Berichte aus Brasilien
Sven Hilbig aus Berlin - Menschenrechtsanwalt in Brasilien
„Sklaverei, Polizeiterror, mehr Ermordete als in Bürgerkriegsländern“ Kritik an verlogener rot-grüner Menschenrechtspolitik
von Klaus Hart
12/02
trend
onlinezeitungBriefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin 2002 - ein weiteres schwarzes Jahr für die Menschenrechte in der größten lateinamerikanischen Demokratie: systematische, alltägliche Folter, Inquisitionsverhöre, Gefangenenmassaker, sogar noch Sklaverei, ausufernde Polizeiwillkür, Todesschwadronen - außergerichtliche Exekutionen - gedeckt durch Straflosigkeit, von den Autoritäten gefördert bis garantiert, Terror des organisierten Verbrechens in den Slums.
Weil neoliberale Kapitalinteressen Vorrang haben, alles kein Anlaß für Fischer, Roth, Poppe und Co., um wirksame Schritte zu unternehmen - alles aber harter, aufreibender Alltag für den Berliner Anwalt Sven Hilbig, der im „Forschungs-und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika“ arbeitete, seit mehreren Jahren beim „Centro de Justiça Global“(www.global.org.br), der angesehenen brasilianischen Menschenrechtsorganisation tätig ist. Kurz vorm Jahresende belegt sie akribisch die vernichtende Menschenrechtsbilanz der achtjährigen Amtszeit des von Rot-Grün durchweg hofierten Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, wirft den europäischen Staaten und insbesondere Deutschland vor, wegen wirtschaftlicher Interessen gegenüber Brasilia erschreckend nachsichtig zu sein.
Tropenhitze, Ventilatorengedröhn, Stimmengewirr in einem Abgeordnetenbüro der Megametropole Sao Paulo - Folteropfer, Mütter, deren Söhne völlig willkürlich von Polizisten erst sadistisch mißhandelt und dann ermordet worden waren - Tatzeugen - und die Experten des „Centro de Justica Global“ - größtenteils erfahrene Rechtsanwälte, darunter Sven Hilbig. Wegen eines Gefängnismassakers von diesem Jahr brachten sie Brasilien vor den Interamerikanischen Gerichtshof, schreiben regelmäßig Dossiers auch für die Vereinten Nationen, arbeiten eng mit Amnesty International, Human Rights Watch und anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen zusammen.
“Man dachte, bei der Bekämpfung der Sklavenarbeit gäbe es Fortschritte - doch dann sehen wir, daß das Gegenteil passiert - sie nimmt sogar zu,“ betont der seit langem in Brasilien lebende US-Anwalt James Cavallaro - 1999 hatte er in Rio de Janeiro mit brasilianischen Menschenrechtsaktivisten das Centro de Justica Global gegründet.
Seine Kollegin Sandra Carvalho nennt die Folterzahlen allein für Sao Paulo, größter deutscher Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands, mit mehr deutscher Industrie als in jeder beliebigen deutschen Stadt: “In den letzten zwei Jahren waren es etwa fünftausend Fälle - in Gefängnissen, Polizeiwachen. In Brasilien wird weiterhin systematisch gefoltert.“
Besonders haarsträubend - die mittelalterliche Willkür in den völlig überfüllten Gefängnissen - der schmächtige, von schwerer Krankheit gezeichnete Diogo Barbosa hat sie erfahren, schildert gegenüber Trend: „Weil ich wegen meiner Sehschwäche unabsichtlich gegen eine Tür der Anstaltsadministration stieß, befahl der Direktor, mich zu foltern. Ich mußte mich nackt ausziehen, wurde dann mit einem Stahlrohr geschlagen, man trat auf mich ein, mein Schlüsselbein brach. In diesem Zustand, voller Wunden, Blut wurde ich in eine lichtlose Isolierzelle gesperrt, blieb dort acht Tage, mit starken Schmerzen, der ganze Rücken voller Eiter. Bis man merkte, daß ich ja sterben könnte - ich kam ins Gefängnishospital, mußte dort immerhin acht Monate behandelt werden. Jetzt habe ich ständige Kopfschmerzen, kann den Arm nicht bewegen. Eine Arbeit kriege ich nie mehr.“ Psychologische Behandlung finanziert ihm ACAT - die weltweit tätige „Christliche Aktion zur Abschaffung der Folter“.
