Berichte aus Brasilien
Brasiliens bizarrer Mammutwahlkampf
Spekulationsdruck, Stimmenkauf und Wählermanipulation - Viagra gratis an Senioren - „Osama Bin Laden“ und „Die Fette vom Markt“ kandidieren


von Klaus Hart

10/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Adao Alves do Amaral will gerne in den Nationalkongreß – doch bisher kannte ihn kein Mensch. Das ist vorbei, seit er sich mit dem zugkräftigen Kandidatennamen Osama bin Laden offiziell registrieren ließ, auf dem dazugehörigen Foto mit Turban und grauem, langen Bart, ähnlich dem echten Osama. In Lateinamerikas größter Demokratie, dazu der zwölftgrößten Wirtschaftsnation, geht sowas – und noch viel mehr: Wer etwa mit dem Spitznamen in den Wahlkampf ziehen will, bittesehr. Da gibt es allen Ernstes „Die Fette vom Markt“, den Tiger, Regenwurm, Kohlkopf, den Bärtigen, den Langhaarigen, die Klapperschlange, Spinne, Gans – auch Namen populärer Sänger, TV-Moderatoren, Fußballspieler wie Ronaldo sind möglich. Oder stattdessen gleich eine Kurzbotschaft: „Den anderen Pech“. Im TV-Propagandaspot hat ein Kandidat stets einen Esel neben sich stehen, ein anderer sitzt immer auf einem Löwen. Beim Urnengang am sechsten Oktober steht viel auf dem Spiel, werden neben dem Staatschef, den Kongreßmitgliedern auch noch die Gouverneure und Abgeordneten der über zwanzig Teilstaaten bestimmt. Über 115 Millionen Pflichtwähler müssen an die Urnen, andernfalls drohen Sanktionen, Nachteile etwa bei der Arbeitssuche, bekommt man keinen Reisepaß. Auch wegen des inzwischen möglichen Sieges von Luis Inacio Lula da Silva, Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT, bereits im ersten Wahlgang, erhöhen Spekulanten, Banken, die in- und ausländische Wirtschaft den Druck, liegt Spannung spürbar in der Luft: Erstmals sank der Wert der Landeswährung Real unter den des argentinischen Peso, fallen erneut die Börsenkurse, ziehen Multis Kapital ab, zählt Brasilien nicht mehr zu den zehn für Direktanleger interessantesten Ländern. Letztes Jahr rangierte es nach den USA und China immer hin auf Platz drei, jetzt auf Platz dreizehn.

Viele Kandidaten greifen zu uralten – und brandneuen Tricks, der Stimmenkauf läuft auf Hochtouren: Gerade in den unterentwickelten Regionen des Hinterlands, in Amazonien können sich Frauen kostenlos sterilisieren lassen, bekommen Senioren kostenlos Viagra, andere eine Ladung Kies, Dachziegeln, ein Gebiß, eine Brille, ein Paar Plastiksandalen, gratis sogar Führerscheine. „Aber dafür mußt du mich wählen“, drohen Politiker, andernfalls gebe es Ärger. „Kauf und Verkauf von Stimmen gehören zu unserer Kultur“, so Jayme Chemello, Präsident der brasilianischen Bischofskonferenz/CNBB, das Volk sage ganz offen, sein Votum Politikern etwa im Tausch gegen irgendeine Arbeit zu geben. Doch die Kirche nimmt das nicht hin, mobilisiert auch dieses Jahr gegen die Wählermanipulation. Für Oligarchie-Kandidaten, so die CNBB, „ist wichtig, daß es immer viele Arme gibt, um sie in den nächsten Wahlen wieder einwickeln zu können.“ Marcos Steiner Mesquita, Menschenrechtsanwalt der Erzdiözese von Teresina, Hauptstadt des nordöstlichen Teilstaates Piaui, kennt alle Methoden inzwischen aus dem Effeff, sucht möglichst vielen Pflichtwählern die Augen zu öffnen. „Die Politiker sind extrem egoistisch, nutzen Misere, Analphabetismus, Desinformiertheit der Leute schamlos aus – die Oligarchiekandidaten gebärden sich wie einst hier die Sklavenhalter.“ Piaui, mit einer Fläche von etwa zwei Dritteln Deutschlands, zählt zu den Elendsregionen Brasiliens, ist derzeit von einer verheerenden Dürre betroffen. Vielen Politikern kommt das sehr entgegen. Gerade erhielt Mesquita eine Anzeige aus einem Peripherieviertel Teresinas – Kampagnehelfer eines rechtsgerichteten Kandidaten hatten die Bewohner bedroht:“Wenn ihr den nicht wählt, wird euch das Wasser abgestellt!“ Leider, so der Anwalt, ließen sich die Leute von Drohungen beeindrucken, daß man schon herauskriege, wer für wen votiert habe. Und tatsächlich wurde deshalb immer wieder das Wahlgeheimnis gebrochen, öffnete man Urnen, schaute den Pflichtwählern beim Ankreuzen über die Schultern, führte ihnen gar die Hand. Nur etwa 26 Prozent der Brasilianer ab fünfzehn sind in der Lage, ein Buch zu lesen und dessen Inhalt zu verstehen, gibt es nach wie vor Orte mit neunzig Prozent Analphabeten. Die sind auch laut Politikererfahrung gerührt und ewig dankbar, wenn ihnen etwa beim Tode des wegen Hunger und Unterernährung zugrundegegangenen Babies jemand nicht nur einen kleinen Papp-oder Holzsarg stellt, sondern auch eine simple Beerdigungszeremonie organisiert. Gerade in kraß unterentwickelten Teilstaaten wie Piaui, weiß Menschenrechtsanwalt Marcos Steiner Mesquita, sind Bürgermeister gewöhnlich die Hauptarbeitgeber am Ort, nutzen alle öffentlichen Einrichtungen zur Wahlhilfe, besonders den Gesundheitsdienst. „Ärzte, Krankenschwestern müssen Wahlkampagnen aktiv unterstützen – oder werden gefeuert – genau das passiert unglücklicherweise in diesen Tagen!“ Kandidaten verteilen an verelendete Familien Medikamente, besorgen einen Krankenwagen, Kindern den Schulplatz, bezahlen sogar Strom-und Wasserrechnungen. „Aber dafür müßt ihr mich wählen!“ Und auch das geht laut Anwalt Mesquita im Wahlgeschäft: Gerissene Stimmenhändler vereinbaren mit Kandidaten, ihnen gleich an die zehntausend Wähler „einzukaufen“ – für umgerechnet nur etwa zehntausend Euro – und das funktioniert.

