Ost-West-Vergleiche
Die enterotisierte Gesellschaft
Ängste als größte Erotikkiller -Sinnliches Verhalten wird zunehmend verlernt

von Klaus Hart

12/02
 
 
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Was ist los mit den Deutschen? Mangel an Begehren, abnehmende Libido, so konstatieren Sexualwissenschaftler und Psychologen, ist Regel, nicht Ausnahme – man blicke nur in Gesichter, im Alltag, in der Freizeit. Rühr-mich-nicht-an-Ambiente selbst in Bars und Diskotheken – die schönste Sache der Welt kommt aus der Mode, besonders bei den vielen Singles, wird richtiggehend verlernt;  Flirten, köstliche Blickkontakte sowieso. Erinnert sich jemand, wie häufig man noch in den Siebzigern, Achtzigern Leute sah, die in aller Öffentlichkeit schmusten, herumknutschten? Die  Lust zu zweit schrumpfte inzwischen spürbar, Triebverlust bei gleichzeitiger sexueller Reizüberflutung via Medien und Internet wird ein Massenphänomen. Der Zauber ist ziemlich hin, Sexualität, Erotik werden trivialisiert, banalisiert, entwertet. Männer und Frauen, man spürt es, sind über ihre Rollen verunsichert. Zwanzig-bis Dreißigjährige schlafen seltener mit jemandem, den sie mögen, als Fünfzigjährige – das gabs sicher noch nie in diesem Land. Beispiele hat jeder genug, aus seiner Privatsphäre, dem Bekanntenkreis, dem Alltagserleben.

Einst strömte Ostberlins Jugend zu Nina Hagen und Manfred Krug, Karat oder den Puhdys zum Schwoofen  in die Kongreßhalle am Alexanderplatz – seit der „Wende“ ist das vorbei, jetzt gibts dafür dort alle paar Wochen eine so genannte Erotikmesse, die neue westliche Wertvorstellungen über Sexualität, Sinnlichkeit propagiert;  alles banal und platt und kommerziell – das Gegenteil von denen der DDR.  Mit dem Segen der Kulturbehörden hängen zuvor tausende Farbposter überall in der Stadt, auch vor den Amtssitzen von Fischer, Schröder und Trittin.  Kindergartenkinder, Schüler, alte Frauen bleiben stehen, schauen sich die enormen nackten Brüste eines Models an, das ohne Höschen die Beine appellativ ganz, ganz weit aufspreizt. Aha, denken sich da schon die Minderjährigen, das ist heuzutage, in rot-grünen Zeiten,  also Erotik – sowas, denken sich die Mädchen, erwarten also die Jungen, die Männer von unsereinem, so ähnlich müßten wir aussehen, uns geben. Erotik – eine Ware. Auf manchen Postern im Osten  klebt auf den Schamhaaren ein weißer Zettel: “Atomkraftwerke zerstören die Umwelt – Pornographie zerstört die Seele“. Überall sehen wir Frauen, seltener Männer, in exhibitionistisch-verführerischen Posen, was ja angeblich Lust machen soll - oder könnte -  jemanden ebenso oder ähnlich zu verführen. Nur passiert eben genau das Gegenteil. Der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt sagt, in den westlichen Industrieländern veröde geradezu die heterosexuelle Erotik – und auch sein ostdeutscher Kollege Kurt Starke aus Leipzig, Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualwissenschaft, konstatiert, daß den Leuten  die Lust abhanden kommt – und ohne Lust, ohne Begehren gibts nun mal keine Erotik, verhält sich keiner verführerisch, erotisch eben.

“Die Vermarktung des Sexuellen, die Vermarktung von weiblichen Körpern, die Entwertung des Menschen vor allen Dingen auch in der Werbung sind natürlich außerordentlich gefährlich für Lust“, sagt Starke zum Trend.  „Also insbesondere Frauenfleisch wird ja vermarktet, es wird alles sexualisiert. Und der Gegenprozeß ist die Entsinnlichung, die Desexualisierung. Das ist ne ganz eigenartige Geschichte – daß nämlich die ständige Präsenz des Sexuellen in der Öffentlichkeit das Maß an Sinnlichkeit einer Gesellschaft nicht erhöht, sondern senkt.“  Westjournalisten werden bis heute nicht müde,  just jene fehlende Kommerz-Präsenz des Sexuellen, die in der DDR fehlende Frauenvermarktung als schlagenden Beweis für damalige Lustfeindlichkeit, verordneten Puritanismus hinzustellen.