Militärpolizisten mit Killermentalität
Arleta Magalhaes verlor im September ihren Sohn auf entsetzliche Weise, will, daß man in der Ersten Welt nicht nur die Oberfläche, die Erscheinungsebene des Tropenlandes wahrnimmt, sozialromantische Brasilienklischees von Sonne, Strand und überschäumender Lebenslust kultiviert, sondern auch jenes Klima von Gewalt und Terror zur Kenntnis nimmt, in dem die nichtprivilegierte Bevölkerungsmehrheit lebt, leidet: „Im September haben hier bei Sao Paulo zwei Militärpolizisten meinen Sohn Celso, gerade zwanzig, und seinen fünfzehnjährigen Freund in der Toilette einer Cafeteria erst grauenhaft zusammengeschlagen - und dann mitgenommen“, schildert sie unter Tränen. „Tage später wurden die Leichen gefunden, schon halbverwest. Ich war im gerichtsmedizinischen Institut, um Celso zu identifizieren - eine fürchterliche Szene - man hatte auf die schon zerfallende Leiche Kalk gestreut, Säure geschüttet - das alles bleibt für immer in meiner Psyche. Die beiden wurden von den Polizisten erst gefoltert, erhielten dann jeder drei Kopfschüsse, zwei Schüsse in die Brust - Grausamkeit bis in die Details! Als mein Sohn nicht wiederkam, habe ich einen der Polizisten darauf angesprochen, spürte an seiner Reaktion, daß etwas Schlimmes passiert sein mußte!“
Das Centro de Justica Global dokumentiert, daß solche Fälle offiziell nur zu oft so hingestellt werden, als ob jemand Widerstand gegen die Staatsgewalt leistete, deshalb von Polizisten in legitimer Verteidigung getötet worden sei. Nur: Allein in Rio de Janeiro sterben so laut James Cavallaro rund neunhundert Personen pro Jahr, monatlich siebzig - in Buenos Aires - zum Vergleich - vier bis fünf. Ganz zu schweigen von den weit niedrigeren Zahlen für die USA, für Europa, Deutschland. Kaum zu glauben: An der Polizeiakademie in Rio de Janeiro lehrte laut Zeugen ein Offizier den angehenden Zivil-und Militärpolizisten, wie man außergerichtliche Exekutionen so hinbiegt, hindreht, darstellt, als ob es sich um einen sogenannten „Auto da Resistencia“ gehandelt habe.
Noch kein Rechtsstaat, Inquisitionsverhöre
Der österreichische Pfarrer und Gefangenenseelsorger Günther Zugic arbeitet ebenfalls mit dem Centro da Justica Global zusammen, gehört zu den besten Kennern der völlig überfüllten Gefängnisse, Polizeiwachen Brasiliens, sagt neben Arleta Magalhaes, Diogo Barbosa angesichts dieser Lage: „Hier ist noch kein Rechtsstaat in Kraft, üblich sind Inquisitionsverhöre.“
Anwalt Sven Liebig kritisiert ebenso wie die anderen Menschenrechtsaktivisten das schäbige, ethisch-moralisch verlogene Verhalten von Ländern der Ersten Welt, wie Deutschland:“Ganz offensichtlich in der deutschen Außenpolitik, daß große Länder wie Brasilien, die eine wirtschaftliche Macht darstellen, in denen man wirtschaftliche Interessen verfolgt, längst nicht so kritisiert werden wie etwa kleinere Staaten in Mittelamerika oder im Nahen Osten. Überhaupt nicht in Ordnung, daß Brasilien in der Menschenrechtspolitik Deutschlands keine große Rolle spielt. Im Menschenrechtsausschuß ist Brasilien kein Schwerpunktland.“
Schon unter Kohl war man immer nett zum Massaker-Demokraten Fernando Henrique Cardoso - unter Schröder blieb es dabei - auch während dessen letzter Brasilienvisite 2002 wie üblich kein kritisches Wort zur Menschenrechtslage.
