halbwüchsigen Sohn  - setzt klare Prioritäten:“Mich mit jemandem sexuell wunderbar auszutoben, kribbelnde Wollust, Orgasmus – das zählt für mich im Leben, darauf kommts mir an.“ Ihren jetzigen Freund nennt sie einen Glücksfall:“Der bleibt mit mir tagelang im Bett, kann – natürlich mit Pausen – zehn, fünfzehn Stunden; mit dem traue ich mir alles.“ Reinemachfrau Maria Malzani, schwarz, 29, hat unter der Woche mit ihrem Mann  dafür wenig Zeit. „Aber sonntags gibts nur zweierlei – die katholische Messe und Sex.“ Schon  Bossa-Nova-Miterfinder Tom Jobim, Komponist des „Girl from Ipanema“, bekannte:“Würde ich die drei wichtigsten Dinge meines Lebens aufzählen, wären das Sexo, Sexo, Sexo“. Der unsterbliche Telenovela-Autor Dias Gomes:“Ich denke den ganzen Tag eigentlich nur an Sex – und das ist sehr gesund.“Ausnahmen, absolute Minderheit unter den rund 175 Millionen Brasilianern? Keineswegs – auch  internationale Studien sind aufschlußreich. Keine in fester Beziehung lebende Frau der Dritten Welt tut es  so oft und so lange wie die brasilianische – und von den  über vierzigjährigen Frauen und Männern  des Tropenlandes bekräftigt ein weit höherer Prozentsatz als in den tonangebenden Industrieländern, „daß Sex für mich sehr wichtig ist“ -  Großbritannien, die USA und Japan bilden die absoluten Schlußlichter. Leicht zu erraten -  zwanzig-und dreißigjährige Brasilianer liegen noch viel  deutlicher vor ihren Altersgenossen Westeuropas.