Und heute? Was läuft im Kopf von Durchschnittsfrauen ab, die täglich, an Zeitungskiosken, Werbetafeln, im Fernsehen umzingelt sind von nackten Models,  in sogenannten verführerischen Posen? “Also, wenn man das beobachtet –  da steht dann ne einfache Frau – und sie sieht die tausend Frauen, die alle viel schöner aussehen – und viel nackter sind. Dann ist die klein, ein Nichts. Und das ist nicht gerade selbstbewußtseinsfördernd. Es wird  auch Begehren von Männern mißbraucht. Man kommt als Mann in ne ganz eigenartige Situation.“

kryptofaschistische Leitbilder, neue Sex-Erfahrungen von Ostdeutschen

Diese vorgestanzten Leitbilder von Erotik und Schönheit, die nachdenklichen Zeitgenossen sogar kryptofaschistisch vorkommen,  an die SS-Idealmenschen erinnern – diese aggressiv wie nie zuvor propagierten Leitbilder in einer  neoliberalen Gesellschaft sorgen heute für beträchtliche Ängste, für Leidensdruck. Nicht nur bei älteren, erwachsenen Frauen, sogar bei ganz jungen Mädchen. Mütter, denen sowas gottseidank in ihrer DDR-Jugend erspart blieb, fassen sich an den Kopf. Erika Maas zum Beispiel, aus Berlin.

“Ich kenns aus eigenen Erleben -  weil beispielsweise die Freundinnen von meinen Söhnen alle Angst haben, daß sie Idealen nicht entsprechen. Daß sie nicht schlank genug sind, daß der Busen zu klein ist, daß er zu groß ist, daß er nicht fest genug ist, daß der Bauch nicht flach genug ist, daß die Beine nicht schön lang sind, daß die Haare nicht so glänzen, wie man sichs vorstellt. Also all das, womit sie ja in den Medien und den Hochglanzzeitungen und in Filmen berieselt werden. Und deshalb eben nicht wie wir damals entspannt,  wollüstig,  erotisch im Bett liegen, sondern sich im Hinterkopf überlegen, wie muß ich mich jetzt hinräkeln, damit mein Rücken schön grade ist, daß mein Bauch wunderschön aussieht, meine Haare sich günstig um mein Gesicht schlängeln. Das sind doch alles Dinge, die einen fertigmachen. Der Trend geht doch dahin, daß sie sich ihre Lippen aufspritzen, die Brüste  verkleinern, vergrößern lassen – und das ist natürlich total unerotisch – du bist ja nicht mehr du selbst. Und auch das ist neu für uns aus dem Osten - heute empfinden ne Menge Leute Sexualität als schmutzig, weil sie  oft so eklig, dreckig,  brutal und so ordinär  unter die Leute gebracht wird. Daß eben das, was zwei da zusammen tun, überhaupt nicht als schön empfunden wird.“

Schon manche Siebzehnjährige meinen, daß einem da die Lust auf Sexualität vergehen kann: „Alles wird brutal und demütigend dargestellt.“ Sogar in den Jugendzeitschriften.

Sabine Bertram aus Berlin-Charlottenburg, Anfang zwanzig, freut sich aufs Studium, wirkt offen, natürlich, lebenslustig. Doch im Alltag, auf der Straße, fühlt sie sich hilf-und wehrlos, wenn ein Mann ganz nahe vorbeigeht, ihr „geile Titten“ und ähnlich Obszönes direkt ins Gesicht sagt. „Da denke ich, na super, danke, wie schön, wieder mal auf meine Oberweite reduziert zu werden. Das passiert mir wirklich einmal pro Tag – ich bin sogar schon betatscht worden . Lust auf Männer macht mir das nicht gerade.“Fünf Jahre früher hatte sie die noch reichlich, war neugierig auf die schönste, köstlichste Sache der Welt, bekam indessen schnell eine aufs Dach:“Ein paarmal sind Dinge absolut gegen meinen Willen passiert – ich wills nicht deutlicher ausdrücken – bin ich extrem sexistisch behandelt worden. Nach diesen Erlebnissen habe ich eine richtige Barriere, traue mich nicht mehr, denke, ich werde wieder verletzt. Diese schönen kleinen Signale, so wie früher, wenn mir einer gefiel, die sende ich schon lange nicht mehr aus.“ Sechs von zehn Mädchen, so ihre Erfahrung, könnten sich selbst nicht leiden – just wegen des Diktats der Leitbilder. Und blockten dann jeden noch so ehrlich gemeinten Annäherungsversuch ab, kämen überhaupt nicht auf die Idee, erotische Signale auszusenden. Kalkül:“Früher oder später würde der ja im Bett mitkriegen, wie furchtbar ich aussehe, ich womöglich noch ungeschminkt.“