“Der brasilianische Präsident, ein Professor für Soziologie, hat es in seinen acht Amtsjahren geschafft, seine Menschenrechtspolitik nach außen so zu verkaufen, als ob sich sehr viel verbessert habe, die Regierung sehr viel tue. Tatsächlich haben sich aber die Daten überhaupt nicht verbessert, teilweise sogar verschlechtert. Weiterhin werden hier jedes Jahr zwischen vierzig-bis fünfzigtausend Menschen umgebracht, weit mehr als in Ländern mit Bürgerkriegen.“ Das Bemerkenswerte: Cardoso tut auch in Deutschland so, als ob er die Menschenrechte voranbringe - und seine offiziellen Gesprächspartner tun so, als ob sie das glauben.....Dabei wissen nicht nur in Josph Fischers Ministerium alle Bescheid, haben alle Daten, Fakten von Amnesty International und auch vom Centro Global de Justica auf dem Tisch, wurden von den in Brasilien ansässigen Diplomaten informiert:“ Jeden Tag liest man hier in Brasilien Berichte über Folter, über Massaker an Straßenkindern, die zunehmende Sklavenarbeit.“
"Deutsche Zeitungen ließen keine Kritik an Staatschef Cardoso zu“
Auch für Anwalt Sven Hilbig sehr auffällig, wie Staatschef Cardoso und seine Mitte-Rechts-Regierung (der Vize ein berüchtigter Diktaturaktivist) von der zunehmenden Zensur in Deutschlands Kommerzmedien profitierte - von denen sich beispielsweise die ARD-Radios auch in ihrer Brasilien-Berichterstattung indessen weiterhin sehr wohltuend und deutlich abheben. „Als Cardoso 1994 gewählt wurde, waren alle deutschen Zeitungen voll des Lobes - alle, alle, alle - die haben keine Kritik zugelassen. Und das ist eigentlich bis zum Schluß von Cardosos Amtszeit so geblieben.“ Eine der größten deutschen Qualitätszeitungen titelte wider besseres Wissen allen Ernstes über Cardoso:“Ein Präsident ohne Fehl und Tadel“.
Wer über Menschenrechtsprobleme in Brasilien recherchiert, bekommt von verfolgten Aktivisten, darunter sogar Bischöfen, Padres, sehr oft zu hören:“Wir werden als Subversive behandelt, stehen mit dem Rücken an der Wand - wenn ihr im Ausland nicht über die Lage berichtet, ändert sich hier überhaupt nichts.“ Anwalt Sven Hilbig kennt diesen Mechanismus sehr gut:“Das ist es, was in Brasilien wirklich zu Veränderungen führen kann - Kritik aus dem Ausland! Denn Brasilien ist um sein internationales Ansehen sehr besorgt, hat internationale Interessen, will in den UNO-Sicherheitsrat. Insofern würde natürlich Kritik aus einem Land wie Deutschland - von der deutschen Regierung - auch hier zur Verbesserung der Menschenrechtssituation direkt und indirekt beitragen. Doch das geschieht nicht.“
James Cavallaro stimmt ihm zu:“Erst vor kurzem war ich in Deutschland, sprach mit zahlreichen Autoritäten, war sogar im Außenministerium. Dort präsentierte man mir eine hochgradig positive Einschätzung über die hiesige Lage. Deshalb müssen wir eben hier weiterkämpfen, Debatten anregen - um der Welt zu zeigen, wie Brasiliens Realität wirklich ist. Damit der nötige Druck entsteht, um die Dinge hier zu ändern - damit die politisch Verantwortlichen ihren Pflichten nachkommen, die Menschenrechte endlich garantiert werden."
Editorische Anmerkungen
Der Autor schickte uns seinen Artikel mit der Bitte um Veröffentlichung. In den letzten trend-Ausgaben schrieb er über
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Truppenübungsplätze von NVA und Sowjetarmee waren NaturrefugienEr schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt.
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