Wege aus dem Abgrund
Strukturelle Antworten auf die Berliner Finanzkrise

Empfehlungen des 84. Stadtforums am 22. Juni 2001
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Berlins aktuelle Finanzkrise ist in Wahrheit eine Strukturkrise. Hamburg deckt über 60 Prozent seines Haushaltes aus eigenen Steueraufkommen, in Berlin sind dies gerade einmal 38 Prozent. Das wirtschaftliche Strukturdefizit, das in diesem Zahlenvergleich zum Ausdruck kommt, hat tiefe Wurzeln. Es konnte entgegen den hochgesteckten Erwartungen und trotz enormer Haushaltssparmaßnahmen seit 1990 nicht bewältigt werden.

Angesichts der aktuellen Situation hat sich das Stadtforum in die Debatte über die Berliner Finanzkrise eingeschaltet und kommt nach seiner Sitzung am 22. Juni 2001 zu folgenden Empfehlungen:
Spezial: Die Berlinkrise 
aus marxistischer Sicht
  • DKP
    Neuwahlen - und dann?
  • MLPD
    Die Hauptstadt braucht neue Politiker
  • Neue Einheit 
    Der Zusammenbruch der Berliner Bankgesellschaft

aus bürgerlicher Sicht

1. Die derzeitige Situation

Das Land hat sich in den letzten Jahren erfolgreich um eine Begrenzung der Ausgaben des Landeshaushalts bemüht. Es hat seine Netto-Neuverschuldung heruntergefahren, so dass der Schuldenberg insgesamt nur noch langsamer wächst. Dennoch bleibt eine Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben: Auch ohne den Komplex Bankgesellschaft Berlin haben wir Jahr für Jahr ein strukturelles Finanzierungsdefizit, in Höhe von derzeit 5 Milliarden DM, das wir bisher nur durch Kreditaufnahme und Vermögensveräußerung decken konnten.

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass Berlin nach Berechnungen des Landesrechnungshofes mittlerweile von jeder Steuermark, die es selbst – ohne Länderfinanzausgleich – einnimmt, rund 37 Pfennig für Zinszahlungen aufbringen muss.

Eine Reihe von Gründen für diese Situation ist durch äußere Faktoren bestimmt:
Schneller Abbau der Berlinförderung Anfang der 90er Jahre

Rückgang der Arbeitsplätze im produzierenden Bereich von 472000 auf 287.000.

Belastungen durch Integration der beiden bislang getrennten Stadthälften

Übernahme der Hauptstadtfunktion bei gleichzeitiger Abgabe von Dienstellen an andere Länder bzw. Städte

Teilungsbedingte (Alt-)Lasten des ehemaligen Berlin (West) (Zinslasten des sozialen Wohnungsbaus), die nicht in den Altlastenfonds aufgenommen wurden.

Als harter Kern bleibt gleichwohl, dass die Stadt auf die veränderte finanzielle Situation nicht schnell und energisch genug reagiert hat. Berlin schleppt trotz der bisherigen Anstrengungen nach wie vor Kostenbelastungen mit sich, die im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten überhöht sind.


2. Hilfe durch den Bund und die anderen Länder nur auf der Grundlage eigener Anstrengungen

Die derzeitige Finanzlage Berlins entspricht nahezu einer extremen Haushaltsnotlage im verfassungsrechtlichen Sinne. Berlin muss und wird sicher auch versuchen, in bestimmten Feldern (insbesondere teilungsbedingte Lasten des ehemaligen West-Berlin und Hauptstadtfunktionen) zusätzliche Unterstützung vom Bund zu erfahren.

Die Chance, dass Dritte (Bund und Länder) Berlin Solidarität zeigen, ist aber umso größer, je glaubhafter die Stadt darstellen kann, was sie selbst zur Konsolidierung tut. Ein Weitermachen in der Hoffnung auf \"Staatskommissar\" oder Bundeshilfe kommt daher nicht in Betracht. Unterstützung im Fall einer extremen Haushaltsnotlage käme verfassungsrechtlich ohnehin nur zum Zuge, wenn und soweit die eigenen Anstrengungen der Stadt zur Überwindung der Haushaltsnotlage nicht ausreichen und diese Notlage zugleich durch externe Gründe bedingt ist.