Auch Ulrike Brandenburg, Sexualwissenschaftlerin am Universitätsklinikum Aachen, registriert gerade bei jungen Frauen zunehmende Angst vor Hingabe und Intimität:“Wir kriegen eine Höllenangst, wenn es darum geht, uns schutzlos und intim zu zeigen.“ Man fühle große emotionale Unsicherheit, leugne sie aber meistens weg.

Wir leben in einem freien Land, heißt es immer, nie sei die persönliche Freiheit größer gewesen als heute. Doch ausgerechnet für Lust und Erotik gilt das nicht, da trauen sich die Leute immer weniger, wie Professor Starke herausfand.

“Angst ist der größte Lustkiller -  Angst ist der größte Erotikkiller. Diese latente Kriminalisierung von Erotik, die Tatsache, daß man dem anderen nur Schlechtes zutraut, vorwiegend den Männern, wirkt sich so aus, daß Männer verunsichert werden. Die haben wirklich Angst, sich mit dem anderen Geschlecht einzulassen,  haben Angst vorm ersten Mal, haben Berührungsängste,  Ängste zu versagen, Ängste, nicht so zu sein, wie das öffentliche Bild vom überlegenen Mann das darstellt – und da lassen sies dann ganz einfach.“

 Starke sieht das Hauptproblem  in den  „Grundlagen der Gesellschaft – wie Menschen sich in eine Gesellschaft einbringen können, wie sie diese gestalten können. Wenn Jugendliche wissen, ich werde ja garnicht gebraucht, ich kriege keine Lehrstelle, ich werde nicht gebraucht -  das ist doch wirklich das allerletzte. In einer Gesellschaft, wo nur  Sieger zählen, ist der Unterlegene nichts.“

Der spürt laut  Starke besonders im Osten Arbeitslosigkeit, Mobbing, Streß, berufliche Abwertung, die wachsende lusttötende Rolle des Geldes. Alles, was früher unbekannt war. Es gebe wieder viel mehr Hierarchien, man müsse sich mehr ducken. Und komme sich daher persönlich lieber nicht so nahe, weil man dadurch verletzlich werde -  etwas von sich zeigen könnte, das andere dann ausnutzen. Also lieber sehr selbstkontrolliert sein. Wie empfinden das junge Leute?

Eigene Erotik als Marktwert

Benjamin Walther, Student in Berlin: “Diese Belastung, die man im täglichen Alltagsstreß hat, diese Selbstvermarktung -  wie man seinen Marktwert aufbaut – ich denke, daß sich viele da ver-drehen, und im Endeffekt garnicht mehr wissen, wer sie selber sind. Dieser Trend in der Gesellschaft – alles immer schneller, mehr technokratisch - wie soll da noch Erotik aufkommen? Wieviele erotische Situationen ergeben sich in so einem  Alltag? So gut wie null. Die Leute sehen ihre Erotik, ihr Aussehen wie einen Marktwert an – und das ist enterotisierend.  Wenn Erotik als Marktwert gesehen wird, eine Frau sich nicht mehr wie selbstverständlich als erotisch, schön, attraktiv, begehrenswert empfindet,  sondern weiß, das ist heutzutage ein  Marktwert -  da blitzt du einfach nur knallhart ab, da prallste ab.“

Angst als Lust-und Erotikkiller –  das bestätigen alle, die ich befragte. Die Grundstimmung in der deutschen Gesellschaft habe natürlich Einfluß darauf, wie erotisch, wie lustvoll die Leute seien. Erika Maas:“Wenn du Angst vor Arbeitslosigkeit hast, wenn du arbeitslos bist, wenn du in nem Kreis von Leuten arbeitest, wo du Druck ausgesetzt bist, oder dich zu alt fühlst – und  heute fühlt man sich ja schon mit vierzig als alter Knochen. Das sind  Dinge, wo man über sich nachdenkt -  und findet sich nicht mehr  arbeitsmarktfähig - und eben auch  nicht mehr begehrenswert. Wie sollste denn ein Selbstwertgefühl entwickeln, wenn du an keiner Stelle in dieser Gesellschaft gebraucht wirst? Wenn Menschen sich selber infragestellen, sind sie natürlich verschlossen. Und wenn Leute keine Kinder mehr kriegen wollen, hat das mit der  Angst zu tun, nicht mehr alles im Griff zu haben.“

