Berichte aus Brasilien: Musik-Supermacht Brasilien (4)
Chico Buarque
„Größter Komponist und sensibelster Liedermacher der Geschichte“ - dazu engagierter Linker, Cuba-Fan, Frauenschwarm
von Klaus Hart
09/02
trend
onlinezeitungBriefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin Manche werden sich erinnern - „Bye, Bye Brasil“ war in den achtziger Jahren ein richtiger Kultfilm nicht nur in Deutschland, der gleichnamige Soundtrack ein Ohrwurm – komponiert, gesungen von Francisco Buarque de Holanda – kurz Chico Buarque. In den Hitparaden ist er schon lange nicht mehr, prägt indessen nach wie vor das Musikleben des Tropenlandes mit – kein Sambaschwoof ohne Titel von ihm – und selbst Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester, dirigiert von John Neschling in Sao Paulo, hat natürlich Stücke im Repertoire. Keiner, heißt es, habe in Liedern die schwierigen, widersprüchlichen Beziehungen zwischen Frau und Mann sensibler, sinnlicher beschrieben, interpretiert, als er. Wer in Brasilien sein „Songbook“ erwirbt, bekommt vier dicke Bücher mit 222 Texten und Partituren – dazu acht CDs, auf denen nicht weniger als 105 Sängerinnen und Sänger der Musica Popular Brasileira 112 Kompositionen Chico Buarques interpretieren. Alles, was Rang und Namen hat in der Szene, macht mit: Gilberto Gil, Maria Bethania, Tom Zè, Gal Costa, Nana Caymmi, Ed Motta, Zeca Pagodinho, Rita Lee, Caetano Veloso. Chico Buarque wird 1944 in Rio geboren, wächst aber in Sao Paulo und Italien auf, bricht ein Architekturstudium ab, steht 1964 - Jahr des Militärputschs - erstmals als Musiker auf der Bühne, hat 1966 mit dem poetischen Lied „A Banda“ (Die Kapelle) seinen nationalen – und internationalen Durchbruch – in Deutschland wird daraus ein Karnevalsmarsch über eine Mexikanerin „mit Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen“. Er kann sich auch nicht dagegen wehren, daß das Diktaturregime „A Banda“ sogar in der Fernsehpropaganda benutzt – sein Vater immerhin ein landesweit bekannter linker Intellektueller, Gründer der Arbeiterpartei PT, die erst jetzt nach rechts abdriftete, sozialdemokratisch wurde.
Meistverboten, meistzensiert
Ab 1969 geht Chico Buarque für zwei Jahre ins Exil nach Italien, nach der Rückkehr wird sein „Apesar de voce“ zur Anti-Diktatur-Hymne. 1973 schaltet die deutsche Polygram bei einem Konzert hektisch die Mikrophone aus, befürchtet durch Chico Buarques Lieder Regime-Repressalien. Er ist der meistverbotene, meistzensierte Künstler Brasiliens, trickst die Militärzensoren eine Weile aus, indem er sich hinter der Figur des erfundenen Julinho da Adelaide versteckt, der sogar Zeitungsinterviews gibt, mit Fotos erscheint, Chico Buarque schlechtmacht. Was Julinho da Adelaide an Doppelsinnigem einreicht, lassen die Aufpasser durchgehen. Wird Chico Buarque verhaftet, bitten ihn die Beamten der politischen Polizei um Autogramme. Er organisiert den Kulturaustausch mit Kuba, beteiligt sich nach dem Ende der Diktatur an der Anti-Hunger-Kampagne, Aktionen der Landlosenbewegung.
In Rio drängeln sich die Leute in einer Ausstellung am Hafen - achtzig Künstler – Maler, Bildhauer, Fotografen, Designer, Cartoonisten, sogar Regisseure – interpretieren Kompositionen von Chico Buarque. Der bringt es in den Neunzigern fertig, sich fünf Jahre sozusagen von der Welt zu verabschieden, keine Konzerte, keine neuen Lieder – zurückgezogen schreibt er dann Romane. Einer, O Estorvo, das Hindernis, ist auch in Deutschland erschienen, Titel „Der Gejagte“, Chico Buarque präsentiert das Buch persönlich am Verlagsstand auf der Frankfurter Buchmesse – claro, so gut wie keiner von den Literaturkritikern, Feuilleton-und Verlagsmenschen erkennt den Musikstar, nimmt von ihm Notiz. Jetzt wird auch sein zweiter Roman „Benjamin“ verfilmt.
Hat Chico Buarque eine spezielle Beziehung zu Berlin, Deutschland? Durchaus. Hier sucht er immer noch nach seinem Halbbruder – Frucht einer kurzen, heftigen, leidenschaftlichen Beziehung seines Vaters mit einer Deutschen.
Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin , Chef der brasilianischen Mitte-Rechts-Regierung, Ex-Soziologe, Großgrundbesitzer, nennt Chico Buarque, dessen Musik in Interviews rückwärtsgewandt, überholt, out, lobt dafür Caetano Veloso und Gilberto Gil. Klar, die hatten Cardoso und seinen rechten Haufen im Wahlkampf von 1994 kräftig unterstützt, mögen ihn weiter - Chico Buarque dagegen stand zur linken Opposition, attackiert Cardosos Neoliberalismus - in keinem lateinamerikanischem Land sind schließlich die sozialen Unterschiede krasser, ungerechter, absurder. Und die Eliten? „Kulturloser, ungebildeter als je zuvor“, sagt er im Interview.
Jabaculè – Brasiliens Musik-Korruption
Von mitteleuropäischen Radios erhält Chico Buarque mehr Tantiemen als von brasilianischen – obwohl etwa in Deutschland viel weniger seiner Titel gespielt werden. Er erklärt das mit der vorherrschenden Korruption – kein Musiker wisse auch , wieviele Tonträger von ihm wirklich verkauft worden seien, auch die nationalen Filmemacher würden um Einnahmen betrogen. Ein raffiniertes System von Bestechung, Begünstigung und Absprachen, genannt Jabaculè, sorgt seit Jahrzehnten in Brasilien dafür, daß selbst minderwertiger Wegwerf-Pop täglich solange dutzendfach in Radio und TV gespielt wird, bis er zum Verkaufshit avanciert. Jabaculè, so betont Chico Buarque, füge der nationalen Kultur schweren Schaden zu.
Und der Musiker privat? Der sensible, manchmal direkt schüchtern wirkende Compositor, Cantor, Artista mit den schieferblauen Augen, brasilianischem Charme, sieht blendend aus, durchtrainiert vom regelmäßigen Fußballspielen mit seiner eigenen Mannschaft. Drei Töchter hat er, eine davon ist mit dem schwarzen Musiker Carlinhos Brown aus Bahia liiert, hat mit ihm zwei Kinder. Dreißig Jahre bildet Chico mit der Schauspielerin Marieta Severo das romantische Traumpaar der Nation, noch dazu ohne Trauschein, sozusagen leuchtendes, anspornendes Beispiel im brasilianischen Meer heftigster Beziehungskrisen. Als sich das Traumpaar trennt - ob nun wegen behaupteten Seitensprüngen Chicos oder nicht - ist die Nation entsetzt, mit ihren Paartherapeuten wollen die Klienten erstmal nur darüber diskutieren. Frauenschwarm Chico lebt im Rio-Stadtteil Leblon bis auf weiteres allein, wird von Brasilianerinnen bedrängt, verfolgt wie nie zuvor, flüchtet gelegentlich in seine Pariser Zweitwohnung, war dort Nachbar von Jorge Amado. Seine ganz jungen Fans werden erstaunlicherweise immer mehr, schicken ihm haufenweise e-mails. Derzeit ergötzt sich die Nation an der fast völlig neu gedichteten, portugiesischen Version von Cole Porters „Lets do it“, die Chico Buarque zusammen mit der hinreißenden dunkelhäutigen, inzwischen 65-jährigen Elza Soares singt - Witwe von Manè Garrincha, brasilianisches Fußballidol vor Pelè.
Editorische Anmerkung:
Der Autor schickte uns seinen im August 2002 zur Veröffentlichung.
Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.
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