Brasileiros, auch das ist belegt, und wohl weltweit einmalig, halten Brasileiras für die sinnlichsten, stimulierendsten, zärtlichsten Frauen der Erde, ziehen sie denen jeder anderen Nation mit Abstand vor. Komme ich – seit 1986 in Brasilien lebend – jeweils einmal im Jahr nach Deutschland, ist immer der  erste, verunsichernde Eindruck: Verglichen mit meiner Lebensumwelt, direkt  asexuell, geschlechtsneutral wirkende Menschen, ohne jegliche sinnlich-erotische Ausstrahlung -  claro, von Ausnahmen abgesehen. Auf Straßen, belebten Plätzen kaum Blickkontakt, kein belebender, unverbindlicher Augenflirt in Sekunden, alle fast nur bleiern ernst. Brasilianische Bekannte beschreiben es meist viel drastischer, immerhin von Kindesbeinen an geprägt durch  eine regelrechte Ideologie, Kultur des Erotischen, die feministisch, gar „politisch korrekt“ geprägte intellektuelle Europäerinnen vor Ort nicht selten schockt, graust, abstößt, verwirrt – der sich andere Frauen, und natürlich viele Männer, aber begeistert anschließen. „Sinnlichkeit wird hochbewertet als Teil der kulturellen Identität“, so der an  Rios Uni lehrende und forschende nordamerikanische Anthropologe Richard Parker, „das brasilianische Volk ist wirklich viel heißer.“ Sozio-kulturelle Unterschiede zu Mitteleuropa werden womöglich nirgendwo deutlicher als im Sinnlich-Sexuellen. Das beginnt schon mit der durchsexualisierten Sprache, voller Kicks und Kitzel, gepflegt selbst in den Qualitätszeitungen, erst recht in der Musik. „So frivol, lasziv, auch provokant, wie wir uns permanent ausdrücken“, sagt die hellhäutige Bankangestellte Luisa Bernardes in Sao Paulo, “das habt ihr alles nicht im Deutschen, da klingen sexuelle Anspielungen einfach grob.“ Die hier, eigentlich unübersetzbar, nur stimmig im brasilianischen Ambiente, klingen eher amüsant, köstlich, prickelnd, und stimulieren, gehören zur erotischen Reizüberflutung. Schon Mädchen unter zehn – ob Unter-oder Oberschicht – beziehen sich  explizit auf Geschlechtsorgane, sexuelle Techniken, Stellungen – was im Deutschen unerhört klingen würde. „Unsere Kultur weist der Frau die Rolle der Verführerin zu – sie tut es intuitiv, fühlt, spürt, was gefallen wird“, sagt die weiße Psychologin Ana Veronica Mautner aus Rio,  „die  Frauen wissen, daß Männer schon mit den Augen Genuß empfinden – und zeigen deshalb ihre Formen.“ Brasilianische Mädchen, Frauen begreifen ihre Brüste ganz natürlich  als erotische Symbole – und stellen sie entsprechend heraus. Rio, Sao Paulo, Salvador da Bahia – en masse tiefdekolletierte Frauen – man muß – und vor allem – soll hingucken. Würde ichs nicht tun, gälte ich wieder als der steife, kopfgesteuerte, unsinnliche Mitteleuropäer. Mit drei Amigas, einer Elfjährigen plaudere ich am Bäckerei-Kaffeetisch, als sich deren  Bekannte nähert, über den Tisch beugt – der beträchtliche Busen kaum verdeckt in einem extrem tiefen Decolletè – unmöglich, nicht hinzuschauen. „Na, wie findet ihr das“, fragt sie zuerst die Frauen, bekommt „faszinierend, anziehend, erotisch, sehr weiblich“ zurück; auch die  beiden Söhne neben ihr, um die dreizehn, sechzehn, finden die Mama einfach klasse so:“Total sexy“.  So eine Szene in Deutschland undenkbar, geht mir durch den Kopf. Dort ebenfalls undenkbar, wie Brasilianer dann im Bett das Spiel der Verführung weiter auskosten. Lingerie -  nicht die Ausnahme, sondern absolute Regel, dazu Spaß an  Phantasien, Experimenten, Tabubrüchen. „Daß die Frauen sich bei euch die Schamhaare nicht abrasieren – kaum zu glauben“, höre ich immer wieder von Freundinnen, „wissen die denn nicht, daß es `ohne` viel lustvoller ist, wenn ein Mann ihre Buçeta, Xoxota leckt?“ Um die siebzig Prozent der Brasilianer mögen ihre Partnerinnen depilado, finden dann auch nicht nur das „chupar“ weit köstlicher, aufregender, sondern auch das „ foder, montar, cavalgar, meter“. „Vögeln ist bei uns Brasilianern so herrlich mit Musik, dem Essen, mit Spaß und Spielerei verknüpft“, schwärmt der Filmemacher und Kolumnist Arnaldo Jabor, womöglich bester, intimster Kenner seines Landes, „wir in den Tropen nehmen Sexualität als Spiel, Fest, Lachen.“ In einem Land unerklärten Bürgerkriegs, mit weit über vierzigtausend Mordtoten jährlich, Misere, sozialen Kontrasten und Widersprüchen, die auf keine Kuhhaut gehen? Nach unseren Begriffen, Wert-und Moralvorstellungen müßten eigentlich die Brasilianer, und nicht das vergleichsweise reiche, wohlgeordnete alte Europa, über Triebverlust, immer weniger Sex, Rollenverunsicherung, Enterotisierung klagen. Doch die Uhren gingen hier schon immer anders – von Anfang an färbte die Sexualität der Ureinwohner auf portugiesische Kolonialisten, die vielen Einwanderer aus Italien, Spanien, Deutschland, Österreich oder Japan ab.  Denn die Indianer waren von christlicher Moral unbeeinflußt, sind bis heute sexuell freier, aktiver – Indiomädchen probieren die schönste Sache der Welt gleich nach der ersten Menstruation aus, bekommen, falls sie das wollen, mit elf, zwölf Jahren die ersten Kinder. Dabei sind gerade Indiomänner die absoluten Machisten – was zu den ebenfalls unübersehbaren Schattenseiten brasilianischer Sexualkultur führt. „Mein erster Ehemann – und nach der Scheidung wirklich alle Namorados legten sich direkt absurd hektisch, ungestüm  ins Zeug, kamen deshalb natürlich immer viel zu früh, schon nach drei oder  höchstens zehn Minuten, wenn ich noch längst nicht so weit war“, reklamiert die schwarze Programmierin Sandra Goldin aus Sao Paulo. Laut neueren Studien ejakuliert über die Hälfte der Männer zu rasch, was Frauen den Spaß am Sex vergällt.  „Meine Freundinnen sagen genau dasselbe - alles pure Egoisten, eben Machos – nach kurzem, formalem Vorspiel wie die Preßlufthämmer, nur auf den eigenen Lustgewinn bedacht, viel zu wenig zärtlich. Die wollen einfach nicht merken, daß wir kaum Genuß empfinden, vögeln eigentlich für sich alleine.“ Rund dreißig Prozent haben keinen Orgasmus, etwa zwanzig Prozent fühlen Schmerzen beim Sex. „Weil die Männer eben zu schnell, häufig dazu auch noch grob sind“, kommentiert Rosa Limares,  Sozialarbeiterin aus Belo Horizonte,  ebenfalls dunkelhäutig, diese Angaben. „Die wollen zeigen, daß sie starke, potente Machos sind – und je schneller sie kommen, umso geringer ihr Risiko, später vielleicht nicht mehr ejakulieren zu können, die Erektion zu verlieren, sich vor der Frau als Versager zu fühlen.“

