Editorial
Klassenmurx


von Karl Mueller
02/05

trend

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Etliche Male diskutierten wir in der Redaktion, ob wir Michael Heinrichs zusätzliches Kapitel der zweiten Auflage seiner Einführung in die Kritik der Politischen Ökonomie "Klassen, Klassenkampf und Geschichtsdeterminismus" einer umfassenden kritischen Würdigung unterziehen sollten, so wie dies von den Herausgebern im letzten Editorial angekündigt worden war. Wir entschieden uns schließlich darauf zu verzichten. Hier unsere tragenden Erwägungen:
  • Lenin definiert Klassen folgendermaßen: "Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der ändern aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft." (LW, 29, S. 410)

    Was hat uns Heinrich statt dessen anzubieten?  Schließlich ist es ja sein erklärtes Ziel, Irrtümer und Mängel des "Traditions"marxismus - insbesondere des ML - zu überwinden: "
    Von gesellschaftlichen Klassen lässt sich in zwei verschiedenen Bedeutungen sprechen. In einem strukturellen Sinn bestimmen sich Klassen durch ihre Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess. Insofern kann jemand einer Klasse angehören, auch wenn sich die betreffende Person nicht darüber im Klaren ist. Davon zu unterscheiden sind Klassen in einem historischen Sinn. Dabei handelt es sich um soziale Gruppen, die sich in einer bestimmten historischen Situation selbst als Klassen im Unterschied zu anderen Klassen begreifen, die Mitglieder der Klasse zeichnen sich durch ein gemeinsames „Klassenbewusstsein“ aus.  .... Wer im strukturellen Sinn zu welcher Klasse gehört, lässt sich auch nicht durch formelle Eigenschaften bestimmen, wie etwa die Existenz eines Lohnarbeitsverhältnisses, sondern nur durch die Stellung innerhalb des Produktionsprozesses."

    Mal abgesehen davon, dass Heinrich sich unzitiert Edward P. Thomsons Klassenbegriff (
    "Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse") bedient, indem er dessen Begriffsinhalt zur Ausstaffierung seines Begriffs von der "historischen Klasse" benutzt, sind seine Darlegungen zur so genannten "strukturellen Klasse" inhaltlich um Vieles ärmer als die Leninsche Definition.
     
  • Heinrich ist ein erklärter Gegner des Dialektischen Materialismus. Für ihn existiert Dialektik nur als Mittel zur Ableitung von Kategorien aus Kategorien mit mangelhaftem Inhalt - als so genanntes "begriffliches Entwicklungsverhältnis" (siehe dazu Heinrich Wissenschaft vom Wert, 3. Auflage, S. 171ff). Von daher ist er unfähig, den sich wechselseitig bedingenden Zusammenhang zwischen ökonomischer Struktur (Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital) und historischem Prozess (Klassenkampf) angemessen zu begreifen und darzustellen.
     
  • Heinrichs Beschäftigung mit der Klassenfrage dient zur erneuten Entsorgung der revolutionären Implikationen des Marxismus: "In dieser Skizze (Marx im 1. Bd. des Kapitals, S. 791, Fn. 252)  - kamue) erscheint die Entwicklung des Proletariats zur revolutionären Klasse und der Sturz der Herrschaft des Kapitals als ein unausweichlicher Prozess ....Allerdings sind diese Prognosen durch Marx’ eigene Untersuchung überhaupt nicht gedeckt." Diese Fälschung kann ihm formallogisch nur gelingen, nachdem er Struktur und Prozess mechanisch getrennt hat. Um der Message einen höheren Grad an Plausibilität zu verleihen, betritt er sogar das Terrain der individualpsychologischen Spekulation: "Insofern ist dieser Abschnitt eher Ausdruck seiner Hoffnungen als seiner Analyse; der revolutionäre Enthusiasmus siegte hier über den kühlen Wissenschaftler."

Eine diesen Erwägungen gerecht werdende kleinschrittige Widerlegung des Heinrichschen "Klassenmurx" - insbesondere auf dem Gebiet der Weltanschauung und der Erkenntnistheorie - hat sich daher für die Redaktion erledigt. D.h. nicht, dass wir Heinrichs Versuche, Marx zu entsorgen, gering schätzen; doch wir meinen: Zuviel Ehre schadet nur. Zeigen wir unseren LeserInnen einfach, dass die Klassenfrage auch seriös behandelt werden kann, selbst wenn man(n) als Autor, ähnliche Bauchschmerzen mit dem Historischen Materialismus hat, wie Heinrich vorgibt. Wir reprinten deshalb Kurt Gentz "Der Begriff der Klasse bei Marx" aus dem Jahre 1931, entnommen einer Zeitschrift, die vom Sozialdemokraten R. Hilferding herausgegeben wurde. Schließlich möchten wir noch daran erinnern, dass vor Jahren bereits eine ordentliche Darstellung des Klassenbegriffs durch Richard Gunn (Bemerkungen zum Begriff »Klasse«)  im TREND erschienen ist.

Dass die Klassenfrage zusehends unter undogmatischen Linken zu einer wichtigen Fragestellung wird, zeigt allein schon das Engagement der Berliner Jourfixe-Gruppe, einem ISF-Dissidentengrüppchen, das eine einjährige Veranstaltungsreihe zur "Klassenfrage" aufgelegt und nun für den 7.2. erneut den Moishe Postone zu einer Disko-Veranstaltung nach Berlin eingeladen hat. Unsere Veranstaltung mit Robert Schlosser am 8.1. im Berliner Mehringhof, mit rund 40 Leuten gut besucht, bot eine gute Vorbereitung auf eine fruchtbare Auseinandersetzung mit Postones "Irrtümern". Robert Schlosser schaffte es gerade noch rechtzeitig, uns sein Referat  "Einen vor ... zwei zurück" zur Veröffentlichung zu überlassen, damit die Leute, die am 7.2 zu Postone gehen wollen, entsprechend angeregt werden. Danke Robert!

Die Beschäftigung mit der Klassenfrage leidet heute aufgrund der ständigen Fixierung auf eine denunziatorische  Behandlung des "Traditions"marxismus unter dem Mangel, dass der dialektische Zusammenhang  zwischen Klasse und Individuum in der Bürgerlichen Gesellschaft nahezu ausgeblendet bleibt. Allerdings steht die Linke hier nicht am Punkte Null. Wir reprinten ab dieser Ausgabe dazu in 10 Folgen ein wahres Theorie-Schmankerl: Günter Jacob: "Zur Theorie des bürgerlichen Individuums bei Marx"

Auf folgende weitere Highlights dieser Ausgabe möchten wir noch kurz hinweisen:

Schließlich haben wir noch etwas in eigener Sache zu vermelden. Doch bitte lest selbst!