3. Haushaltskonsolidierung durch Einnahmenerhöhung

Die Möglichkeit, landeseigene Steuern weiter zu erhöhen, ist praktisch ausgereizt. Bei der Grundsteuer ist Berlin schon jetzt einsamer Spitzenreiter, bei der Gewerbesteuer spielt es auch ziemlich weit oben mit. Städte mit einer höheren Gewerbesteuer wie etwa Frankfurt/Main und München haben auch eine andere Gegenleistung – z.B. internationale Flughäfen – zu bieten.

Eine Möglichkeit der Refinanzierung der öffentlichen Infrastruktur besteht darin, Wert steigernde Baurechte nur dann zu gewähren, wenn der Bauherr einen Teil der planungsbedingten Wertsteigerungen zur Finanzierung der Infrastruktur bereitstellt. Dieses Instrument wird bereits praktiziert; es fragt sich, ob und in welchem Umfang es unter den in Berlin gegebenen Bedingungen noch weiter ausgebaut werden kann.

Ein zentrales Problem des Landes Berlin ist die geringe Steuerkraft: Während die Pro-Kopf-Steuereinnahmen in Hamburg 863 DM ausmachen, sind es in Berlin nur 502 DM. Es kommt also darauf an, Wirtschaftskraft und Wertschöpfungsbasis in Berlin zu stärken. Dazu benötigt Berlin mehr qualifizierte Arbeitskräfte, die im Verhältnis seltener arbeitslos sind, höhere Einkommen erzielen und eine höhere Wertschöpfung schaffen. Das erfordert zum einen Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, es erfordert zum anderen Investitionen in die Standortqualität, um Berlin für qualifizierte Arbeitskräfte interessant zu machen. Beides erhöht erst einmal die Ausgaben, während erhöhte Einnahmen aufgrund der höheren Wertschöpfung erst mit zeitlicher Verzögerung stattfinden werden. Berlin muss sich dennoch entsprechende zusätzliche Investitionen in die Bildungs-, Qualifizierungs- und Standortinfrastruktur leisten. Die im Einzelnen hierzu erforderlichen Prioritäten müssen schnell gesetzt werden.


4. Haushaltskonsolidierung durch Ausgabensenkung

Berlin hat sich einem ehrgeizigen Projekt der Verwaltungsreform verschrieben. Die erwarteten und möglichen Effizienzsteigerungen sind wohl noch nicht in allen Bereichen eingetreten. Zusätzliche Probleme hat sich Berlin dadurch aufgehalst, dass es betriebsbedingte Kündigungen im gesamten öffentlichen Dienst bisher kategorisch ausgeschlossen hat. Berlin muss daher andere Instrumente des Personalmanagements, etwa verhaltensbedingte Kündigungen, nutzen.

Irgendwo hat jede Effizienzsteigerung bei gleichbleibender Aufgabenlast ihre Grenze. Die Einsparung von öffentlichen Personal- und Sachausgaben ist dann nur noch möglich, wenn auf bestimmte Funktionen verzichtet wird. Hier ist eine ernsthafte und schnelle Auseinandersetzung mit den Vorschlägen der Expertenkommission >Staatsaufgabenkritik< dringlich, die nicht mit dem Ziel geführt wird, Bestände zu sichern, sondern den Haushalt ins Lot zu bringen.

Dazu muss die Frage aufgeworfen werden, auf welche Funktionen der Staat zukünftig verzichten kann. Anzusetzen wäre etwa bei der Frage, ob in der Wohnungswirtschaft bei dem gegenwärtigen Leerstand noch planwirtschaftliche Instrumente zur Verteilungsregelung erforderlich sind. Außerdem muss darüber nachgedacht werden, ob die verbleibenden Aufgaben der Wohnungsämter nicht auch von den Sozialämtern übernommen werden können. Dasselbe gilt für die Vermessungsämter, deren Aufgaben möglicherweise auch von öffentlich bestellten Vermessern übernommen werden könnten. Auch bei hochbaulicher Projektentwicklung und Gebäudebewirtschaftung stellt sich die Frage, ob sich die Stadt auch dafür weiterhin eigene Behörden leisten muss.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch die Wahrnehmung der Aufgaben durch Dritte kostet Geld. Aber sie können häufig preisgünstiger sein. Und die Kosten werden transparent und damit bewusst gemacht. Schon die verursachungsgerechte Kostenzurechnung dürfte zu Einsparungen führen. Berlin muss sich schließlich fragen, ob es in seinem Vermögensdepot noch die richtigen Vermögenswerte hält. Wenn es richtig ist, dass die wichtigste Ressource unserer Stadt qualifiziertes Wissen ist, dann müssen sich im Vermögensdepot auch besonders viele \"Wissensaktien\" finden, also z.B. Bildungs- und Forschungseinrichtungen. Die Beteiligung an Bank-, Versicherungs-, Schwimmbäder- und Grundstücksgeschäften ist demgegenüber möglicherweise nachrangig.


