Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

"Sarkozy richtet die Bullenrepublik ein"(*)
 Rassismus, kriegerische Rhetorik und Scharfmacherei

7-8/10

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Ernennung von Polizeifunktionären in höchste Staatsämter, Militarisierung der staatlichen Präsenz in den Départements, eine Initiative auf höchster staatlicher Ebene gegen Sinti & Roma, und nun eine von der Staatsspitze ausgelöste Debatte über den Zusammenhang zwischen Staatsbürgerschaft – Einwanderung – und Kriminalität... Das Regierungslager in Frankreich sorgt dafür, dass das Klima ungemütlich wird. Und die von ihr angeregte, diesjährige Scheibhausdebatte, pardon: Sommerlochdebatte hat es wirklich in sich: mit Rassismus & Repressionswünschen prallvoll gefüllt.

Nachdem die innenpolitischen Schwierigkeiten für die regierende Bande in den letzten Wochen erheblich zugenommen haben, musste Nicolas Sarkozy eine Initiative ergreifen. Seit Ende Juni 2010 und der Bettencourt-Affäre hat sich nun auch in den Augen des breiten Publikums erwiesen, dass die bürgerliche Rechte bis am Rand im Korruptionssumpf steckt und gleichzeitig eine Klientel von Superreichen bedient - dass also hinter ihrem autoritären Populismus eine nackte Klassenpolitik steckt. Darauf reagierten Sarkozy & Co. zunächst, indem sie Feuer unter den Kesseln der extremen Rechten entfachten. (Vgl. http://www.trend.infopartisan.net ) Nun spornen sie die Flammen weiterhin an, indem sie ihnen ideologische Luftzufuhr verschaffen – versuchen aber gleichzeitig, die daraus entstehende Energie für sich selbst zu nutzen. Dass lässt die extreme Rechte ihrerseits nicht passiv geschehen, sondern denunziert Sarkozys neue Härte-Offensive als pures Verbalgeplänkel: Obwohl sie inhaltlich jubelt, fordert sie, dass sie statt Sarkozys Worten nun endlich Taten sehen wollen. (Vgl. dazu bei AFP: http://www.google.com/

Offenkundig plant man auf mehreren Seiten, die politische Landschaft zwischen dem konservativen Block einerseits und der extremen Rechten andererseits zu polarisieren. Ähnlich, wie Berater und Strategen Jacques Chiracs dies in den Jahren 2001/02 erfolgreich vollzogen, als sie mit der damaligen hoch ideologisierten „Unsicherheits“-Kampagne die gesamten Inhalte des Wahlkampfs vor den inzwischen vorletzten Präsidentschaftswahlen dominierten (vgl. http://jungle-world.com/ ). Das Ergebnis ist bekannt: Der Bürgerliche Chirac und der Neofaschist Jean-Marie Le Pen trugen die Stichwahl „unter Rechten“ aus, die Sozialdemokratie und die Linke fielen hinten `runter bzw. durch den Rost. Nicolas Sarkozy träumt von einer Wiederholung dessen, könnte aber ein böses Aufwachen erleben, falls die züngelnden Flammen der extremen Rechten – die Flamme in den Nationalfarben blau/weib/rot ist das Parteisymbol des Front National – ihm am Ende schneller als erwartet den Hosenboden ankokeln. Auch falls die Rechnung der Regierenden aufgehen und das braune Wasser am Ende auf ihren Mühlen (statt auf denen der rechtsextremen Oppositionspartei) landen sollte: Böse erwachen dürften so manche Leute...

Anti-Zigeuner-Gipfel im Elyséepalast 

„Das Grenelle von…“ ist ein allgemein beliebter Ausdruck in der französischen Politik. Man bezeichnet so einen Kongress, der möglichst viele gesellschaftliche Kräfte zusammenführen soll und Konzertierungsbemühungen gewidmet ist. Im Juli 2010 fand so das „Grenelle der Mobiltelefone“ statt, das herausfinden sollte, ob die elektromagnetischen Wellen der Geräte nicht doch schädlich für Gehirn oder Gesundheit sind. In den letzten drei Jahren gab es das „Grenelle des Umweltschutzes“ in mehreren Auflagen, das Nicolas Sarkozy erstmals im November 2007 einberufen hatte, dessen Ergebnisbilanz freilich laut Auffassung von Ökologen eher mager ausfällt.

Historisches Vorbild ist jene Verhandlungsrunde, die zu den „Grenelle-Vereinbarungen“ vom 27. Mai 1968 führte. Sie wurden zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierung am damaligen Sitz des Arbeitsministeriums geführt: am Pariser Boulevard de Grenelle. 

Jenes „Grenelle“, das am Mittwoch, den 28. Juli 10 auf Anregung von Staatspräsident Nicolas Sarkozy hin und unter dessen persönlichem Vorsitz stattfand, blieb dagegen höchst umstritten. Der grüne Abgeordnete und frühere Präsidentschaftskandidat Noël Mamère etwa warf dem Regierungslager im Vorfeld „die Suche nach Sündenböcken“ vor. Die Linkspartei (Parti de Gauche) von Jean-Luc Mélenchon spricht von einer „Demagogie“ des Staatsoberhaupts. Der christdemokratische Oppositionspolitiker François Bayrou seinerseits sah die Regierung in einem „populistischen Strudel“. 

Am 28. Juli im Elysée-Palast ging es um Sinti und Roma, und um jene rund 400.000 Personen in Frankreich, die man administrativ als ,gens du voyage’ („fahrende Leute“, fahrendes Volk) bezeichnet.  

Dabei handelt es sich im weiteren Sinne um Menschen, die zu der Bevölkerungsgruppe gehören, die sich – im französischsprachigen Raum - seit einem „Weltzigeunerkongress“ (Congrès mondial tzigane) in London 1971 selbst die zusammenfassende Bezeichnung als ,tziganes’ oder Zigeuner gegeben hat. Im französischsprachigen Raum wird dieser Begriff eher als stolze Selbstzuschreibung benutzt, während er im deutschsprachigen Raum eher mit Rassismus und Antitziganismus aufgeladen und ist durch die Betroffenen deswegen in der Regel abgelehnt wird. Eine der Ursachen dafür ist der unterschiedliche historische Hintergrund der Begriffsbenutzung: Das Wort „Zigeuner“ wurde in deutschsprachigen Länder von Rassisten oder Antitziganisten im Laufe der Geschichte als angebliche abgeschliffene Form von „ziehende Gauner“ gedeutet. Dies ist zwar sprachwissenschaftlich absolut unzutreffend, denn das Wort „Zigeuner“ ist nicht deutschen Ursprungs, sondern kommt in zahlreichen Sprachen in ähnlicher Form vor (,tziganes’ im Französischen, ,cigany’ im Ungarischen...). Dennoch hat diese böswillige Interpretation dem Begriff im deutschsprachigen Raum schon früh einen absolut negativen, üblen Beigeschmack gegeben. Im Französischen, wo die Mehrheitsgesellschaft die Sinti & Roma und verwandte Gruppen historisch eher nicht als ,tziganes’ bezeichnete, sondern mit anderen Begriffen belegte (,Manouches’ oder, in Anlehnung an das Spanische, ,Gitans’), hingegen wird der Begriff durch die Betreffenden oft stolz für sich reklamiert. 

Der Unterschied zwischen den verschiedenen Gruppen besteht darin, dass die heute in Frankreich wohnenden Roma ausländische Staatsbürger sind und überwiegend aus Bulgarien, Rumänien und den Ländern des früheren Jugoslawien nach Westeuropa kommen - sie machen jedoch nur einen kleinen Teil der Bevölkerungsgruppe in Frankreich aus. Die übrigen 95 Prozent der Zigeuner sind französische Staatsbürger. Rund ein Drittel von ihnen ziehen noch einen Teil des Jahres hindurch in Wohnwagen durch das Land, verbleiben dabei jedoch meistens in einem überschaubaren Gebiet. Die Mehrzahl des Jahres über ist jedoch auch diese „fahrende“ Minderheit inzwischen sesshaft geworden. 

Früher hatten sie eine feste soziale Funktion in der vor-industriellen Gesellschaft inne: Sie zogen von Stadt zu Stadt, betrieben Zirkusunternehmen und verkauften Gebrauchtwaren. Heute leben sie mehr schlecht als recht von ihren traditionellen Tätigkeiten. Zwei Drittel sind inzwischen auf Dauer sesshaft geworden. Zu Anfang des 20. Jahrhundert war die gesamte Bevölkerungsgruppe mittels anthropometrischer Messungen (Vermessung von Schädelumfang, Augenabstand...) erfasst  und lückenlos in Karteien eingetragen worden. Und von1939 bis 1946 - also von kurz vor Beginn und bis kurz nach dem Ende des Vichy-Regimes, das bedeutet: noch unter der Republik und dann unter faschistischer Herrschaft - war ein Großteil von ihnen in Lagern interniert worden. Allerdings wurden sie nicht in einem solchen Ausmaß Opfer einer Vernichtungspolitik wie gleichzeitig in Nazideutschland, wo mehrere Hunderttausend Sinti physisch vernichtet wurden. 

