Berichte aus Brasilien

Rio de Janeiros Slum „Gottesstadt“ – der Schwarze Schriftsteller Paulo Lins enthüllt Brasiliens „Apartheid social“ schonungslos und schockierend:
„Ein Mörderstaat“
Als Film demnächst auch in den deutschen Kinos

von Klaus Hart

10/02   trend onlinezeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Der  zweistündige brasilianische Streifen „Cidade de Deus“ macht  seit Wochen im Herkunftsland  Furore, wird  heiß diskutiert, erschüttert einen Großteil des Publikums wie keine andere Produktion zuvor. Die „Gottesstadt“ - kein paradiesischer Ort, sondern ein tatsächlich existierender riesiger, extrem gewaltgeprägter  Slum der Zuckerhutmetropole. Den Film, mit besten Kritiken auf dem letzten Filmfestival von  Cannes, gäbe es nicht ohne den gleichnamigen spannenden, auch zutiefst politischen Roman  von Paulo Lins. Sein erstes Buch – aber das hat es in sich, derzeit auf Platz zwei der nationalen Bestsellerliste. Denn der Autor wurde in dieser Gottesstadt geboren, wuchs dort in schlimmster Misere auf – steht jetzt, nach dem Filmerfolg, noch mehr im Rampenlicht. Der Deutsche Akademische Austauschdienst/DAAD bewies Gespür, lud den Schwarzen sofort -  schließlich d i e literarische Entdeckung der letzten Jahre in Brasilien -   für mehrere Monate nach Berlin ein, finanziert ihm den Aufenthalt – so wie einer ganzen Reihe anderer brasilianischer Schriftsteller vor ihm. Die waren indessen alle bereits gestandene, bekannte Autoren Brasiliens, alle weiß und aus der Mittelschicht.

Stadt fast unvorstellbarer Kontraste

Nur ein Dutzend Kilometer von der Cidade de Deus entfernt liegt die Copacabana, das famose Ipanema – derzeit auch für deutsche Touristen so attraktiv und empfehlenswert wie seit Jahrzehnten nicht. Der Strand, das Meer, schöne, sinnliche Menschen, wohin man blickt – angenehmes Tropenambiente, nette Cafes, gute Restaurants, viel Kultur und Service – und überall Sheriffs für die Sicherheit. Doch nicht die Welt, nicht das Rio von  Paulo Lins. Auch jetzt noch nicht, nachdem er direkt berühmt ist – sein Roman in über ein Dutzend  Sprachen übersetzt wurde.

„Dreißig Jahre habe ich in der Gottesstadt gelebt, ohne Zutritt zu irgendeiner anderen sozialen Klasse, zur Mittelschicht. Ich hatte richtig Angst, durch Copacabana, Ipanema zu gehen - fühlte mich ausgeschlossen, richtig unwohl, direkt schlecht – ich spürte Angst. Die Leute dort schauten mich so anders an – aha, ein Slumbewohner.  Das geht mir bis heute so – ich fühle immer noch diesen Rassismus.“

Jetzt wohnt  Paulo Lins, Anfang vierzig,  mit der Familie in  einer guten, geräumigen Wohnung – oben im grünen Bergstadtteil Santa Teresa – Kolonialhäuser, kleine Paläste, malerische, romantische Straßen und Gassen. Doch  wieder mal trügt der Schein, wie so oft in Rio. Das Haus von Paulo Lins grenzt fast unmittelbar an Slums – ich höre  Mpi-Salven, den  kurzen, trockenen Knall von Pistolenschüssen, abgefeuert von rivalisierenden Banditenmilizen des organisierten Verbrechens. Sie terrorisieren auch die Slumbewohner, wie in der Cidade de Deus.  Immer wieder werden in Santa Teresa, unweit der Residenz des deutschen Generalkonsuls, sogar Menschen lebendig verbrannt, in Stücke gehackt. Paulo Lins kennt das alles aus der Nähe - kein anderer Schriftsteller ist Insider wie er,  kritisiert die Zustände schärfer, schonungsloser:

„Gewalt gibts überall auf der Welt – aber hier erfaßt sie schon die Kleinsten. Brasilien mordet seine Kinder seit vielen, vielen Jahren – und macht bereits Kinder zu Mördern. So viele tote Minderjährige, nie gezählt, nie registriert – die sterben schlimmer als die ärmsten Teufel. Erst die Sklaven, die Indianer – und heute die Schwarzen, Mischlinge. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat.“

Über 43000 Menschen werden letztes Jahr umgebracht, meist in Slums wie der Cidade de Deus – und meist trifft es trifft es Kinder, Jugendliche, weit mehr als in den aktuellen Konfliktherden wie Nahost oder Afghanistan. „Die Gewalt hier ist keineswegs nur ein Fall für die Polizei – hier geht es um Menschenrechte, um eine kraß ungerechte Einkommensverteilung. Wie wollen wir die Gewalt beseitigen, wenn wir nicht den Hunger, die Misere abschaffen? Brasilien stirbt noch mal an dieser Indifferenz, im Volk fehlt einfach Bewußtsein.“

An Fakten, wirklichen Ereignissen orientiert, zeigt Paulo Lins all das aufwühlend,  analysierend im Buch – und auch im Film, an dem er mitarbeitete. 

Verantwortung der Eliten

Andere brasilianische Schriftsteller hätte man als Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter beschimpft – mit Paulo Lins ist man vorsichtig.