Clever und effizient und cool zu sein, und immer selbstkontrolliert – das wird heute belohnt. Sehr anstrengend, weil man dann nicht mehr echt, bestenfalls geheuchelt spontan sein kann. Deutliche, interessante erotische Signale aussenden, jemandem, den man mag, Lust und Begehren, Lust auf Verführen zu signalisieren – das passiert dann natürlich nicht mehr. Wer sich in den bewegendsten Situationen gelassen, scheinbar gefühllos verhält, cool eben, der wird dann auch so, analysiert Starke. Wer hats nicht schon erlebt? Die Parties immer langweiliger, nichts knistert und  prickelt, nichts passiert da mehr – in der Disco-Szene meist das gleiche. Bestenfalls manchmal grotesker, lächerlicher Narzißmus, wie auf der Love-Parade. Die Partnersuche – deshalb unerhört schwierig, meint nicht nur Starke. Männer, Frauen, soviele Singles, die gerne einen Partner hätten, gehen selbst in feurige Salsa-Discos, lassen sich aber nichts anmerken. Kommen alleine, tanzen ab, gehen alleine, manchmal jahrelang. Ganz extrem in der Technoszene.

Kunst des Verführens in Mißkredit

Professor Starke: “Man zeigt sich da, man präsentiert sich, großes Körperbewußtsein, sehr freier Umgang. Aber die Körper kommen nicht zueinander, sind eigentlich isolierte Wesen. Eine  ganz schwierige Geschichte, daß die Menschen, wohin man auch immer heutzutage geht, nicht sofort aufeinander fliegen. Daß es so schwer ist, so schwer geworden ist – selbst  bei einem per Annonce geplanten Rendezvous. Spontan sein, aber mit einer  inneren erotischen Kultur – das fällt  Menschen heute sehr schwer – und das ist auch nicht so ohne weiteres erlernbar. Die Kunst des Verführens ist in Mißkredit geraten. Und das ist ein Kulturverlust.“

Nur zu viele stimmen Starke  aus leidvoller eigener Erfahrung, von  Parties oder Festen, mit Jüngeren oder Älteren, zu.

Karin Belling etwa, Westberlinerin, hat viele Beispiele parat, stieß auf so einen scheinbar Coolen: “Dieser Mann möchte so gerne  jemanden kennenlernen, hätte jetzt mal die Gelegenheit bei zwei, drei Frauen, die er besonders gut findet. Doch er tut eben  cool, als hätte er keine  Problemen,  gar ne Freundin irgendwo, die er nur  nicht mitgebracht hat  Er unterhält sich total sachlich -  wenn es überhaupt soweit kommt. Häufig ist es ja so, daß nur noch geguckt wird, so indirekt, bloß aus Angst, näher auf jemanden zuzugehen. Die Jungs gehen erst mal ganz cool auf die Mädchen zu – aber dann entwickelt sich nicht mehr, die Berührungsängste sind einfach zu groß. Bei den Jungen totales Imponiergehabe,  Hahnenkampf, aber nichts dahinter. Wenns wirklich draufankommt, sind sie weg. Blasen sich eben nur auf. Getanzt wird ganz wenig, es passiert nichts mehr. Seit den Achtzigern geht es so bergab. . Wichtiger wurde Business, Erfolg zu haben – und ein Körperimage auf Kosten der Sinnlichkeit. Vorbei ist dieses Aufeinanderzugehen, sich aufeinander einlassen, gefühlsmäßig etwas riskieren. Das ist es - bloß nichts riskieren!“

Benjamin Walther, der Student, kennt die Clubs, die HipHop-Szene:

“Es sind jede Menge schöne Menschen unterwegs in den Clubs – aber erscheinen  unnahbar. Sie steigern sich in ein  High-Society-Feeling rein -  man ist  hip und darin geht man auf -  man braucht niemanden mehr. Die Leute ballern sich zu mit Ego-Drogen -  wie soll das erotische Stimmung fördern? So viele schöne Frauen, aber soviele unfähig, sich selbst zu genießen . Auch unfähig,  zu genießen, wie Männer sie anschauen. Wie viele Frauen sind denn noch fähig zur Zärtlichkeit –  nicht mehr selbstverständlich. Es existiert so wenig Liebe in der Gesellschaft.“

Enterotisierung im Osten – Nachwende-Kulturverluste

Selbst  im tiefsten Sachsen, im früheren Karl-Marx-Stadt,  kam offenbar dieser  Enterotisierungstrend an, klingt bei Befragten sehr viel Nostalgie durch. Sabine Saleck arbeitet täglich mit jungen Leuten, vergleicht mit ihrer Jugend, stellt gravierende Veränderungen fest:  “Was  Sex, Sinnlichkeit, Erotik der Ostdeutschen betrifft, hat die Wende vieles zerstört. Was ich beobachte, ist einfach traurig. Die Ostjugendlichen heute haben weniger Geschlechtsverkehr als wir damals. Sie spielen den coolen Typ, aber trauen sich nicht -  das ganze Verhältnis untereinander, die zwischenmenschlichen Beziehungen sind ja kälter geworden. Lächerlich, wie das in den  Discos heute abläuft -  da tanzen die Jungs für sich, die Mädchen für sich -  es ist grauenhaft. Da prickelt nichts mehr.  Die Mädchen  reden viel über andere, über diesen und jenen  süßen geilen Typ, gehen aber alleine nach Hause – wir hätten ihn uns geschnappt. Bei uns war das prickelnder. Daß, und wie  der Junge anders fühlt, die Erfahrung mußt du erst mal machen – die machen die jetzt alle nicht.“ Westdeutschen auch diese ganz speziellen Nachwende-Kulturverluste zu vermitteln – gewöhnlich so gut wie unmöglich.

Erika Maas in Berlin fällt auf, daß es für die Männer viel anstrengender geworden ist, ihnen viel mehr Abneigung, Ablehnung entgegenschlägt – und sie daher direkt Angst haben, erotisch eine Frau zu erobern.

“Wenn ich in Cafes bin oder unterwegs, empfinde ich sehr selten, daß Leute erotische Signale ausstrahlen –  eher sind die doch alle verschlossen. Eine freie Atmosphäre, wie man sie etwa  Italien erlebt, mit  Blickkontakt und Komplimenten – das findet ja leider hier nicht statt. In meinem Kollegen-und Freundeskreis sind  ne Menge Leute mit jener Flexibilität,  die heute Arbeitskräften abverlangt wird. Die arbeiten fürn halbes Jahr in Hamburg, dann zwei Jahre in Köln,  und dann vielleicht fürn halbes Jahr in  New York. Das sind Menschen, die ohne Sexualität und Erotik leben. Wenn du immerzu in ner fremden Stadt bist, immerzu unter  neuen Kollegen abchecken mußt,  wie du dich in diesen Kreisen zu bewegen hast, bleibt für Erotik und Sexualität weder Zeit noch Raum. Und  auch gar keine Offenheit. Und so viele Menschen gibts gar nicht auf der Welt, die für dich so spannend, so erotisierend, so vertraut sind, daß du bereit bist, dich zu öffnen. Das kann nicht klappen.“

Das Verrückte dabei  -  Professor Starke hats in Untersuchungen ermittelt:  So viele träumen in Wahrheit vom freien Ausleben erotischer Gefühle, möglichst romantisch, vom Verführen, vom Erobern oder Erobertwerden. Müssen wir diese neue enterotisierte Gesellschaft nun leider Gottes hinnehmen, gibts  keinen Ausweg? Starke sieht einen,  nimmt sich den modernen Kapitalismus  vor.

“Wir müssen aus dieser angstsozialisierten Gesellschaft, aus den angstsozialisierten Individuen freie Individuen machen. Sicherlich  muß man ständig  auch  dafür kämpfen, daß lust-und glücksverheißende Bedingungen geschaffen werden.  Zum Beispiel dafür,  daß Menschen gerne Kinder kriegen –  auch etwas sehr Lustvolles, Lebenszugewandtes. Wenn Menschen optimistisch in die Zukunft schauen –  ist auch die Erotik gesichert,  die Sinnlichkeit.  Dann geht diese Angst weg – und die Menschen können  sich fröhlich ineinander verlieben.“

Editorische Anmerkungen

Der Autor schickte uns seinen Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

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Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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