Bemerkenswert – gemäß medizinischen Untersuchungen haben über die Hälfte der brasilianischen Heteros leichte bis schwerere Erektionsprobleme, wegen Streß, Existenzängsten – Homosexuelle sind doppelt stark betroffen. Bei Arbeitslosen ist das Risiko „psychologischer Impotenz“ 83 Prozent höher als bei fest Beschäftigten, sagt eine  Studie von 2003, und 36 Prozent der arbeitslosen Frauen hätten schlichtweg keine Lust mehr.

 „Absurd – nicht die Alten, vor allem Jugendliche, junge Männer  nehmen Viagra wie verrückt –  um uns zu beeindrucken“, so Rosa Limares. „Manche meiner Partner ließen  garnicht zu, über Sex zu reden. Anderen sagte ich, mir gefiels nicht, zu kurz, ich habe nichts gespürt. Und bekam dann zu hören: Du bist eben unersättlich;  weißt nicht, was guter Sex ist – ich bin doch gekommen! Gerade Schwarze halten sich sexuell für die Größten – völlig grundlos! Nur – was sollen wir machen – andere Männer gibts eben nicht.“ Viele Single-Frauen – in Sao Paulo und Rio de Janeiro geradezu Heerscharen – gehen, wie sie lachend hinzufügt, deshalb nur dann mit jemandem ins Bett, wenn der Trieb zu stark werde – alle paar Wochen, alle paar Monate.

Die für Kinder und Jugendliche gedachte Beilage der größten Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ vermeldet 2003:“Unsere Urgroßeltern haben mehr Sex gemacht, waren glücklicher!“ Daneben stürzt sich Pit im Comic mit steifem Glied zwischen die Beine seiner Freundin und entjungfert sie. Die erste „Transa“ unter zehn – andererseits nicht mehr so ungewöhnlich.

 Daß im Weltvergleich brasilianische Männer am häufigsten Prostituierte benutzen,  erklärt Rosa Limares  spontan so:“Von Huren weiß ich, daß die aus Geschäftsgründen eben nie  kritisieren, wenn die Machos zu schnell, zu brutal vögeln – deshalb toben  sich Männer mit  denen gerne aus, auch beim Analsex.“ Danach sind die  allermeisten Brasileiros geradezu verrückt – die allermeisten Brasileiras lehnen ihn heftig ab, weils wehtut – nicht wenige nehmens aber  murrend hin. Seitensprünge, eine Geliebte, ein Geliebter, eine Zweitfrau, Zweitfamilie nebenher – weit, weit häufiger als etwa in Deutschland. Ebenso wie Verstümmelungen, Morde an Frauen – aus Eifersucht, zur „Rettung“ der Macho-Ehre. „Mann sein heißt, die Frauen der eigenen Familie, die eigenen Geliebten maximal zu kontrollieren – und gleichzeitig maximalen sexuellen Zugang zu den Frauen der anderen zu haben, mit der größtmöglichen Zahl zu vögeln – ob Mutter, Gattin, Tochter – und viele Kinder zu machen“, definiert Roberto Albergar, Uni-Anthropologe in Bahia, die „Logik des brasilianischen Machismus“, besonders in der Unterschicht, also der übergroßen Bevölkerungsmehrheit anzutreffen.  Doppelmoral, Ambivalenz gelte auch für Frauen: „Alle sagen natürlich, nur einen guten, verläßlichen, treuen, verantwortungsvollen Mann als Lebenspartner zu wollen – tatsächlich aber bevorzugen sie bad Boys, Hengste, solche starken, ungestümen Machos, die verführen - und verlassen.“ Er könne ruhig fremdgehen, das werde verziehen – solange sie unangefochten die Hauptfrau bleibe. Homosexuelle werden nicht nur von den Bahia-Machos verachtet, sind häufig Opfer von Gewalt. „Ich bin Schwarzer und Gay“, sagt Schwulenaktivist Oseas, 30, in Salvador da Bahia, „für die schwarzen Heteros verrate ich aber damit meine eigene Rasse!“

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.: