Berichte aus Brasilien
Musik-Supermacht Brasilien(6)

Karneval in Rio - zuallererst ein immenses Musikfestival - Nicht-Profis komponieren jährlich weit über fünfhundert neue Sambas- einige werden stets Klassiker

von Klaus Hart

03/03
 
 
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Fällt in Deutschland das Wort "Karneval" - verknüpft mit Köln, Mainz, Rio - winken kopflastige "Progressive" gewöhnlich ab. Carnaval - out, gräßlich, furchtbar, ja nicht - ein Unwort. Indessen geradezu ein Verbrechen, ausgerechnet den Karneval von Rio in einem Topf mit dem westdeutschen zu werfen. Denn der unterm Zuckerhut ist zuallererst ein Kunstwerk, die grandiose kulturelle Leistung einer von grausamsten Widersprüchen gezeichneten Stadt der Dritten Welt. Orientiert an oberflächlichen Fernsehbildern, glauben viele allen Ernstes, die berühmte Parade der Sambaschulen sei vor allem ein kommerzielles Touristenspektakel, von dem die Armen, Verelendeten weitgehend ausgeschlossen sind. Noch so ein unausrottbares Brasilien-Klischee. Stutzig machen sollten Basis-Fakten: Über fünfzig Sambaschulen, fast alle in den Slums, "Favelas" - Hunderttausende ihrer Bewohner bereiten dort über Monate jene ausgefeilte, gut durchkomponierte, jährlich bessere Mischung aus Oper, Ballett, Theaterstück, Musical, Kabarett vor, mit der dann jede "Escola de Samba" schließlich während der vier, fünf tollen Tage auf die Piste geht. In der DDR nannte man sowas künstlerisches Volksschaffen - von der Kalte-Kriegs-Journaille ebenso gnadenlos heruntergemacht wie nur zu oft, und bis heute, der Rio-Karneval. Jede Sambaschule beschäftigt zudem Schauspieler, Musiker, Kostüm-und Maskenbildner, präsentiert ihr Defilee-Thema mit nicht weniger als fünftausend, sechstausend Laiendarstellern - die allermeisten aus dem Slum. Ungezählte Details, die man - wie bei einem Bühnenwerk vorher im Programmheft erklärt - eigentlich kennen muß, um den Kontext, den ganzen Inhalt zu verstehen. Rio-Karneval ist auch eine Wissenschaft, mit der sich Soziologen, Anthropologen, Musikexperten, Doktoranden befassen.

An der vergleichsweise extrem platten, unbeholfen steif wirkenden Rosenmontagsparade von Köln oder Mainz sind gerade um die zweitausend Karnevalisten beteiligt - gemessen an den Dimensionen Rios also kaum der Rede wert.

Schuhputzer, Tagelöhner als erfolgreiche Komponisten

Bereits jetzt, kurz nach dem jüngsten Karneval, laufen die Vorbereitungen für den nächsten, grübeln in jeder Sambaschule bereits unzählige Laienkomponisten, wie das Motto für 2004 musikalisch umgesetzt werden kann. Schuhputzer, Hilfsarbeiter in ärmlichsten Verhältnissen hatten bereits die zündendsten Ideen, siegten bei den Wettbewerben um den Samba-Enredo, mit dem es dann im Frühjahr auf die Sambodrome-Piste ging, konnten es kaum fassen, ihren Samba auf CD gepreßt zu sehen, in den Radios zu hören.

Immer wieder aufschlußreich für einen wie mich, der seit 1986 fast ununterbrochen in Brasilien lebt, deutsche Parade-Zuschauer bei dem schwierigen Versuch zu beobachten, diese mit Abstand größte Show der Welt irgendwie politisch, soziokulturell "einzuordnen". Festgeklammert am Caipirinha-Glas fragt sich mancher - darf ich das denn gut finden, muß ich das nicht schärfstens verurteilen - hier diese Euphorie, Ekstase, verschwenderisch-teure Kostüme, Allegorienwagen - und dahinten die Hügelslums mit denen, die nichts, oder kaum was zu fressen haben? Selten werden Brasiliens Widersprüche deutlicher sichtbar als beim Rio-Karneval - und die Sambaschulen legen Wert darauf, sie immer deutlicher herauszustellen. Wer als Mitteleuropäer in Rio nur zuschaut, seine Berührungsängste, die üblichen Ängste vor Körperkontakt nicht überwindet, ist eigentlich verloren - das weltweit einmalige, auch in Brasilien konkurrenzlose Kulturphänomen Rio-Karneval erschließt sich nur übers intensive Mitmachen, vor allem bei der Parade, aber auch den Bällen, dem Karnevalszug des uralten Bola-Preta-Clubs am Opernhaus.
Bom - nun ist meine Sambaschule "Portela" leider nur Achter geworden - ich werds verschmerzen. Denn unser Defilee - ich zum xten Mal mittendrin - war wieder der reinste, schönste Lustgewinn pur. Die vierzehn Sambaschulen der Spitzenliga, darunter meine "Portela", investieren am meisten - jede umgerechnet bis zu drei Millionen Euro. Kostüme können bis zu 150000 Euro kosten, doch vielen reicht Körperbemalung. Eine Jury bewertet jede "Escola de Samba", denn es geht ja um Sieg und Platz. Elektrisierend, wenn mit Trillerpfeifen die letzten Kommandos gegeben werden, unsere hundertköpfige Bateria, bestimmt die beste des Erdballs, wie wild lostrommelt, Böller krachen, ein irrsinniges Feuerwerk in den nächtlichen Rio-Himmel schießt, unser tausendfacher Glücks-und Begeisterungsschrei die über hunderttausend auf den Rängen des Sambodroms ansteckt, mitreißt wie unser Samba, Leitmotiv der Farbenorgie. Und der Trommelrhythmus uns anfeuert, anregt wie Champagner und zehn starke Expressos zusammen, zu den irrwitzigsten improvisierten Schrittkombinationen anstachelt. Portela singt, tanzt, zeigt die wechselvolle Geschichte des City-Altstadtviertels "Cinelandia" - Treffpunkt der Cineasten, der Intellektuellen, Bohemiens, der Regimegegner und Stadtguerilleiros während der Militärdiktatur - die Namen, die Figuren, die besten Filme, Shows, Stücke, Episoden auch durch enorme Allegorienwagen dargestellt. Jeder einzelne Block hunderter Tänzer, so wie meiner der Harlekins - eine spezielle Idee, ein Kapitel des Cinelandia-Stücks. Und über fünftausend im eigentlich unbeschreiblichen Cinelandia-Sambarausch - hinterher, am Pistenende das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein, irgendwie bewußtseinserweitert, mit anderem Sinn, anderer Sensibilität für die Realitäten.

Irak-und Rio-Krieg als Karnevalsthema - "Schluß mit der Geldgier!"-

Die traditionellste Sambaschule Rios, Mangueira, bringt grandios Hebräer, Ägypter zu Zeiten von Ramses, selbst Moses auf die Parade-Bühne, tippt die Nahostkonflikte, den drohenden Irak-Ölkrieg der USA an - Friedensappell im Karneval - selten war das größte Volksfest der Erde so politisch, so realitätsorientiert. Kein Wunder - erstmals mußte der Carnaval wegen des zugespitzten Rio-Stadtkriegs der hochgerüsteten Banditenmilizen von den Streitkräften beschützt werden, gab es dennoch heftige, stundenlange Feuergefechte in Slums, an Stadtautobahnen, wurden sogar gleich neben dem Sambodrome im Trubel Leute erschossen, verwundet. Im extrem widersprüchlichen Brasilien geht all dies zusammen, für Europäer meist schwer begreiflich.
Mangueira verfehlt knapp den Paradesieg - Beija-Flor gewinnt mit nur einem Punkt Vorsprung - und dem sozialkritischsten Defilee: Misere, Hunger, Gewalt, soziale Kontraste, Tragödien Brasiliens - mit großartigen Szenen wie im Ballett, wie im politischen Theater. Ein Zitat aus dem Samba-Enredo, achtzig Minuten lang ununterbrochen lauthals gesungen, alles im Fernsehen übertragen:"Schluß mit diesem elend niedrigen Lohn, ich bin am Ersticken, beinahe am Ende, schreie es heraus. Schluß mit dieser Geldgier, ewig tolerieren wir die nicht."
Rio-Karneval - Opium fürs Volk? Klingt nicht grade so, viele Sambaschulen schlugen solche Töne an. Ganz offenkundig - eben kein vordergründiges, banales, kommerzielles Touristenspektakel, gar ähnlich dumpf-dümmlich, abstoßend unsinnlich, eklig profitorientiert wie die Love-Parade. Natürlich kein Vergleich - wer im Rio-Sambodrome mittanzt, mitsingt, zehrt von diesem auch ästhetischen Vergnügen womöglich viele Jahre.

Erste Welt "stocksteif, kopfgestört, fußlahm"

Arnaldo Jabor, Cineast, Starkolumnist, wohl bester Kenner seines eigenen Landes, bringt es auf den Punkt:"Unser Karneval ist ein feminines Fest, eine sexuelle, musikalische Utopie - die Sexualität der Frauen wird Brasilien retten, Vögeln ist bei uns Brasilianern so herrlich mit Musik, dem Essen, mit Spaß und Spielerei verknüpft." Die karnevalsfeindlichen Langweiler, selbstkontrollierten Kopfmenschen der Ersten Welt kriegen von ihm regelmäßig ihr Fett weg, weil sie immer nur noch mehr Komfort, Ordnung, Technologie wollten, immer naturentfremdeter wirkten :"Die haben den Rock, etwas sehr männliches - Rock ist Krieg, Karneval ist Luxus und Wollust, so feminin. Sie haben Lust am Leiden, kriegen davon gar einen Orgasmus - wir in den Tropen nehmen Sexualität als Spiel, Fest, Lachen."

Jabor-Kollege Marcio Moreira Alves haut in einer anderen Qualitätszeitung in die gleiche Kerbe:"Schwer zu glauben, daß der Rest der Welt nicht wie wir vier Tage mal Pause machte, um zu singen, zu tanzen, zu lieben." Und bezogen auf die Erste Welt, vor allem deren Oberschicht:"Diese Leute dort sind wirklich so - stocksteif, kopfgestört und auch noch fußlahm. Wenn sie mal grade nicht auf unsere Kosten Geld scheffeln, denken sie nur an Perversitäten - etwa ein schutzloses Land zu überfallen, dessen halbe Bevölkerung jünger als fünfzehn Jahre ist."
Übrigens kann man längst problemlos eine wunderschöne "Fantasia", das Karnevalskostüm der Sambaschulen, schon von Deutschland aus buchen - alles viel billiger, als manche denken. Der Lustgewinn - unbezahlbar.
 

Editorische Anmerkungen

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.:

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