Ein Geldschein am Wahltag

„Vor allem an den Wahltagen selber fließt hier in Piaui massenhaft Geld, viel Geld, wird ganz direkt verteilt – ein kleines Kandidatenfoto und dazu ein Zehn-Real-Schein.“ Grade mal an die drei Euro wert. Auch das gibts: Der Wahlhelfer zerschneidet eine Banknote in der Mitte, gibt aber die zweite Hälfte dem „Eingekauften“ erst nach dem Urnengang. „In Piaui Politiker zu sein, ist schließlich hochlukrativ – so wie eine erfolgreiche Unternehmerkarriere.“ Üblich ist zudem, öffentlichen Angestellten zwangsweise Geld für Wahlhilfe vom Lohn abzuziehen – obwohl diese der Partei des jeweiligen Kandidaten gar nicht angehören. „Für uns ist es enorm schwierig, so etwas gerichtsverwertbar zu beweisen – da keiner uns so einen Lohnscheck zeigen will, aus Angst, sofort entlassen zu werden. Oder er behauptet eben, mit dem Abzug völlig einverstanden zu sein.“

Viele Leute haben schlichtweg Hunger – also nutzen Kandidaten häufig Lebensmittel, darunter Suppe als Währung im Stimmenkauf. „Wer das dokumentieren will, bei so einer Aktion mit Kamera und Recorder auftaucht, riskiert, auf der Stelle gelyncht zu werden.“ Politiker und ihre Helfer passen auf wie die Schießhunde, daß ja kein Beweismaterial entsteht – immer wieder werden Fotoapparate entrissen, zerstört, sogar Beamte der Bundespolizei wurden vertrieben. Dennoch ist der Anwalt vorsichtig optimistisch, daß all diese Praktiken eines Tages verhindert werden können, hält fast täglich Vorträge, ermittelt. „Daß unsere Initiative überhaupt existiert, ist schon ein Erfolg, ein gutes Signal!“ Inzwischen gibt es auf Anregung der Bischofskonferenz solche Gruppen in zahlreichen brasilianischen Diözesen.

In Piaui dominiert die Rechtspartei PFL – auch landesweit sehr mächtig, Teil der Mitte-Rechts-Regierung von Staatschef Fernando Henrique Cardoso, FU-Berlin-Ehrendoktor.