5. Instrumente zur Umsetzung des Konsolidierungs- und Sanierungsprogramms

Das anstehende Programm zur Konsolidierung und Sanierung der Finanzen und zur Entwicklung der Stadt muß abgestützt werden durch die bessere Nutzung bzw. Einführung wichtiger Planungsinstrumente und organisatorische Maßnahmen:

Nutzung der Mittelfristigen Investititons- und Finanzplanung als strategisches Planungsinstrument

Formulierung einer finanzpolitischen Ordnungspolitik auch im Sinne einer äußeren Finanzpolitik

Ausgestaltung eines effizienten Berichtswesens und Systems der Programmevaluierung

Bündelung der Ressourcenressorts Finanzen und Personal

Bessere Verknüpfung der so genannten Fondsverwalter der EU-Programme (EFRE, ESF, EAGFL) mit der Finanzpolitik


6. Lernen von den Erfahrungen in Bremen

Auch wenn Berlin seine eigenen Strategien zur Problemlösung entwickeln muß - es kann doch von Erfahrungen anderer Länder in ähnlichen Situationen lernen. Aus dem in Bremen seit Anfang der 90er Jahre beschrittenen erfolgreichen Weg sind vor allem drei Ansätze auch für Berlin relevant:

Konsequenter und z. T. schmerzhafter Spagat zwischen Ausgabenreduzierung einerseits und gezielten Investititonen in die technische und wissenschaftlich-kulturelle Infrastruktur.

Aktivierung des hanseatischen bürgerschaftlichen Selbstbewußtseins und der Mitwirkungsbereitschaft der wichtigsten gesellschaftlichen Kräfte in der \"Bremer Erklärung\" insbesondere durch Orientierung auf Zukunftsaufgabe und Chancen und Integration der Betroffenen

Orientierung auf einen langfristigen Sanierungs- und Konsolidierungsprozess


7. Bürgerschaftliche Initiative starten

\"Erforderlich ist eine Aktivierung bürgerschaftlicher Verantwortung, die zu einer Diskussion über die sachgerechte Verteilung von Aufgaben zwischen dem Stadtstaat Berlin einerseits und ziviler Verantwortung andererseits führt. Aus Zufallskoalitionen jeweils betroffener Nein-Sager muß eine der Stadt verpflichtete Koalition von nach vorn denkenden Strukturveränderern werden.\"

Diese Forderung des Stadtforums vom November 1996 muss jetzt endlich umgesetzt werden. Die Stadt braucht einen breiten, fachlich fundierten und über politisch definierte Einzelinteressen hinausgehenden öffentlichen Dialog über ihre Zukunft. Die Lenkungsgruppe des Stadtforums wendet sich daher an die großen gesellschaftlichen Gruppen und Einrichtungen der Stadt und fragt:

Lässt sich auch in Berlin - wie in Bremen - die Bereitschaft zur zivilen Verantwortung bei der Bewältigung der Krise aktivieren?

Lässt sich auch in Berlin ein Programm (Bürgerbündnis oder Stadtvertrag) formulieren, das die Potenziale und Chancen der Stadt entwickelt und stärkt und die Bürger integriert?

Wer beteiligt sich und wie kann ein solcher Prozess wirkungsvoll gestaltet werden?

Die Lenkungsgruppe des Stadtforums ist bereit, in diesem Sinne aktiv zu werden und die Chancen einer solchen Initiative auszuloten.

Quelle: www.stadtforum-berlin.de