Seit 1969 fällt diese Bevölkerungsgruppe unter ein neu geschaffenes, eigenes Gesetz, das die verwaltungsrechtliche Kategorie ,gens de voyage’ geschaffen hat. (In der Bundesrepublik Deutschland gab es früher eine vergleichbare juristische Kategorie, jene der „Landfahrer“, die jedoch als diskriminierend bekämpft und später abgeschafft wurde.) Es erlaubt ihnen unter bestimmten Bedingungen, den Wohnort zu wechseln und umherzuziehen, dafür müssen sie jedoch alle drei Monate eine spezielle Karte bei den Behörden abstempeln lassen. Einige Bestimmungen dieses Gesetzes wurden in jüngster Zeit juristisch attackiert, weil sie diskriminierend seien, etwa weil sie die Ausübung des Wahlrechts und die Einschulung der Kinder erschweren. (Andere französische Staatsbürger können etwa in einer Kommune wählen, wenn sie dort seit sechs Monaten ansässig sind. ,Gens du voyage’ hingegen müssen nachweisen, seit mindestens drei Jahren in einer Kommune festansässig zu sein. Auf kommunaler Ebene wählen viele von ihnen jedoch gerne; oft stimmen sie eher für Bürgermeister aus dem bürgerlich-konservative Lager, weil diese eine klientelistische Politik ihnen gegenüber betreiben.) Seitdem eine Änderung der französischen Verfassung im Jahr 2008 es ab diesem Jahr erstmals Bürger/inne/n erlaubt, den französischen Verfassungsgerichtshof direkt anzurufen – zuvor war dieses Recht dem Parlament vorbehalten, es brauchte mindestens 60 Abgeordnete dafür -, hat eine der ersten Verfassungsbeschwerden dieses diskriminierende Gesetz zum Gegenstand. Im vergangenen Winter wurde die Verfassungsbeschwerde anlässlich einer Pressekonferenz und Kundgebung vor dem Versailler Schloss vorgestellt. Dabei nahmen die dort versammelten ,Gens du voyage’ die traditionellen Vorurteile und Stereotypen über ihre Bevölkerungsgruppe ironisch auf die Schippe. So wurden sie traditionell auf den Dörfern angeklagt, „Hühnerdiebe“ zu sein: Anlässlich der Kundgebung erklärten sie feierlich, „die in den letzten Jahrhunderten gestohlenen Hühner zurückzugeben“, und packten zu diesem Zweck symbolisch einige Tiefkühlhühner auf den Pressetisch... 

Seit dem Jahr 2000 und einem damals verabschiedeten sozialdemokratischen Gesetz (es handelt sich um die ,Loi Besson’) sind die Kommunen ab 5.000 Einwohner/inne/n gesetzlich dazu verpflichtet, ihnen Aufstellplätze für ihre Wohnwagen zur Verfügung zu stellen. Doch (je nach Angaben) 50 bis 80 Prozent der Kommunen umgehen ihre daraus resultierenden Verpflichtungen und ziehen es vor, lieber Geldstrafen zu zahlen, als ihnen nachzukommen. Nur ein Drittel bis die Hälfe der laut dem Gesetz vorgesehen, insgesamt 41.840 Stellplätze existiert bis jetzt (vgl. http://bourgogne-franche-comte.france3.fr). Gleichzeitig wurde das „illegale Stationieren“ seit dem, unter Innenminister Sarkozy verabschiedeten, „Gesetz zur Inneren Sicherheit“ (LSI) von 2002/03 zum Straftatbestand – zuvor war es eine Ordnungswidrigkeit -, und die Strafandrohungen dafür wurden empfindlich verschärft. Das Ergebnis ist, dass die Leute ihre Wohnwagen oft an unzugänglichen Stellen aufpflanzen oder auf Terrains ohne fliebendes Wasser und/oder mit Überschwemmungsgefahr bei Regenfällen, die ihnen durch unwillige Kommunen zur Verfügung gestellt wurden. Dies verhindert eine wachsende Sesshaftigkeit, die viele unter den ,Gens de voyage’ gerne anstreben würden – in Form einer dauerhaften Ansiedlung in Wohnwagen oder auch durch das Hochziehen fester Häuser auf den Terrains, wo bislang ihre Wohnwagen stehen -, wobei jedoch dieser Wunsch durch viele Kommunen abgewiesen wird. 

Ein Zwischenfall wird für politische Zwecke instrumentalisiert 

Üblicherweise unterscheidet man in der französischen Presse zwischen politischen Berichten – also solchen über Ereignisse, die mehr oder minder die gesamte Gesellschaft betreffen -, sportlichen und kulturellen Nachrichten, und so genannten ‚faits divers’ („diversen Tatsachen“). Unter letztere fielen traditionell einzelne Verbrechen bis hin zu (nicht politisch motivierten) Morden, aber auch Eifersuchtstaten, Wirtshausschlägereien oder Verkehrsunfälle. 

Es ist in den letzten circa zehn Jahren vermehrt zu beobachten, dass die ,faits divers’, die zuvor stets im hinteren Teil oder in den Innenseiten der Zeitungen zu verorten waren, mitunter nach vorne wandern und die Hauptschlagzeilen ausmachen. Seitdem das „Sicherheits“thema zunehmend zum Hauptinhalt von manchen Wahlkämpfen (wie dem in den Jahren 2001/02) wird – und dies vor allem aufgrund der Fähigkeit des Themas „Unsicherheit“, die verbreitete gesellschaftliche Zukunftsangst ideologisch zu chiffrieren, das Ganze dabei aber reaktionär zu wenden -, wurden und werden sie manchmal zum beherrschenden Thema der Berichterstattung. Anstatt Fragen aus dem Publikum nach dem „Warum?“ und „Wieso“?“ gesellschaftlicher Ereignisse zuzulassen, soll eine solche publizistische und ideologische Konditionierung vor allem dazu dienen, den Ruf nach Repression laut erschallen zu lassen. 

Es war wieder einmal ein purer ,fait divers’, der zu letzten politischen Zuspitzungen den Anlass gegeben hat. Anlass – nicht die (tiefer sitzende) Ursache, selbstverständlich. 

Am Freitag, den 16. Juli 2010 kam es in dem zentralfranzösischen Dorf Saint-Aignan, in der Nähe von Blois, zu heftigen Zwischenfällen. Am Vorabend war der 22jährige Luigi Duquenet, der aufgrund kleinkrimineller Delikte gesucht wurde (in diesem Falle einem Diebstahl im Umfang von 20 Euro) und sich vier Monate zuvor – anlässlich von Freigang – einer Haftstrafe aus vergleichbaren Gründen entzogen hatte, durch einen Gendarmen erschossen worden. Die Sicherheitskräfte gaben an, in Notwehr gehandelt zu haben. Denn das Auto, in dem Duquenet als Beifahrer saß, sei auf eine Straßensperre zugefahren und habe keine Anstalten gemacht, zu halten. Der Fahrzeugführer, Luigis Cousin Miguel Duquenet, der sich den Behörden inzwischen stellte, hat eine andere Version von den Ereignissen zu Protokoll gegeben: Es habe keine Sperre gegeben. Als er die Beamten erblickt haben wollen, habe er gewendet und davonfahren wollen. Daraufhin sei das Feuer eröffnet worden. 

Aufgrund des Todes einer ihrer Leute waren die ortsansässigen ‚Gens de voyage’, die seit Jahrzehnten fest in der Gegend angesiedelt sind und normalerweise mit den Einwohnern der Region gut klarkommen, auber Rand und Band. Nunmehr wollten sie zeigen, dass nach einem solchen Ereignis nicht gut Kirschen mit ihnen zu essen ist. (In der umliegenden Region Centre gibt es Dörfer, in denen von 2.500 Einwohner/inne/n rund 1.500 zu den ,Gens du voyage’ zählen. Üblicherweise verläuft die Koexistenz in diesem Gebiet ziemlich gut und friedfertig, zumal die Einwohner oft froh darüber, dass ihre ländlichen Zonen nicht menschenleer werden.)  

40 bis 50 Männer nahmen daraufhin die örtliche Gendarmeriestation auseinander, von der jeder einzelne Buchstabe des Schriftzugs sorgsam abgerissen wurde und Räumlichkeiten verwüstet wurden. Zudem hackten die zum Teil maskierten Männer Lindenbäume ab und schlugen Fensterscheiben kaputt. Auch eine Bäckerei wurde geplündert, wofür ein junger Mann inzwischen zu zehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt wurde. 

