Berichte aus Brasilien
Wahlsieg mit Fragezeichen
Lulas sozialdemokratische Arbeiterpartei feiert Stimmengewinne - Anbiederung an Rechte und Sekten bringt Basis auf/schwerste Wahlschlappe ausgerechnet in Rio de Janeiro
von Klaus Hart

10/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Präsidentschaftsanwärter Luis Inacio „Lula“ da Silva saß der Frust, wider Erwarten den Sieg im ersten Durchgang verfehlt zu haben, noch in den Knochen - doch ganz Pragmatiker, bettelte er schon am Tag nach der Wahl telefonisch bei rechtsgerichteten Diktaturaktivisten von einst um Unterstützung für die Stichwahl Ende Oktober. Romeu Tuma war Chef der politischen Polizei DOPS in Sao Paulo, mitverantwortlich auch für das Verschwindenlassen, Totfoltern, „Erschießen auf der Flucht“ von Regimegegnern, das Zusammenprügeln demonstrierender Studenten - Lula hätte nur zu gerne, daß ihm der frischgebackene Kongreßsenator mit dem „Xerife“-Image sein beträchtliches Wählerreservoir zutreibt. Andere berüchtigte Führungsfiguren derselben, landesweit stärksten Rechtspartei PFL hat er schon sicher, dazu typische Oligarchen und Latifundistas. Lula bekommt wichtige Wahlhilfe auch von der großen Rechtspartei PPB - dessen illustrer Vertreter Ubiratan Guimaraes demnächst ein weiteres Mal als Abgeordneter den Teilstaat Sao Paulo, immerhin bedeutendste lateinamerikanische Industrieregion, mitlenken darf. Vor zehn Jahren hatte Polizeioberst Guimaraes in Sao Paulos Carandiru-Gefängnis mit seiner gefürchteten Spezialeinheit weit über hundert rebellierende Insassen sadistisch umgebracht und jetzt im Wahlkampf betont, natürlich immer wieder so zu handeln.

Daß die PT-Führung ausgerechnet die Rechte umgarnt, wird an der Basis vielerorts als „absolut schockierend“ verurteilt.

noch keine Parlamentsmehrheit für Opposition

Bislang deutet vieles auf einen Sieg Lulas hin: Am sechsten Oktober votierten von den 115 Millionen Pflichtwählern über 39 Millionen für ihn, nur 19,7 Millionen für Ex-Gesundheitsminister Josè Serra, den wichtigsten Herausforderer, Kandidat der Mitte-Rechts-Regierung. Die Opposition ist erfreulich im Aufwind - von den 513 Sitzen der Abgeordnetenkammer des Nationalkongresses hält die Arbeiterpartei künftig 91, stieg von der viertgrößten zur stärksten Fraktion auf. Doch die Oppositionsparteien haben keine Parlamentsmehrheit - stets sind dafür etwa sechzig Stimmen aus dem gegnerischen Lager nötig.

In zwei von sechsundzwanzig Teilstaaten errang die Arbeiterpartei Gouverneursposten, stellt sich in weiteren sieben, darunter Sao Paulo, sowie im Bundesdistrikt Brasilia der Stichwahl.

Pleite am Zuckerhut mit Vorzeige-Linker Benè

Im zweitwichtigsten Teilstaat Rio de Janeiro, mit einem Bruttosozialprodukt über dem Chiles, verlor die Arbeiterpartei jedoch den Gouverneursposten - wegen taktischen Fehlern und des von der Führung forcierten Kurses hin zur politischen Mitte, weg von links. Die schwarze PT-Gouverneurin Benedita „Benè“ da Silva von der Sektenkirche „Assembleia de Deus“ unterlag gegen die Linkspopulistin Rosinha Garotinho, die kurioserweise ihren Sieg vor allem Sektenanhängern der verelendeten Unterschicht verdankt. Diese wurden besonders von der rechtsgerichteten Sektenpartei PL(Partido Liberal) und dessen „Bischöfen“ mobilisiert, welche sich nicht an die Bündnisabmachungen mit der Arbeiterpartei hielten. Denn Lulas Vize - und eventuell demnächst stellvertretender Staatschef - ist der PL-Senator, Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar. Die PT-Pleite unterm Zuckerhut hat eine komplexe, skurrile Vorgeschichte: 1998 bestimmt die Parteibasis den gestandenen, angesehenen Linken Wladimir Palmeira, Widerstandskämpfer und Studentenführer während des Militärregimes, zum Gouverneurskandidaten. Doch die nationale PT-Führung verbietet die Kandidatur, beugt sich auch dem zwielichtigen Linkspopulisten Leonel Brizola, Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Chef der Arbeitspartei PDT. Brizola will Lulas damalige Präsidentschaftskandidatur nur unterstützen, falls sich Rios PT mit dem Posten des Vize-Gouverneurs begnügt, aber seinen PDT-Gouverneurskandidaten Anthony Garotinho voll akzeptiert. Das Vorhergesehene trifft ein: Zwar werden dieser und Benè gewählt, regieren desaströs, doch der politisch gewiefte, machtbesessene Radiomoderator und Sektenprediger Garotinho trennt sich im Streit rasch von Brizolas PDT, wechselt zur nur dem Namen nach Sozialistischen Partei PSB, kandidiert dieses Jahr für die Präsidentschaft, attackiert aggressiver als jeder andere Bewerber die Arbeiterpartei und Lula. Anfang 2002 übergibt Garotinho wegen des Wahlkampfs sein Gouverneursamt an Stellvertreterin „Benè“ - der Terror hochgerüsteter neofeudaler Banditenmilizen gegen die Slumbewohner nimmt stark zu: Wer sich nicht beugt, nicht kooperiert, wird zur Abschreckung gefoltert, verstümmelt, in Stücke gehackt, kommt in die gefürchtete „Microonda“(Mikrowelle): Über das festgebundene Opfer werden bis in Kopfhöhe Autoreifen geschichtet, mit Benzin übergossen - und dann Streichholz dran... Die PT-Gouverneurin könnte mit ihren mehreren zehntausend Polizisten problemlos die Banditenherrschaft brechen, tastet den „Parallelstaat“ der Slums aber nicht an. Als der damalige Justizminister Miguel Reale, immerhin Lula-Wähler, Benè den Einsatz der Streitkräfte anbietet, lehnt sie schroff ab - weitere Slum-Bürgerrechtler werden umgebracht.

Lula ist über Benè begeistert, Rios Linke seit jeher nicht: Als Stadtverordnete hievt sie zwei Kinder und eine Stieftochter teils mit gefälschten Diplomen auf gutbezahlte Assessorsposten - ihre Tochter hält über ein Jahr zwei lukrative Jobs sogar gleichzeitig. Der Skandal kostet Benè den sicheren Sieg bei der Bürgermeisterwahl - die Basis ist entsetzt. Als Kongreßsenatorin macht Benè mit ihrer Komfort-und Privilegiensucht immer wieder Negativ-Schlagzeilen, als Gouverneurin feiert sie gerne mit Schickeria und Neureichen. Doch Regierungsposten, kritisiert die PT-Linke, vergebe sie nur an den eigenen PT-Flügel „Articulação“(Artikulation), der mit ihr Sekten begünstige, die Entpolitisierung der Partei vorantreibe, Rechts-Bündnisse suche. Sehr bedenklich: Von den künftig 91 PT-Kongreßabgeordneten zählen 48, also die Mehrheit, zur „Articulação“ von Parteichef Josè Dirceu, nur 26 gelten als wirkliche Linke, wollen in der PT einen „Bloco de Esquerda“ gründen. 2002 drückt PT-Chef Josè Dirceu in Rio durch, daß eine sichere Senatskandidatur ausgerechnet an den schwulenfeindlichen PL-Sektenbischof Marcelo Crivella geht, und nicht an einen angesehenen linken PT-Companheiro. Pointe des ersten Wahlgangs: Ausgerechnet PSB-Populist Garotinho, für den landesweit etwa fünfzehn Millionen, meist Sektenanhänger, votierten, gebärdet sich derzeit geschickt als Hüter linker Tugenden, prangert die PT wegen ihrer Rechts-Allianzen, wegen Prinzipienverrat an.

"Weiche, Satan!"

In den auch von Benè, Garotinho frequentierten Sektentempeln, selbst Fußballstadien, gehen makabre Teufelsaustreibungen und Wunderheilungen in Hardrock-Lautstärke weiter - PL-Bischöfe präsentieren unentwegt Leute, die durch den Allmächtigen soeben von Krebs oder Aids geheilt worden seien. Tags und nachts hallt im Schreiton hundertfach wiederholt „Weiche, Satan!“, oder „Gloria Deus“ heraus, mit Dezibelwerten startender Düsenflugzeuge - der absurde Krach führte bei Anwohnern brasilienweit zu bislang unbekannten Neurosen. Benè s neofundamentalistische „Gottesversammlung“ gräbt sogar auf Friedhöfen Leichen aus, um sie zum Leben wiederzuerwecken. Doch nach wie vor steht die einstige „Miss Samba Copacabana“ bei politisch korrekten Drittweltbewegten Deutschlands unglaublich hoch im Kurs, erntet in Alternativ-und Kommerzmedien, sogar Büchern, Lob und Hudel.

Editorische Anmerkung

Der Autor schickte uns seinen Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

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Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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