“Ich bekam nur ganz wenige negative Kritiken – weil das Buch eben hinter die Kulissen schaut, geschrieben von einem der dort lebt – das war ja das Interessante – das gab es noch nie. Die Schriftsteller heute sind doch alle aus der Mittelschicht – nur ich stamme aus dieser Misere. In Wahrheit habe ich dieses Buch geschrieben, um den Eliten zu sagen – das ist euer Werk, ihr wart das, ihr seid dafür verantwortlich.  Die Geschichte dieses anderen Brasiliens wurde bisher nur mündlich weitergegeben –  das ist jetzt vorbei, ab jetzt wird man darüber schreiben, öffentlich reden – ich habe schon `Nachfolger´. Und die Menschen werden fragen: Bist Du einer von den Geldleuten? Dann bist du mitschuldig an diesen  Zuständen.“

Ob das Buch von Paulo Lins auch in Deutschland herauskommt – bisher schwer zu sagen. Kritiker, Rezensenten, Feuilletonredakteure mit echter, nicht klischeehafter Sensibilität für Brasilianisches sind nach wie vor die ganz große Ausnahme, mehr denn je. Ein Verlagskritiker lehnte den Roman ab:“Das alles ist ungemein grausam und schrecklich(und oft anschaulich geschildert), und trotzdem hat es mich kalt gelassen...Das ständige Fortissimo wirkte auf mich eher ermüdend...Was dabei herauskommt, ist ein Realismus um jeden Preis, ein Realismus, der sich seines fiktiven Charakters nicht bewußt ist und deshalb immer wieder ins Klischee abgleitet. So sind die Handlung und die agierenden Personen in höchstem Maß vorhersehbar und bestätigen nur, was man vorher zu wissen meinte.“ Paulo Lins scheitere an seinem überzogenen Anspruch.

„In Deutschland erwarte ich solche Reaktionen“, sagt Paulo Lins im Interview, „widerspreche aber diesem Kritiker. Denn ich habe das alles gelebt, erlebt, zuvor in der Cidade de Deus für eine Gewalt-Studie sogar wissenschaftliche Recherchen angestellt, alles im Roman stark vertieft.“ In Barcelona, wo er eine Lesung machte, oder in Italien sei das Echo ganz anders, habe man auf diese so gerne versteckte, übertünchte Realität  sehr überrascht reagiert.

Wer in den deutschen Kinos „Central do Brasil“sah, wird in „Cidade de Deus“  noch weit mehr über das andere  Brasilien erfahren.

„Die brasilianische Gesellschaft wird sich für diesen Film schämen – und wenn einer im Ausland sagt, ich bin Brasilianer, wird er hören – ich habs gesehen, ein Scheißland. Und man wird ihn fragen – wußtest du davon?“

Indifferenz, Lachsalven im Kino

In Sao Paulo und Rio de Janeiro wird der eigentlich tief bedrückende Streifen auch in den Kinos der Mittelschicht und Intelligentsia immer wieder von Lachsalven unterbrochen – für Feuilletonkritiker ein Hinweis auf die fortdauernde Indifferenz der Bessergestellten gegenüber dem Leben der Slumbewohner. „Die Mittelschicht lacht im Dunkel der Kinos, als ob der Film eine hyperrealistische Story über einen frei erfundenen Ort wäre, ohne jeglichen Bezug zu Brasilien“, schreibt Rio de Janeiros auflagenstärkste Qualitätszeitung „O Globo“.

Fast alle Darsteller sind Laien, stammen aus den Favelas von Rio – Paulo Lins hat sie mit ausgesucht, geschult. Jetzt alle wieder wegschicken, in den Slums ihrem Schicksal überlassen, dankeschön, tschau, das wars – nicht die Art von Paulo Lins. Er gründete die NGO „Wir vom Film“, mit zweihundert eingeschriebenen Kindern und Jugendlichen, will möglichst alle bei TV und Film unterbringen – als Schauspieler, Fotografen, Maskenbildner, Soundtechniker. „Alle sind furchtbar arm, wir fördern die in der Schule, helfen ihnen, kritisches Bewußtsein zu erwerben – der Film öffnet ihnen ein Universum!“

NGO für junge Darsteller aus dem Slum

Doch die Branche, die ganze Szene drumherum wird nur von Weißen, meist aus der Mittelschicht, beherrscht – „die ganze Struktur ist nur für Weiße gemacht“. Deshalb gibt es jetzt krachende Kollisionen, wenn Lins mit seiner „Turma“ auftaucht. „Diese jungen Schauspieler waren einfach wundervoll, haben alle überrascht. Und jetzt sind die Weißen über uns erschreckt – wissen nicht, wie sie reagieren sollen, sind richtig perplex. Denn wir ändern die Realität des brasilianischen Kinos, des Fernsehens, sind sogar schon bei TV Globo, der größten Anstalt! Wir öffnen uns die Türen, sind schon so gut wie auf dem Markt!“ Nach diesem Film, in den größten Verleihen der Welt, müsse man sich um die jungen Darsteller kümmern, sie einstellen – „und pronto!“, sagt Paulo Lins, offenbar unverbesserlich optimistisch.

Doch jetzt freut sich Paulo Lins auf Deutschland, auf Berlin, hat viele Pläne:

“Ich bin unheimlich neugierig auf dieses Land, dessen Literatur ich schon ganz gut kenne -  habe sogar den ganzen Nietzsche gelesen, ETA Hoffmann – und Hans-Magnus Enzensberger. Den bewundere ich, den würde ich gerne treffen. Ich kann studieren, mich überall umsehen  - und in Berlin will ich endlich mein nächstes Buch anfangen – denn hier habe ich derzeit keine Privatsphäre mehr. Da ist es besser,  nach Deutschland zu flüchten.“

Editorische Anmerkung

Der Autor schickte uns seinen Artikel  mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über

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Er schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.

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