Es handelte sich jedoch um ein örtlich und isoliertes Ereignis, das man nicht lobpreisen muss – das aber eng mit dem Tod des jungen Mannes in Verbindung steht und in keinerlei Zusammenhang zu anderen Orten in Frankreich und anderen Verhaltensweisen zu anderen Zeitpunkten stand. 

Darauf reagierte Nicolas Sarkozy jedoch, indem er den Gipfel vom 28. Juli 2010in den Elyseepalast einberief. Dabei sollte es um „fahrende Leute und Roma“ gehen, die bereits zwei sehr unterschiedliche Personengruppen darstellen. Sarkozy rückte die Veranstaltung in seiner Ankündigung in einen Zusammenhang mit dem, wie er es formulierte, „wahren Krieg gegen die Kriminalität“, den er führen wolle. Zudem kündigte er eine „Räumung aller illegalen Camps und Zeltlager“ an, die überwiegend osteuropäische Roma betreffen. 

Auf diese Weise vermengte Sarkozy sehr unterschiedliche Problemfelder miteinander. Und er stellte einen pauschalen Zusammenhang zwischen einer – heterogenen - Volksgruppe und Kriminalität her, wie auch sofort durch die Liga für Menschenrechte (LDH) oder die Antirassismusverbände LICRA und MRAP bemängelt wurde. Regierungssprecher Luc Chatel verwehrte sich hingegen gegen den Vorwurf der Diskriminierung. Sarkozy habe nur „das Verhalten bestimmter unter den Roma und ,Gens de voyage’ angeprangert. Er fügte hinzu: „Man mag Roma, fahrendes Volk und manchmal in dieser Gemeinschaft sogar Franzose sein - man hat die Gesetze der Republik zu kritisieren.“ Diese Formulierung - „manchmal sogar Franzose“ - rief neue Kritik hervor und wurde etwa am Montag, den 26. Juli deswegen in einem Beitrag in ‚Libération’ auseinandergenommen. Denn fast alle Betreffenden sind französische Staatsbürger. 

Zu den Ankündigungen des Gipfels zählte, innerhalb von drei Monaten mindestens die Hälfte der 300 verzeichneten „illegalen“ Zelt- oder Wohnwagenlager von in Frankreich lebenden Roma zu räumen. Diese sollen, sofern sie aus Ländern wie Bulgarien oder Rumänien stammen, auch umgehend dorthin abgeschoben werden. Als Bürger/innen dieser beiden EU-Länder geniebe diese Menschen allerdings die Personenfreizügigkeit, die innerhalb der Europäischen Union gilt. Letztere beinhaltet allerdings nur die Reisefreiheit sowie den (visafreien) Aufenthalt für die Höchstdauer von drei Monaten, nicht jedoch die Niederlassungsfreiheit – es sei denn, der oder die Betreffende kann in dem EU-Land der Niederlassung (also Frankreich) einen Arbeits- oder Studienplatz nachweisen. Insofern sind Abschiebungen in Richtung Rumänien oder Bulgarien, nach Überschreitung einer Aufenthaltsdauer von drei Monaten, juristisch durchaus möglich. Aufgrund der nichtsdestotrotz gültigen Reisefreiheit können die Personen allerdings innerhalb relativ kurzer Zeit wiederkommen. Allerdings kündigte der französische Innenminister Brice Hortefeux nunmehr an, er werde „dafür sorgen, dass die Abgeschobenen nicht wiederkehren“, und dies „dank eines Speichers mit Fingerabdrücken“ (Meldung der Agentur Reuters vom 29. Juli, um 09.20 Uhr). Aufgrund des starken Rassismus gegen Roma in Ländern wie Rumänien, Bulgarien, im früheren Jugoslawien oder auch in Ungarn und in der Tschechischen Republik können viele von ihnen an eine Wiederansiedlung dort nicht ernsthaft denken. 

Frankreich erhöhte gleichzeitig den Druck auf Rumänien, die „unerwünschten“ Roma zurückzunehmen und „zu integrieren“ – und auf die EU-Institutionen in Brüssel, um ein EU-Land dazu zwingen zu können. Die Europäische Kommission reagierte darauf mit einem „Appell zur Umsicht“ (vgl. http://abonnes.lemonde.fr). Besonders die schwedische Regierung rief ihrerseits die Union dazu auf, „die Roma zu verteidigen“ (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/actualite/societe/20100731.OBS7888/la-suede-appelle-l-union-europeenne-a-defendre-les-roms.html) Rumänien seinerseits hat zwar einerseits am 31. Juli unter französischem Druck eigens einen Minister „zur Wiedereingliederung der Roma“ ernannt, was auch durch die französische Regierung extra begrübt wurde (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/ ). Dies hatte die rumänische Regierung freilich schon seit Februar 2010, bislang tatenlos, angekündigt. Andererseits wandten sich zwanzig Vereinigungen aus der Zivilgesellschaft und Roms an den französischen Minister für europäische Angelegenheiten, den UMP-Schleimer Pierre Lellouche – der in der Vergangenheit schon öfters durch Vorstöbe gegen die Roma auffiel -, und forderten ihn dazu auf, die in Rumänien lebenden Roma zu besuchen. Dabei könne er sich von ihren Lebensbedingungen in dem Land, die „des Mittelalters würdig seien“, vor Ort überzeugen. (Vgl. bei AFP: http://www.google.com/hostednews) Das Thema bleibt auch zwischen den Regierungen in Paris und Bukarest ein Konfliktgegenstand (vgl. dazu etwa  http://www.lepoint.fr/ ). Es steht zu befürchten, dass beide staatliche Seiten in naher Zukunft mit den betroffenen Menschen Ping-Pong spielen könnten, sie also zwischen sich hin- und herschieben dürften. 

„Krieg, Krieg, Krieg gegen Kriminalität“

 Parallel zu dem Gipfel über Zigeuner rief Sarkozy auch in den französischen Vorstädten einen „Krieg gegen die Kriminalität“ aus, eine Wortwahl, die er mehrfach bekräftigte. In der Nacht vom Donnerstag,  15. Juli zum Freitag, dem 16. Juli war der 27jährige Straftäter Karim Boudouda in einem Stadtteil am Rande von Grenoble, La Villeneuve, bei einem Schusswechsel mit der Polizei gestorben. Da er vor der Haustür seiner Hochhauswohnung starb, warfen einige Einwohner den Beamten vor, ihn „hingerichtet“ zu haben, da man ihn auch bei sich zu Hause hätten verhaften können. Nach einem ersten Schuss, der ihn niederstreckte, hätten die Beamten ihm einen zweiten Treffer als Kopfschuss verpasst. Allerdings hatten Boudouda und ein Komplize, die zuvor ein Kasino in Uriage-les-Bains bei Grenoble ausgeraubt hatten, zuvor einen Beamten durch Schüsse verletzt. Boudouda und ein Komplize waren mit einem Sturmgewehr der Marke SIG und einer Maschinenpistole (Uzi) ausgerüstet gewesen. Die Polizei beruft sich daher auf Notwehr. Nähere Einzelheiten dazu können von auben nicht überprüft werden. (Die Gruppierung ,Indigènes de la République’, die eine Radikalität im migrantischen Milieu zu verkörpern versucht, aber in den letzten Jahren immer stärker in einen relativistischen Ethno-Diskurs abdriftet, spricht ihrerseits von einer polizeilichen Hinrichtung, vgl. http://www.indigenes-republique.fr/- Bei ihren Analysen ist jedoch Vorsicht angebracht.)

ANMERKUNG: Die Stadt Uriage, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Grenoble und in Alpennähe gelegen, ist historisch dafür bekannt, dass sie unter der Anfangsphase des Vichy-Regimes eine Kaderschule namens ,Ecole d’Uriage’ beherbergte. Doch unter dem Einfluss junger Sympathisanten des antifaschistischen Widerstands kippte das, vom Regime lancierte, Projekt total um: Staat einer Kaderschmiede für Regime wurde die ,Ecole d’Uriage’ zur Hochburg der Résistance-Rekrutierung. Nach circa zweijähriger Dauer wurde die Schule damals geschlossen -

Vom Musterstadtteil zum „Brennpunkt“ 

Infolge des Todes des bewaffneten jungen Mannes brachen für drei Nächte lang Unruhen aus, bei denen mindestens zwei Personen – möglicherweise auch mehrere Individuen - Schüsse auf die Polizei abgaben, während (je nach Angaben) zwischen 60 und 100 Autos ausbrannten. Ursache dafür, dass es zu solch heftigen Riots in einer „an und für sich“ eher friedlichen Stadt kommen konnte, bildet die Mischung aus zwei unterschiedlichen Faktoren.

Der betroffene Stadtteil, La Villeneuve, hat einen doppelten Hintergrund[1]. Er war unmittelbar nach dem Mai 1968 von politisch engagierten, fortschrittlichen Architekten entworfen und rund um das frühere Olympische Dorf herum – in der gebirgsnahen Stadt Grenoble hatten 1968 die Olympischen Winterspiele stattgefunden – und in dessen Nachbarschaft konzipiert worden. Es sollte ein echter Musterstadtteil werden, mit einer extrem starken sozialen Durchmischung, sehr viel Grün und einer anspruchsvollen Architektur: Die Hochhausanlagen sind um einen gigantischen Park herum angesiedelt und weisen, unterhalb der Gebäuden und zwischen ihnen, zahllose verschachtelte Labyrinth- und Tunnelanlagen auf. Letztere sollten das Leben dort spannender und interessanter gestalten. Innerhalb der Hochhaussiedlungen befinden sich zahllose Geschäfte und Restaurants, ein Schwimmbad und Bibliotheken. Vom Arbeiter über die Hochschullehrerin bis zum Ingenieur sollten dort, in angenehmem Rahmen, alle sozialen Klassen (oder fast) zusammenleben und sich berühren. 

Nur: Das angenehmste Wohngebiet wird den Leuten zu eng, wenn es zum sozialen Ghetto wird. Derzeit besteht unter den jungen Einwohnern von La Villeneuve – der Generation unter 30 – eine Arbeitslosigkeit von sage und schreibe 50 Prozent. (Und dies ist kein Einzelfall: Eine jüngste Statistik weist für die ,Zones urbaines sensibles’ – die „Brennpunkte“ in den Vorstädten französischer Ballungsräume mit insgesamt 4,5 Millionen Einwohner/inne/n – für diese Generation eine Erwerbslosigkeitsquote von sagenhaften 41,7 Prozent aus.) Abgekoppelt von der gesamtgesellschaftlichen Wohlstandsverteilung, wurde der Stadtteil – der um einen Park herum zentriert ist, ein Stück weit abgeschlossen und räumlich vom Rest der Stadt Grenoble ein wenig abgeschnitten ist – zum Auffangbecken vieler „Verlierer“.

Unabhängig davon, aber parallel dazu, entstand ein zweites Phänomen: Grenoble nahm in den späten 1970er Jahre eine Reihe von Banden- und Mafiastrukturen der Organisierten Kriminalität auf, die aus der Regionalmetropole Lyon hinausgedrängt wurden. Nachdem das örtliche „organisierte Verbrechen“ auf die strategisch schlechte Idee gekommen war, einen Richter umzunieten, wurde der Boden für das ,milieu lyonnais’ allmählich zu heib unter den Füben – und es wich zum Teil nach Grenoble aus. Dort traf es auf räumlich günstige Bedingungen, weil seine Mitglieder sich die von auben her und für Ortsunkundige total undurchschaubaren Labyrinthstrukturen innerhalb der Hochhaussiedlung La Villeneuve zunutze machen konnten: bei Verfolgungsjagden dort (oder die von anderswo dorthin führten) war die Polizei oft total aufgeschmissen. Einzelne harte Kerne der Organisierten Kriminalität siedelten sich als dort an. Und als die Massenarbeitslosigkeit und das materielle Massenelend anzuwachsen begannen, fingen sie an, gure Rekrutierungsmöglichkeiten vorzufinden. Nicht unbedingt, um grobe Bosse zu rekrutieren, aber für „kleine Fische“ des Milieus: ausführende Arme, Drogenverkäufer, Auftragsschützen. 

Der am 16. Juli zu Tode gekommene Karim Boudouda, Vater zweier Kinder, war selbst eher ein „kleiner Fisch“. Sicher, er liebte den Anschein eines Lebens auf scheinbar grobem Fub: Im Alter von 27 Jahren hatte er noch nie gearbeitet (in einem örtlichen Kontext, wo es auch nur wenige Jobs gibt), aber mehrere mehr oder weniger „dicke Dinger“ gedreht. Einen gelungen „Bruch“ feierte er den vorliegenden Berichten und Nachrufen zufolge, indem er die erbeutete Kohle mit Champagner oder Hotels an der Côte d’Azur verbrachte. Um eine echte „Figur“ im „Milieu“ der Organisierten Kriminalität zu sein, fehlte es ihm jedoch an Verankerung und Statur, wie auch ein Hochschullehrer aus Grenoble – der sich auf die soziale „Vorstadtproblematik“ spezialisiert hat – in ,Libération’ vom 22. Juli betont: Er war (auber für Kurztrips, um einen „Bruch“ durchzuführen oder zwecks Verprassen der Kohle) nie aus seiner Siedlung herausgekommen. Er hatte zwar „technische Fähigkeiten“ für kriminelle Aktionen, verfügte aber offenkundig nur über sehr geringe taktisch-strategische Fähigkeiten: „Er hat ausgerechnet das Casino von Uriac, den mit Abstand am besten bewachten Ort in der gesamten Region, angegriffen. Ein Profi hätte eher versucht, den Direktor zu bestechen oder zu erpressen...“  

Kurz, Boudouda hatte zwar Erfahrungen (aus Überfällen und Knastzeiten) in Sachen Kriminalität und lebte quasi von ihr – er wusste aber wohl keinerlei organisierte Struktur hinter sich. Stark durchstrukturierte Banden oder Mafiaverbindungen wissen vielleicht die Dienste solcher Leute hinter und wieder für sich zu nutzen, funktionieren aber anders.

Explosion im „Brennpunkt“ von Grenoble und die politischen Folgen

An den Abenden des 16., 17. und 18. Juli 2010 und in den Nächten danach knallte es also in La Villeneuve. Dabei mischten sich aller Wahrscheinlichkeit nach die beiden unterschiedlichen Phänomene, die in diesem Wohnbezirk am Wirken sind, das bedeutet: soziale Ausgrenzung und Ausschlussphänomene einerseits, die Existenz strukturierter Kriminalität auf der anderen Seite. Und die Angehörigen mehr oder minder organisierter (klein- oder mittelkrimineller) Banden erfuhren „Verstärkung“ durch sozial frustrierte, junge Einwohner, die über den Tod eines Bewohners - unter tatkräftiger Mitwirkung der Polizei, deren Angaben betreffend „Notwehr“ erst einmal grundsätzlich nicht geglaubt wurden – empört waren. Aufrichtige Empörung über einen Todesfall wird dabei, wie so oft, zum Ventil für die (aus vielfältigen sozialen Ursachen) angestaunten Frustrationen.

Der Einsatz von Schusswaffen, und Waffenfunde an späteren Tagen (u.a. wurde deswegen ein Barbesitzer in La Villeneuve in Untersuchungshaft genommen) deuten aber darauf hin, dass es handelnde Akteure neben „einfachen“ jungen Einwohnern eben auch Bandenstrukturen gegeben hat. Ebenfalls dafür spricht, dass die Polizei später eingegangene Todesdrohungen gegen Mitglieder der ,Brigade Anti-Criminalité’ (BAC), welche am Todestag von Karim Boudouda im Einsatz befindlich war, hinreichend ernst zu nehmen schien, um Konsequenzen zu ziehen. Zwanzig Angehörige der örtlichen Polizei (und ihrer BAC, die eine Art Sondereinsatzkommando in Vorstädten darstellt) wurden zunächst „zwangsbeurlaubt“; vgl. http://www.liberation.fr/ - Auf eigenen Antrag hin wurden mehrere ihre Mitglieder kurz darauf in andere Städte und Abteilungen versetzt, also aus Grenoble-La Villeneuve abgezogen. Unter dem politischen Gejohle von Teilen der Rechten und natürlich der extremen Rechten, die nun schreien, der Staat „kapituliere“. Dass die Todesdrohungen (Originalton u.a.: „Wir werden erst Ruhe haben, wenn wir einen Beamten skalpiert haben“) deutet darauf hin, dass es sich hier nicht allein um Aussprüche von sozial frustrierten Jugendlichen handelt. Hier scheint ernsthafte (potenzielle) Waffengewalt dahinter zu stecken, oder jedenfalls durch die Staatsmacht dahinter vermutet zu werden. Und sie  kommt in dem Falle mit Gewissheit nicht von, irgendwie progressiven oder revolutionären, politischen Organisationen... Eher im Gegenteil, denn diese Bandenstrukturen praktizieren lediglich einen Mafiosi-Kapitalismus der Peripherieviertel.  

Gleichzeitig handelt es sich bei diesen Todesdrohungen gegen Polizisten (1) bislang noch um Sprüche mit unbewiesenen Konsequenzen, und (2) um ein örtlich begrenztes Phänomen. Ein vergleichbar hohes Niveau an – potenzieller – Gewalt ist absolut nicht auf andere Sozialghettos oder Trabantenstädte übertragbar, wo das Zirkulieren von Schusswaffen bislang die Ausnahme bleibt. Nichtsdestrotrotz nehmen auch dort z.T. die Spannungen zu. Neben dem verstärkt militarisierten Auftreten des Staates – siehe dazu unten Ausführlicheres – trug dazu auch ein weiterer Faktor bei: Unter Sarkozy wurde die unter der sozialdemokratischen Regierung der Jahre 1997—2002 gebildete so genannten „einwohnernahe Polizei“ oder ,police de proximité’ (die innerhalb der Wohnviertel und „sozialen Brennpunkte“ verankert sein sollte) aufgelöst und durch von auswärts einrückende und stärker militarisierte Einheiten ersetzt. Die ,police de proximité’ sollte vor allem ein Netzwerk sozialer Kontakte zu den Einwohner/inne/n aufbauen, deseskalierend wirken und gute Ortskenntnisse besitzen. Auch wenn dieses Konzept seinerseits seine fragwürdigen Seiten hatte – so ging die ,police de proximité’, die tagsüber aktiv war, häufig arbeitsteilig mit den nächtens tätigen Rambo-Einheiten vor - , so trug es doch zu einem Abbau der Eskalation bei. Gerade in einem Wohnbezirk wie La Villeneuve mit seinen architektonischen Labyrinthstrukturen, wo gute Ortskenntnisse und Kontakte zu Einwohner/innen/n unabdingbar sind, hätte eine solche Präsenz vielleicht die Bewaffnung und Aufrüstung von „gehärteten“ Bandenstrukturen verhindern können. Stattdessen setzte das Sarkozy-Regime seit 2002 – Spott und Hohn über die „Sozialarbeiter spielenden Polizisten“ der Sozi-Ära verbreitend – auf gänzlich auberhalb der Unterklassen-Wohnviertel stationierte Einheiten. Diese können zwar ab und zu zu Strafexpeditionen in Wohngebiete wie La Villeneuve einrücken und den dicken Knüppel schwingen. Aber die Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft dieser Unterklassenviertel, einschlieblich der Präsenz sich bewaffnender Bandenstrukturen, verschlechtern sich gleichzeitig nur noch. 

Auf eine solche Gelegenheit für eine massive politische Reaktion wie die Riots vom 16. – 18. Juli hatte Präsident Nicolas Sarkozy wiederum nur gewartet. Daraufhin setzte Präsident den bisherigen Präfekten von Grenoble ab, Albert Dupuy, der in diesem Zusammenhang keinen beruflichen Fehler begangen hatte. Ihm warf das Staatsoberhaupt auch kein wirkliches Versagen in heiklen Momenten vor, sondern lediglich, dass er in seinen Augen zu schlapp und unmartialisch vorging: Dupuy hatte, neben den üblichen polizeilichen Mabnahmen (Spurensicherung und Verhaftung von Verdächtigen) ferner die Stationierung von 250 Mann polizeilicher Sondereinheiten während der „heiben“ Tage und Nächte in La Villeneuve, rund um die Uhr, sowie die Organisierung eines Kongresses über Gewaltursachen und –bekämpfung in Grenoble angeordnet. Letztere Ankündigung quittierte Sarkozy mit Hohn: Der Präfekt wolle der Gewalt mit Kolloquien, also mit Labergremien, beikommen.  

Stattdessen wolle er, Sarkozy, „einen Krieg, einen regelrechten Krieg gegen die Kriminellen“ führen. Auch diese Ankündigung wurde allerdings durch die Presse und durch die parlamentarische Opposition eher spöttisch aufgenommen: Die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ titelte etwa, „seit acht Jahren“ führe Sarkozy seinen Krieg in periodischen Abständen, und die Wochenzeitung ,Le Canard enchaîné’ suchte die entsprechenden martialischen Erklärungen dazu aus dem Zeitraum von 2002 (dem Amtsantritt Nicolas Sarkozys als Innenminister) bis heute zusammen. In der Gesamtschau wirkten diese, im Nachhinein, eher lächerlich. Es stimmt, dass bei all den vollmundigen Ankündigungen von „Krieg“, definitivem Sieg und rückhaltloser Bekämpfung der Kriminalität ein gewisser Eindruck des ,Déjà Vu’ – nach dem Motto: „Kennen wir schon, auch nix Neues, und alle Jahre wieder“ – nicht ausbleibt. Tatsächlich dramatisiert Nicolas Sarkozy ein um’s andere Mal die Situation, um die aufgezeigte „apokalyptische“ Situation danach scheinbar wieder in Vergessenheit geraten zu lassen, bevor dieselbe Situation einige Monate später erneut in drastischen Farben geschildert und beschworen wird. Und ferner kündigt er auf der einen Seite neue, zusätzliche Mittel an, die er zwischenzeitlich spektakulär ausschüttet, bevor sie er (ohne Aufsehen zu erregen) wieder wegnimmt und einige Zeit später wieder ankündigt: Nach Amtsantritt Sarkozys als Innenminister im Jahr 2002 wurden 13.500 Polizisten und Gendarmen zusätzlich eingestellt. Doch im Zeitraum seither wurden auch 12.000 Polizistenstellen wieder abgebaut (Sparzwang für die öffentliche Hand und „schlanker Staat“ verpflichtet!).

Sarkozys „Bullen-Republik“ (,Libération’) nimmt Gestalt an  

 An Stelle des geschassten Präfekten – für den seine Amtskollegen eine Ehren- und Solidaritätserklärung verfassten (vgl. AFP: http://www.google.com ), was für einen solch diskreten hohen Beamtenkorps bemerkenswert ist - setzte Sarkozy als Amtsnachfolger Eric Le Douaron ein. Ihn hatte er ausgewählt, weil er zuvor sechs Jahre lang einen Polizeidienst in Paris geleitet hatte. Die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ bezeichnete ihn als „pures Produkt der Polizei“ (vgl. http://abonnes.lemonde.fr). Le Douaron wurde schnell als „Superbulle“ bezeichnet, worauf dieser auch noch ausdrücklich stolz ist: Auf Kritik daran, dass ein solcher ,super-flic’ zum Leiter einer Behörde werde, die polizeiliche und andere, zivile Funktionen (bspw. Bauschutzvorschriften oder Brandschutz im Département sowie die Ausländerbehörden) in sich vereinigt, reagierte er unwirsch. Und tat sie mit den Worten „Super-flic ist für mich keine Beleidigung“ (gemeint war: sondern eine Ehre) ab. Vgl. http://www.lepoint.fr 

Die liberale und linksliberale Presse bemerkte, dass Sarkozy in steigendem Ausmab Polizisten auf hohe und höchste Staatsämter – deren Inhaber auch noch andere denn repressive Funktionen wahrzunehmen haben – einsetzt. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ oder http://abonnes.lemonde.fr

Schon im April 2010 hatte Sarkozy beispielsweise den Präfekten des Pariser Trabantenstadtbezirks Seine-Saint-Denis ausgetauscht. Als neuen Leiter der Präfektur in Bobigny, der unter anderem Polizei- und Ausländerbehörden sowie Infrastrukturabteilungen des Staates unterstehen, setzte er Christian Lambert ein: ebenfalls einen „Superbullen“, der zuvor die polizeiliche Eliteeinheit RAID - vergleichbar mit der deutschen GSG9 - geleitet hatte. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr  oder http://www.rtl.fr sowie auch http://www.humanite.fr ) Sarkozy führte ihn am 20. April 2010 höchstpersönlich in sein Büro ein und sagte „tägliche Aktionen“ gegen Dealer & illegale Geschäfte voraus (vgl. http://abonnes.lemonde.frl und http://abonnes.lemonde.fr ). Seitdem hat Lambert, als einziger Präfekt, eine direkte Telefonleitung im Elysée-Palast frei. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/

Auf sein Konto gehen u.a. die hässlichen Bilder von Polizeigewalt gegen wohnungslose afrikanische Familien am 21. Juli in La Courneuve (nördlich von Paris), die 500.000 mal im Internet angesehen und bis hin zum US-Fernsehsender CNN ausgestrahlt worden sind. (Vgl. http://levif.rnews.be/  und http://www.lepost.fr/ sowie http://www.lepost.fr

Die übrigen Präfekten hingegen, die er am 08. Juli 10 in Paris versammelt hatte, stauchte Nicolas Sarkozy aus diesem Anlass mächtig – kollektiv - wegen mangelnden Eifers und Durchsetzungsvermögens, wegen mangelnder Härte zusammen. Und dies in Anwesenheit ihrer Ehegattinnen. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/) 

Die sozialdemokratische Parlamentsopposition kritisiert eine Militarisierung (oder präziser: Verpolizeilichung) der Logik staatlicher Präsenz in den französischen Verwaltungsbezirken, in denen jeweils die Präfekten den Zentralstaat repräsentieren. Der sozialistische Ex-Innenminister Daniel Vaillant etwa monierte, Präfekten seien „nicht allein für die Polizei zuständig“, während Sarkozy diese Dimension betone und alle anderen Aspekte im staatlichen Auftreten dahinter vernachlässige. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/) Aber Sarkozy möchte einen „Krieg“ gewinnen.

Parallel dazu fordern inzwischen einige Intellektuelle, wie die Neokonservative Elisabeth Lévy Ende auf RTL, die Armee solle in den Sozialghettos aufräumen (vgl. http://www.lepost.fr/).

Sarkozys Brandrede in Grenoble: Scharfmachertum am Werk

Am vergangenen Freitag, den 30. Juli führte Nicolas Sarkozy erneut einen Präfekten höchstpersönlich in sein Amt ein – was im Prinzip nicht Aufgabe eines Staatspräsidenten ist -, wie zuvor im April in Bobigny nördlich von Paris. Dieses Mal setzte er seinen neuen Schützling Eric La Douaron in sein Amt in Grenoble ein, und lieb sich dazu in seiner Limousine von Paris nach Grenoble kutschieren.

Dort hielt er, aus Anlass der Amtseinführung des neuen Präfekten, eine Brandrede, die es in sich hatte und deren weitere politische Auswirkungen wir in den kommenden Monaten noch dokumentieren werden (da sie uns noch beschäftigten dürften). Das Originalmanuskript der Rede findet sich unter dieser Adresse: http://www.elysee.fr/ 

Nicolas Sarkozy zog darin, erstmals in dieser Unmittelbarkeit, einen Zusammenhang zwischen „50 Jahren unzureichend geregelter Einwanderung“ und Kriminalität. Er regte an, Straftätern, die Franzosen „ausländischer Herkunft“ seien, in bestimmten Fällen die französische Staatsbürgerschaft nachträglich zu entziehen. „Ausländischer Herkunft“ ist dabei ein vager Begriff (der sowohl Personen umfassen kann, die durch individuellen Einbürgerungsantrag zu Staatsbürgern wurden; als auch solche, die durch ihre Geburt in Frankreich und das „Bodenrecht“ zu Franzosen wurden). Dies löste eine heftige Debatte aus, denn bislang gilt das eherne Rechtsprinzip, dass juristisch nicht zwischen (1) Franzosen qua Geburt und Abstammung, (2) solchen, die per Geburt als Kind ausländischer Eltern auf französischem Boden im Alter zwischen 13 und 18 Franzosen werden konnten, und (3) Franzosen per Einbürgerung unterschieden wird. Da einem/r französischen Straftäter/in „ohne Migrationshintergrund“ – mit Abstammung aus der Mehrheitsgesellschaft – die Staatsangehörigkeit auch bei schwersten Verbrechen nicht entzogen werden kann, gilt dies gleichermaben für Französinnen oder Franzosen, die als Heranwachsende (durch die Wirkung des Bodenrechts, zwischen 13 und 18) oder im Erwachsenenalter (durch individuelle Einbürgerung) Staatsbürger geworden sind. Seien sie nun Franzosen mit oder ohne Doppelstaatsbürgerschaft. 

Ein juristischer Mechanismus der nachträglichen Aberkennung der, einmal (sei es durch Geburt oder durch Einbürgerung) erworbenen, Staatsangehörigkeit war erstmals 1915 eingeführt worden: für Soldaten mit deutsch-französischer Doppelstaatsangehörigkeit, die sich dafür entschieden hatten, in der damaligen deutschen Reichswehr zu kämpfen. Massive Anwendung fand ein solcher rechtlicher Mechanismus jedoch ausschlieblich unter dem Vichy-Regime: Es entzog 15.000 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die französische Staatsangehörigkeit. Ferner erkannte es für Protagonisten des Widerstands, die nach London geflohen waren (wie General de Gaulle) oder auf Seiten der Alliierten militärisch kämpften, ebenfalls die Staatsbürgerschaft ab. Infolge der Erfahrungen mit dem Vichy-Regime wurde diese Idee danach aus dem französischen Recht verbannt; und dabei ist es bislang geblieben. 

Eine Ausnahme ist derzeit lediglich bei Hochverrat und Terrorismus möglich: In diesen Fällen kann schon bis jetzt eine per Einbürgerung erworbene Staatsbürgerschaft wieder anerkannt werden, jedoch ,nur’ innerhalb der ersten zehn Jahre nach ihrem Erwerb. Seit 2006 ist diese Bestimmung jedoch nicht mehr zur Anwendung gekommen. – Deswegen wurde Nicolas Sarkozy übrigens soeben bei einer schlichten Lüge ertappt: Er hatte behauptet, die sozialdemokratische Opposition habe in ihrer Regierungszeit (1997/98) selbst die juristische Möglichkeit zu einem solchen Staatsbürgerschafts-Entzug ausgeweitet, um der scharfen Kritik aus den Reihen der Opposition den Mund zu stopfen. Doch er stellte eine Behauptung auf, welche schlichtweg nicht zutrifft. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/) Es war nämlich eine Rechtsregierung, unter Chirac/Alain Juppé, die diese Möglichkeit zum Entziehen der Staatsbürgerschaft bei Terrorismusdelikten 1996 eingeführt hatte. Bis dahin hatte lediglich der Ausnahmetatbestand des „Hochverrats“ als juristischer Grund dafür gegolten.

Nicolas Sarkozy nannte in seiner Grenobler Rede die Fälle von (vollendetem oder versuchtem) Polizistenmord und Angriffen auf andere Repräsentanten der staatlichen Autorität, um sich dafür auszusprechen, in diesen Fällen den Tätern („ausländischer Herkunft“) die Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Aber im Kern ging es Sarkozy lediglich darum, die Idee in der öffentlichen Meinung zu verbreiten, dass es einen intimen Zusammenhang zwischen „ausländischer Herkunft“, „fälschlich“ verliehener Staatsangehörigkeit und Kriminalität gebe; und dass eine unterschiedliche Behandlung der Straftäter je nach Herkunft erfolgen müsse. Die Fallbeispiele, in denen ein solcher Entzug der Staatsbürgerschaft – französisch ,déchéance de la nationalité’ – vorgenommen werden könne bzw. soll, sind dabei quasi beliebig ausdehnbar. So ging Sarkozys Innenminister Brice Hortefeux kurz darauf gegenüber der Tageszeitung ,Le Parisien’ (Ausgabe vom Sonntag, 1. August) schon sehr viel weiter: Er nannte zusätzlich die Fälle von „Frauenbeschneidung, Menschenhandel und Akten schwerer Kriminalität“ als Gründe für eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft. (Vgl. auch http://www.lepoint.fr 

Was „schwere Straftaten“ sind, ist dabei wiederum auslegbar und folglich dehnungsfähig. Noch kein logisches Argument konnte freilich bislang erklären, warum ein französischer Staatsbürger mit ausländischen Eltern oder Grobeltern dabei anders behandeln werden sollte als ein „urfranzösischer Krimineller“ – der für ein konkretes Verbrechen in den Knast gehen kann, u.U. völlig zu Recht, aber dem dabei dadurch eben sein Pass nicht weggenommen werden wird. Marine Le Pen, die nachwachsende rechtsextreme Spitzenpolitikerin, hat es dennoch ihrerseits (an der Stelle Sarkozys) zu rechtfertigen versucht: Die wahrscheinliche künftige Chefin des Front National, als Nachfolgerin ihres inzwischen 82 Jahre alten Vaters, verglich die Staatsbürgerschaft am 03. August mit dem Punkte- Führerschein: Nur wer sich bewähre und nicht zu viel Punkte im Strabenverkehr verliere, könne die Fahrerlaubnis behalten; vgl. http://www.lejdd.fr/ - Eine Herangehensweise an die Staatsbürgerschaft, die jedoch auch in ihren Augen für „Abstammungsfranzosen“, oder ,Français de souche’, wohl kaum gelten dürfte...)

Wem die Staatsbürgerschaft entzogen wurde, der oder die kann daraufhin aus dem Lande „entfernt“ werden. Noch bis in jüngerer Vergangenheit, bis zum Jahr 2003, gab es in Frankreich die so genannte „Doppelstrafe“ (,Double peine’), die darin bestand, dass straffällig gewordene „Ausländer“ erst ihre Haftstrafe absitzen durften (wie „urfranzösisch“ Straftäter auch) und danach zusätzlich noch abgeschoben wurden. In der Praxis handelte es sich übrigens oft um eine Dreifachstrafe, da die real abgesessene Haftstrafe in aller Regel länger ausfiel als für Straftäter mit französischem Pass – für Letztere wurde sie oft durch Freigang, gute Führung und Strafnachlässe verkürzt. Dagegen entfielen solche Regeln für „ausländische“ Straftäter, da man keinen Freigang oder vorzeitige Haftentlassung gewährte, weil man fürchtete, dass sie abtauchen und sich ihrer drohenden Abschiebung entziehen. Diese Praxis der „Doppelstrafe“ wurde lange Zeit durch Menschenrechtler, NGOs und Solidaritätsinitiativen als diskriminierend angegriffen und war Gegenstand von Hungerstreiks und heftigen Protesten (vgl. http://jungle-world.com/). Niemand anders als, „ausgerechnet“, der damalige Innenminister Sarkozy war es, der im Jahr 2003 diesen diskriminierenden Charakter ausdrücklich anerkannte: In einer Phase, als der bislang als konservativer Hardliner profilierte Minister sich um Glaubwürdigkeit auch in der „politischen Mitte“ bemühte, schränkte er diese Praxis gesetzlich weitgehend ein (vgl. http://jungle-world.com/artikel/2003/19/10602.html). Zwar wurde die ,Double peine’ damals nicht abgeschafft, wie sehr oft fälschlich vermeldet wurde, sondern unter engere gesetzliche Bedingungen gestellt. Aber viele Personengruppen wie bspw. in Frankreich vor dem Alter von 13 Jahren aufgewachsene Einwanderer(kinder) wurden de facto gegen ihre Anwendung geschützt, mit einigen Ausnahmeregelungen für Terrorismus & schwere Drogendelikte. Sarkozy war der Mann, mit dessen Image in den Augen der Öffentlichkeit (auch) die – vermeintliche – Abschaffung der ,Double peine’ verbunden war. Nicolas hat es gegeben, Sarkozy wird es nun wieder wegnehmen? (Vgl. auch http://www.rue89.com) Brice Hortefeux bezog sich in dem Interview mit dem ,Parisien’ ferner auch auf den Fall von Liès Hebbadj im westfranzösischen Nantes, der im Alter von zwei Jahren aus Algerien nach Frankreich kam und im Frühjahr 2010 im Mittelpunkt einer öffentlichen Polemik stand. Und dem der Minister gern die französische Staatsbürgerschaft entziehen würde, weil er ihm „informelle Polygamie“ – er ist zivilrechtlich nur einmal verheiratet und hat laut eigenen Angaben mehrere Geliebte, laut Hortefeux’ Auffassung jedoch mehrere Ehefrauen nach islamischem Recht – und „Missbrauch von Sozialleistungen“ vorwirft. (Vgl. zuletzt http://www.trend.infopartisan.net/trd7810/t417810.html) Doch wenn der Vorwurf „missbräuchlichen Bezugs von Sozialleistungen“ (in diesem präzise Falle durch seine „Geliebten“/Ehefrauen als „Alleinerziehende“) bereits ausreichen würde, um jemandes Staatsbürgerschaft infrage zu stellen, ist offenkundig, wie weit rassistischer Willkür dadurch Tür & Tor geöffnet wären...

Den Akt der Frauenbeschneidung (oder Genitalverstümmelung) wiederum – eine „kulturell“ begründete Praxis u.a. in Westafrika, die als solche tatsächlich strikt abzulehnen und bekämpfungswürdig ist – hatte Frankreichs Minister „für Einwanderung und Integration“ Eric Besson ebenfalls schon im Frühjahr 2010 anvisiert. Er nannte ihn, im Zusammenhang mit der damaligen Debatte um „Polygamie“ und „Sozialleistungen“, Anfang Mai 10 als einen Ausgangsfall begründeten und gerechtfertigen Entzugs der Staatsbürgerschaft (vgl. http://www.afrik.com/breve20461.html). Im Nachhinein wird nunmehr umso gründlicher belegt, dass es bei der damaligen Diskussion für das Regierungslager überwiegend darum ging, Grundlagen für eine Diskussion um „Staatsbürgerfragen“ und „Nation versus fremde Kriminelle und Störenfriede“ zu schaffen.

Schon Ende September dieses Jahres sollen entsprechende rechtliche Bestimmungen unter Dach & Fach und verabschiedet sein (siehe unten, gegen Schluss dieses Artikels, zum politischen Fahrplan).

Überarbeitung des „Bodenrechts“, Einschränkung der Minimalrechte für „illegalisierte“ Einwanderer, Knast für Eltern straffällig gewordener Kids

Noch einmal zurück zu Nicolas Sarkozys Rede in Grenoble: Aus demselben Anlass sprach der Scharfmacher-Präsident sich auch für ein Überdenken des Zugangs zur französischen Staatsbürgerschaft infolge des „Bodenrechts“ aus. Noch einmal zur Erinnerung: In Frankreich geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern werden bislang, auf Antrag der/s Erziehungsberechtigten (ab 13), auf eigenen Antrag (ab dem Alter von 16) oder automatisch (beim Erreichen der Volljährigkeit), französische Staatsbürger.

Sarkozy führte dazu wörtlich aus, er wünsche, „dass der Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft durch einen minderjährigen Straftäter nicht mehr, bei Eintritt der Volljährigkeit, automatisch erfolgt.“ Er münzte zwar seine Formulierung lediglich auf straffällige Minderjährige (,un mineur délinquant’), doch vom Sinn seiner Formulierung her könnte es bedeuten, dass es keinen automatischen Erwerb mehr geben solle: Wenn die „minderjährigen Straftäter“ nicht durch die Wirkung von Geburtsort & Alter „automatisch“ Franzosen werden sollen, dann darf es eben gar keinen „Automatismus“ mehr geben. (Eine leicht abweichende Auslegung vertritt allerdings Innenminister in dem oben zitieren Interview: Er führt aus, es würde in seinen Augen auch weiterhin beim „Bodenrecht“ bleiben, aber die Staatsmacht könne bei bestimmten Individuen einen Widerspruch gegen den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft mit 18 Jahren einlegen. Ohne Widerspruch gäbe es also demzufolge weiterhin einen automatischen Erwerb.)

Nicht zuletzt erklärte Sarkozy auch, er wolle „die Rechte und Leistungen, auf die in illegaler Aufenthaltssituation lebende Ausländer Anspruch haben“, auf den Prüfstand stellen. Damit kann – neben dem Grundrecht auf rechtliches Gehör, also Einschaltung eines Gerichts – nur der derzeit bestehende Anspruch auf eine Grundabsicherung im Krankheitsfall gemeint sein. Denn diese ist (neben dem rechtlichen Gehör, das sich kaum abschaffen lässt, sonst würde Frankreich durch internationale Institutionen verurteilt) das einzige verbrieft Recht, das ,Sans papiers’ oder „illegale“ Einwanderer gelten machen können. Es existiert in Gestalt der so genannten ,Aide médicale d’Etat’ (AME), die für „illegal“ aber dauerhaft in Frankreich lebende Menschen einen Zugang zu ärztlicher Grundversorgung bietet. Sie wurde in den späten neunziger Jahren geschaffen. Den Grund für ihre Existenz lieferte aber nicht etwa irgendeine „Grobzügigkeit“ des französischen Staates, sondern die Erkenntnis, dass eine solche medizinische Grundversorgung auch für „Illegale“ auf Dauer billiger bleibt und dem Staat eine „effizientere“ Verwendung seiner Gesundheitsausgaben garantiert. Entfällt eine solche ärztliche Mindestversorgung nämlich, drohen heilbare aber ansteckende Krankheiten nicht behandelt zu werden und sich unkontrolliert auszubreiten. 

Am Wochenende des 01./02. August sattelte das konservativ-wirtschaftsliberal-reaktionäre Regierungslager noch einen üblen Vorschlag oben drauf. Nämlich Sippenhaft: Ein bislang weitgehend unbekannter Politiker der Regierungspartei UMP, Eric Ciotti, der mit „Sicherheitsfragen“ beauftragt worden war, schlug eine Strafandrohung für Eltern straffällig gewordener Kinder oder Jugendlicher vor. Ciotti gilt als Vertrauter Sarkozys. (Vgl. http://www.rue89.com)  

Konkret regte er dazu, selbige nicht nur (wie bisher) im Falle von Misshandlung oder manifester Schädigung der Interessen des Kindes, sondern auch wegen Verletzung der Kontroll- und Aufsichtspflicht in den Bau senden zu können. Bislang gilt, dass Eltern zivilrechtlich für von ihren minderjährigen Kindern angerichtete Schäden zahlungspflichtig gemacht werden können – aber (mit Ausnahme gröbster Pflichtverletzungen) i.d.R. nicht strafrechtlich haftbar sind, also nicht für Straftaten ihres Nachwuchses ins Gefängnis gehen können. Anders lautet der Vorschlag Eric Ciottis: Bis zu zwei Jahre Haft will er ihnen verpasst sehen. (Vgl. ttp://www.lepost.fr/l ; oder siehe auch folgenden kritischen Artikel eines Kinder- und Jugendrichters unter dem Titel „Cool, Papa, ich komm’ Dich auch im Knast besuchen“: http://jprosen.blog.lemonde.fr ) Selbstverständlich würde diese Strafdrohung vor allem so genannt „sozial schwächere“ Familien aus den Unterklassen, die ohnehin mit allerlei Problemen zu kämpfen haben, hart treffen. Bei der extremen Rechten trifft gerade diese Mabnahme auf höchste Popularitätswerte – weit über 90 Prozent in ihrer Anhängerschaft (d.h. der FN-Wähler) würden diese Mabnahme verschärft begrüben.        

Proteste 

Unzählige Reaktionen auf dieses DELIRIUM REPRESSIVIS der reaktionären Regierungsrechten sind inzwischen eingetroffen. Die sozialistische Parteichefin Martine Aubry sprach von einem „Abgleiten in demokratiefeindliche Richtung“ (,dérive anti-républicaine’). Eine Äuberung, die das Regierungslager inzwischen seinerseits als „unglaublich“ gegeibelt und scharf angegriffen hat. Jedoch erklärte ihre Sozialistische Partei gleichzeitig, sie suche „nicht die Polemik“, und wollte schärfere Auseinandersetzungen mit dem Regierungslager vermeiden – denn dieses warte nur darauf, dass sie Sozis in „diese Falle gingen“, um sie öffentlich als sicherheitspolitische Schlappschwänze vorführen zu können. (Vgl. http://www.lejdd.fr/ und http://www.lemonde.fr/

Sogar ein früherer Innenminister - Daniel Vaillant, der bisher letzte amtierende sozialdemokratische Innenminister, unter der Regierung Jospin in den Jahren 2000-2002 – forderte seine Parteichefin Aubry dazu auf, ein bisschen mehr Elan bei der Bekämpfung der ultra-represssiven Tendenzen Sarkozys täte nichts schaden. (Vgl. http://www.lepoint.fr/) Das ist insofern umso bemerkenswerter, als Daniel Vaillant nach dem Regierungswechsel von 2002 zu jenen Sozipolitikern zählte, die damals bei Bürgerrechtsprotesten gegen die neue Rechtsregierung eher bremsten: Im Oktober 2002 erklärte er anlässlich von Protesten gegen repressive Gesetzentwürfe des damaligen Innenministers Sarkozy, er könne bei ihm vor allem „Kontinuitäten“ zu seiner eigenen Amtszeit (bis im Mai 2002) erkennen; vgl. http://jungle-world.com/artikel/2002/44/22991.html  Heute dagegen zählt Vaillant (der auch als Bürgermeister im 18. Pariser Bezirk amtiert) eher zu jenen, die den müden und schlappen Jagdhund namens Sozialistische Partei „zum Jagen tragen“ möchten, wie ein süddeutscher Ausdruck besagt. 

Die bürgerliche Samstags- und Sonntagszeitung ,JDD’ titelte am 01. August auf ihrer Seite Eins: „Sicherheit: Sarkozy und die Strategie der Spannung“. (Ursprünglich bezeichnete man im Italien der siebziger Jahre, in den „Bleiernen Jahren“ des schleichenden Bürgerkriegs“, mit diesem Begriff eine staatliche Strategie, die terroristische Aktionsmittel in ihr Kalkül einbezieht. Sei es, dass sie selbst verdeckt Attentate mit organisierte oder begünstigte, sei es, indem sie Attentatsplanungen von anderer Seite „gewähren lieb“, um über gute Gründe zum Zuschlagen zu verfügen. Im aktuellen Zusammenhang dreht es sich hingegen vielmehr um die politische Instrumentalisierung von „Kriminalität“ und sozialer Gewalt.) 

Der Co-Vorsitzende der Antirassismusvereinigung MRAP, Mouloud Aounit, spricht von einer „Kriegserklärung gegen die Republik: Wir sind dabei, zu einem anderen Typ von Regime überzugehen“ (lt. ,JDD’ vom 02. August 10). Robert Badinter, der frühere sozialistische Justizminister ab 1981, der durch die Abschaffung der Todesstrafe bekannt wurde - ja in die Geschichte einging -, erinnerte Sarkozy schlicht an den Wortlaut des Artikels 1: „Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich, ohne Unterscheid gemäb Herkunft, Rasse oder Religion.“ (Vgl. http://actu.orange.fr/)

Der radikal linke NPA (,Neue Antikapitalistische Partei’) erklärte: „Niemals seit dem Vichy-Regime ist eine Regierung in der Inszenierung einer rassistisch inspirierten Politik so weit gegangen.“ (Vgl. http://www.lejdd.fr/) Und die trotzkistische Partei Lutte Ouvrière (LO, „Arbeiterkampf“) ihrerseits erklärte u.a.: „Es stört die (Regierungspartei) UMP nicht, dass sie unter denselben Mülleimern stöbert wie der Front National.“ (Vgl. http://www.lepost.f) Der Gewerkschafts-Dachverband CGT seinerseits qualifizierte die Ankündigungen des Präsidenten in einer Erklärung als „Hass-Rede Sarkozys“ und „gefährliche Eskalation“ (vgl. http://www.cgt.fr). 

Selbst innerhalb des konservativen Lagers und im Mitte-Rechts-Spektrum gab es z.T. deutliche Kritik an Sarkozys neuestem Vorstob. So erklärte der Chef der christdemokratisch-liberalen Oppositionspartei MoDem, François Bayrou, es gebe „Themen, die für Frankreich gefährlich“ seien wie die Behauptung eines Zusammenhangs „zwischen Einwanderung und Unsicherheit, zwischen Einwanderung und Kriminalität“. Und die rechtskatholische, christlich-soziale frühere Wohnungsbauministerin Christine Boutin warnte davor, es könne zu einer „explosiven“ Polarisierung „zwischen zwei Frankreichs“ kommen. Und sie fügte hinzu: „Durch Stigmatisierung Angstmache (auf Kriminalität) zu antworten, ist nicht die Lösung.“ (Vgll. http://www.lepoint.fr/ und http://abonnes.lemonde.fr/) Allerdings unterstützte der überwiegende Teil der konservativen Rechten Sarkozy und die Staatsspitze. 

Die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH, gegründet 1898 im Kontext der Dreyfus-Affäre) ihrerseits ergriff eine Initiative und berief für den Montag, 03. August ein Treffen verschiedener Initiativen und NGOs an ihrem Sitz im 18. Pariser Bezirk ein. Heraus kam dabei u.a., dass das Spektrum der „zivilgesellschaftlichen“ Opposition am 04. September dieses Jahres eine gemeinsame Demonstration gegen die Repressionspläne der Regierung abhalten wird. 

Nähere Aussichten 

Aber auch Letztere gedenkt nicht zu ruhen. Am 07. September wird Innenminister Brice Hortefeux – der, wie nicht vergessen werden darf, im Juni 2010 wegen rassistischer Aussprüche erstinstanzlich vor Gericht verurteilt worden ist (-> http://www.trend.infopartisan.net/trd0610/t510610.html) – eine Parlamentsrede im Senat zum Thema halten. Welch ein Zufall: Just an jenem Tag, an dem die Gewerkschaften zum nächsten Mal gegen die geplante regressive Renten„reform“ der Regierung demonstrieren werden; und an dem die Nationalversammlung die Debatte über diese soziale Gegenreform aufnimmt. (Vgl. http://www.lepost.fr/al) Parallel zur „Unterhaus“debatte über die Rentenform wird also der Senat – das parlamentarische „Oberhaus“ - an jenem Tag die Debatte über das nächste, verschärfende Ausländergesetz von Eric Besson starten. In dessen Entwurf sollen bis dahin die programmierten neuen Bestimmungen, vor allem jene über den Entzug der französischen Staatsbürgerschaft, aufgenommen werden. Schon bis Ende September 2010 sollen sie dann auch schon, zusammen mit dem o.g. neuen Ausländergesetz (das u.a. die Dauer der Abschiebehaft verlängern wird), durch die parlamentarischen Beratungen durch und verabschiedet worden sein. 

Offenkundig gehen wir auf eine gewisse Polarisierung zu: Der soziale Unmut über die Regierungspolitik steigt. Aber diese versucht, entweder ihre eigene soziale Basis, oder – falls ihr dies nicht gelingt – die extreme Rechte als perspektivische Hilfstruppe zu ihren Gunsten zu mobilisieren. Es gilt, die Entwicklung aufmerksam zu beobachten...

Anmerkungen

[1] Einige Artikel und Berichte – viele schlechte oder sehr schlechte, und ein paar gute – haben die Situation in diesem Stadtteil in den letzten Wochen darzulegen und zu analysieren versucht. Vgl. unter anderem (als kleine Auswahl von den besseren) :

*) "Sarkozy institue la République des flics" =  Titel in der sozialdemokratisch-linksliberalen Tageszeitung ,Libération’ vom 3o. Juli 2010

Editorische Anmerkung

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.