Kandidaten, gerade in den rechtsfreien Räumen Amazoniens, lassen sich laut Untersuchungen ihren Wahlkampf von der Drogenmafia, dem organisierten Verbrechen finanzieren – sogar in Rio de Janeiro, unterm Zuckerhut, mauscheln Politiker mit den hochbewaffneten Banditenmilizen. Wollen Kandidaten in deren Hochburgen, den riesigen Slums, auf Stimmenfang gehen, brauchen sie das Okay der Gangster – und das kostet. Laut neuesten Angaben werden für einen einzigen Slumbesuch, ein einziges Meeting bis zu umgerechnet 15000 Euro verlangt – und auch bezahlt. Immer wieder wurde enthüllt, daß Gangsterbosse die Bewohner ganzer Slums anwiesen, für bestimmte Kandidaten zu votieren. Motto: „Wir unterstützen den Politiker, der uns unterstützt.“

elektronische Urnen – höhere Wahlbetrugschancen?

Fast siebzig Prozent der Brasilianer sehen die jetztige Mitte-Rechts-Regierung von Korruption durchtränkt, selbst dem Staatschef Cardoso wird Stimmenkauf zur Last gelegt. Daß auf Geheiß dieser Regierung im Oktober erstmals elektronisch votiert wird – man also wie in der Bank Nummern der Kandidaten eintippt, anstatt auf einem Wahlschein deren Namen anzukreuzen, wird mit viel Mißtrauen gesehen. „Die eletronische Abstimmung erhöht die Betrugschancen“, betont in der Hauptstadt Brasilia der Universitätsprofessor und Computerexperte Pedro Rezende, „früher undenkbare Fälschungsmethoden sind jetzt möglich.“ So könnten die Zählresultate, auf Diskette weitergegeben, durchaus auch von einer geclonten Urne stammen, wenige Software-Techniker vor allem, und nicht mehr nur die Auszähler, Wahlleiter hätten alles in der Hand. Was ist, wenn nachgezählt werden muß – und warum haben selbst moderne Staaten der Ersten Welt, wie beispielsweise Deutschland, dieses elektronische Votum noch nicht eingeführt, wird hier immer wieder öffentlich gefragt. Mindestens fünfundzwanzig Zahlen müssen korrekt eingetippt und bestätigt werden – auch von armen Voll-und Halbanalphabeten, die darin keinerlei Praxis haben. Monate vorm Wahltag wurden von gerissenen Kandidaten deshalb fertige Nummernzettel verteilt, „trainierte“ man Leute an nachgebauten Elektronik-Urnen.

Trotz der üblichen Stimmenkauf-und Manipulierungstaktiken haben es Brasiliens „demokratische“ Regierungen seit dem Ende der Militärdiktatur von 1985 immer wieder geschafft, internationale Wahlbeobachter fernzuhalten. Diesmal ergriff Sao Paulos Abgeordneter Joao Herrmann, Vizepräsident der Sozialistischen Volkspartei PPS, die Initiative, bat den UNO-Generalsekretär Kofi Annan brieflich, Beobachter zu entsenden. „Ich bezweifle, daß der Wahlprozeß ehrlich abläuft.“ Herrmann kennt sich aus, war selbst bereits UNO-Wahlbeobachter in mehreren Ländern, wirft dem Präsidentschaftskandidaten der Regierung, Josè Serra, Staatschef Cardoso und dem Wahlgericht vor, die bevorstehende Abstimmung zu manipulieren. Cardosos Reaktion:“Darauf antworte ich nicht, das gibt keinen Sinn.“ Interessanterweise wurde Herrmann von den Spitzenpolitikern aller politischen Lager zurückgepfiffen - sogar vom Präsidentschaftskandidaten der oppositionellen sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT, Luis Inacio „Lula“ da Silva, der immerhin zum vierten Male antritt.

„Brasiliens Sozialstruktur ist perfide und grausam“, so Herrmann, „wir haben eine Lügenkultur.“
Zwar rühmt sich Brasilien, die größte Demokratie Lateinamerikas zu sein – doch gleichzeitig hat dort wohl in keinem Land – auch dank Wahlkorruption - die „Democracia“ so wenige Anhänger. Gemäß einer repräsentativen Siebzehn-Länder-Studie sind nur 37 Prozent der Brasilianer uneingeschränkt dafür, ziehen sie jeder anderen Regierungsform, etwa einem autoritären Regime, vor.

Editorische Anmerkung

Der Autor schickte uns seinen Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

Jagen wie bei Hermann Göring
Ost-Naturschützer protestieren gegen neofeudales West-Jagdrecht
Ost-Umweltklischees und die Fakten
Truppenübungsplätze von NVA und Sowjetarmee waren Naturrefugien

Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

Klaus Hart veröffentlichte Außerdem im trend folgende Artikel: