Berichte aus Brasilien
„So wie Hitler zur Nazizeit“
Medienzensur im brasilianischen Wahlkampf
Nur Sao Paulos Inforadio Eldorado protestiert
von Klaus Hart
09/02
 

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Brasilien, 24-mal größer als Deutschland, nennt sich stolz die größte Demokratie Lateinamerikas, hat indessen noch Zensurgesetze, die vor allem rechtsgerichtete Politiker, Diktaturaktivisten von einst, begünstigen. So ist es Rundfunk und Fernsehen vor den Präsidentschafts-,Gouverneurs-und Parlamentswahlen von Anfang Oktober verboten, Kandidaten, Parteien, Wahlbündnisse kritisch unter die Lupe zu nehmen, zu bewerten, zu kommentieren, den weit über 100 Millionen Pflichtwählern von zumeist sehr niedrigem Bildungsgrad damit wichtige Orientierung zu geben. Wer es dennoch wagt, wird sofort mit hohen Bußgeldern abgestraft.

In der 17-Millionenstadt Sao Paulo, größter deutscher Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands, bringt der Infosender „Radio Eldorado“ derzeit mindestens einmal pro Stunde diese Ansage: „Liebe Hörer, das Wahlgesetz verbietet uns jegliche Äußerung für oder gegen einen Kandidaten, für oder gegen Parteien und deren Bündnisse – und das ist Vorzensur, nicht unsere Absicht – wir bitten um Entschuldigung. Doch vor Gericht streiten wir gegen dieses Gesetz, für die völlige Freiheit der Information und Kritik!“

Der kleine, sehr engagierte private Sender, der vehement gegen die 21-jährige Militärdiktatur opponierte, machte bereits sehr schmerzhafte Erfahrungen mit dem Zensurgesetz, paßt laut Eldorado-Senderchef Joao Lara Mesquita derzeit höllisch auf.

ungezählte Politiker als Medienbosse

“Vor zwei Jahren haben wir in einem Kommentar den rechtsgerichteten Kandidaten Paulo Maluf beleuchtet – und der hat uns sofort zu einer Buße von umgerechnet etwa 250000 Dollar verurteilen lassen. Eine solche Summe aufzubringen, ist für ein kleines Radio elend schwer. Der Großunternehmer Maluf ist wie die meisten anderen Politiker sehr reich, sehr mächtig, sie alle haben derzeit gigantische Teams im Einsatz, die rund um die Uhr sämtliche brasilianischen Sender überwachen – auch um sofort Gegendarstellungen zu erwirken. Das ist mehr oder weniger das, was Hitler zur Nazizeit gemacht hat. Das Schlimme – alle Politiker aller Lager waren für dieses Wahlgesetz – denn die größten Medienbesitzer dieses Landes sind Politiker, die meisten politischen Führer haben Mini-Kommunikationsimperien.“ Die Mehrheit der Kongreßabgeordneten sind Unternehmer, über zwanzig Prozent Millionäre. Von etwa dreitausend Radios gehören immerhin rund tausend Gouverneuren, Abgeordneten und Senatoren – weitere tausend Sekten und Kirchen. Senderlizenzen vergibt der Staatschef persönlich, meist aus politisch-taktischen Gründen. Der nach wie vor sehr einflußreiche konservative Senator Jose Sarney teilte als Präsident 1200 Konzessionen an Politiker aus, damit diese für eine Verlängerung seiner Amtszeit stimmen. Sein eigener Clan im Nordost-Teilstaate Maranhao hat alleine elf Senderlizenzen. Für den Präsidenten des nationalen Kommunikationsrates, Josè Cavalcanti, ist das Zensurgesetz deshalb geradezu wichtig für die Demokratie: Da praktisch alle TV-und Rundfunksender durch politische Gruppierungen kontrolliert würden, könnten sie andernfalls zugunsten der eigenen Besitzer und deren Bündnispartnern instrumentiert werden.

Paulo Maluf, berüchtigt wegen Machtmißbrauch und Korruptionsfällen, hat bei den Oktoberwahlen beste Chancen, erneut Gouverneur des wirtschaftlich führenden Teilstaates Sao Paulo zu werden – weil der angesehene Kommentator Arnaldo Jabor es wagte, ihn im Radio zu kritisieren, wurde er zum jüngsten Opfer Malufs – wieder ein sehr hohes Bußgeld. Arnaldo Jabor war bereit, gegenüber dem Trend den Fall zu erläutern – doch dann haben die Anwälte es ihm verboten – so streng sind die Sitten in Brasilien. Laut Senderchef Mesquita gibt es eben noch Überreste der Diktatur.
“Unglücklicherweise ist das Bildungsniveau in Brasilien sehr niedrig – oft votiert jemand nur deshalb für einen Politiker, weil er mal dessen Namen gehört hat. Und die Politiker wissen eben genau, welche enorme Bedeutung Radio und Fernsehen in einem Land mit hoher Analphabetenrate haben. Die wissen – so ein Sender alleine kann schon garantieren, daß jemand gewählt wird. Das Zensurgesetz gilt interessanterweise nicht für die Presse – aber vor der haben die Politiker auch keine Angst – denn nur eine relativ kleine Minderheit liest ja Zeitungen. Aber weil die Masse Fernsehen und Radio konsumiert, treffen sie ihre Vorsichtsmaßnahmen – einfach furchtbar!“ In der Tat bringen Brasiliens Qualitätszeitungen derzeit jede Menge kritischer bis vernichtender Hintergrundinformationen über Kandidaten – auf die Meinungsbildung der Wählermassen hat das so gut wie keinen Einfluß. Nur sechsundzwanzig Prozent der Brasilianer sind gemäß neuesten Studien in der Lage, ein Buch oder einen längeren Zeitungstext zu lesen und den Inhalt zu verstehen. Bei der jüngsten PISA-Erhebung wurden die Fünfzehnjährigen wegen der extrem schlechten Leseleistungen deshalb praktisch als funktionelle Analphabeten eingestuft.
Anders als in Deutschland ist das Spektrum der Analysen und Meinungen in den Qualitätsblättern zudem viel größer – Zeitungen vom Typus der FAZ, der Süddeutschen oder der FR haben keinerlei Hemmungen, Kapitalismus-, System und USA-Kritikern auch von weit links sehr viel Platz, darunter in Wochenkolumnen, einzuräumen – wie es in der deutschen Presse absolut undenkbar wäre. Die zynischen Machteliten Brasiliens wollen sozusagen „im Wortlaut“ wissen, was die Gegenseite denkt.

Zwangsprogramme, stundenlange Gratis-Kandidatenpropaganda

Brasiliens Rundfunksender müssen seit 1935 jeden Wochentag meist auch noch gleichzeitig etwa eine Stunde das von Regierung und Kongreß produzierte Propagandaprogramm „Stimme Brasiliens“ übertragen – laut Joao Lara Mesquita inspiriert von den Volksempfänger-Programmen der Nazis. Zwei Monate vor dem Oktober-Urnengang kommt in Radio und Fernsehen Brasiliens noch stundenlange tägliche Kandidatenwerbung dazu. Radio Eldorado erreichte juristisch, wenigstens die „Stimme Brasiliens“ nicht mehr senden zu müssen – ein enormer Sieg, mit Risiken.

“Der Staatspräsident kann hier ohne Begründung UKW-Lizenzen entziehen – muß das vor niemandem verteidigen – ob das nun unethisch ist oder nicht, ein schwarzer Fleck auf dessen Karriere-Weste. Derzeit können wir eben höchstens mit dieser Ansage protestieren – die Hörer daran erinnern, daß wir jetzt den Mund halten, nicht weil wir wollen – sondern weil wir müssen – vom Gesetz erzwungen.“

Doch Senderchef Mesquita und seine Redakteure sind sich der begrenzten Wirkung dieses Protests bewußt. Denn von den über zwanzig Millionen Bewohnern im Großraum Sao Paulos, von den über 170 Millionen Einwohnern Brasiliens hören stündlich nur etwa 250000 zumeist überdurchschnittlich Gebildete – mehr als siebzig Prozent mit Uni-Abschluß - das beste Inforadio des Tropenlandes.
 

Editorische Anmerkung:

Der Autor schickte uns seinen im August 2002 zur Veröffentlichung.

Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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