Editorial
status quo ex ärmelo

von Karl Mueller

03/2016

trend
onlinezeitung

"Der Grundwiderspruch des Kapitalismus ist bekannt. Er ergibt sich aus dem Interesse des Kapitalisten als eines individuellen Unternehmers, der seine Profite zu maximieren sucht (und von daher auf die Minimierung seiner Produktionskosten, einschließlich der Löhne, bedacht ist) und aus seinem Interesse als Mitglied einer Klasse, die nichts verdienen kann, wenn die einzelnen Mitglieder ihren Profit nicht realisieren, das heißt, die produzierten Waren verkaufen. Sie brauchen also Käufer, und sind von daher des öfteren gezwungen, den in Geld ausgezahlten Lohn der Arbeiter zu erhöhen."
Immanuel Wallerstein (1)

"In der kapitalistischen Gesellschaft bilden der gesellschaftliche Charakter der Produktion und die privatkapitalistische Form der Aneignung den Grundwiderspruch. Marx ging von den Waren aus und legte die hinter den Beziehungen zwischen den Waren verborgenen  Beziehungen zwischen den Menschen offen."
Mao Tsetung (2)

In der letzten Ausgabe wurde ein Leser*innenbrief von Detlef Georgia Schulze (DGS)veröffentlicht, worin sie ihre mündlichen Ausführungen beim 20 Jahre Trend Veranstaltungswochenende verschriftlichte, da sie sich im Editorial der 2/2016 nicht zureichend wiedergeben sah. In ihrem Papier konstruiert sie einen Würfel, der den „gesellschaftlichen status quo“ visualisieren soll – gebildet aus diversen Würfeln, die eine soziale Schichtung repräsentieren und von drei Achsen durchzogen werden, die jeweils für einen „Grundwiderspruch“ stehen. 1) Der Widerspruch zwischen Lohnabhängigen und KapitalistInnen 2) der Grundwiderspruch des patriarchalen Geschlechterverhältnisses und 3) der Grundwiderspruch des Rassismus. Ihre Ausführungen schließen mit der Anregung, dass Redaktionsmitglieder „mal ausführen, worin ihres Erachtens der Unterschied zwischen dem strukturalen Marxismus und dem ‚wahren Marxismus’ liegt.“ Dies soll hier in gebotener Kürze geschehen.

Jenes von der Autorin formulierte Problem ist ihre ureigenste persönliche Konstruktion. So wenig wie es den „wahren“ Marxismus gibt, so wenig gibt es den „strukturalen“. Wenden wir uns daher dem eigentlichen Gegenstand der Kontroverse zu, so wie er bei ihrer TREND-Veranstaltung debattiert wurde.

DGS denkt sich das gesellschaftliche Ganze als eine Art fertiges Legosteingebilde - wenn nicht im Ruhezustand so zumindest im Gleichgewicht („status quo“). Allein die Vorstellung, dass das (gedankliche) Umformen eines sich in der Bewegung von Widersprüchen befindenden Gegenstandes zu einem Stillstand implizierenden „status quo“ dem Gegenstand (erkentnistheoretisch) gerecht wird, ist denklogische Willkür – ist Ideologie.

Hier werden Kausalitäten nach der Pippi Langstrumpf-Philosophie  „Ich mach mir die Welt, wie sie mir nicht gefällt, einfach konstruiert; um, an dem Punkt angelangt, wo die Frage im Raum steht: Gibt es überhaupt einen Ausbruch aus dem Gehäuse?“ - erst mal abzubrechen und stattdessen einen (politisch folgenlosen) Diskurs über dieses Gehäuse anzuregen. Solch einem Diskurs fehlt nicht nur der Erkenntnis- sondern auch der Unterhaltungswert, rieselt in ihm doch der Kalk der 1960er/70er Jahre, als der kommunistische Dissident Althusser den ideologischen Schulterschluss mit den Strukturalisten suchte, um aus der kommunistischen Arbeiter*innenbewegung auszusteigen.

Für diejenigen, die sich dennoch mit der Kritik am Strukturalismus im allgemeinen und mit Althusser im besondern näher befassen wollen, haben wir in dieser Ausgabe die Kritik von Sartre am Strukturalismus, die er in der damaligen Debatte der 1960er Jahre  gegenüber Althusser & Co. vorbrachte, veröffentlicht. Darin heißt es:

"Im Grunde entdeckt man in dieser ganzen Geistesströmung eine sehr cartesianische Haltung: einerseits gibt es das System (concept), andererseits die Vorstellung (imagination). Das ist ein Schlag gegen den Zeitbegriff. Man will kein Überschreiten oder zumindest kein Überschreiten durch den Menschen. Wir kommen zurück zum Positivismus. Nur ist dies kein Positivismus der Tatsachen mehr, es ist ein Positivismus der Zeichen."

Möge DGS gegen solch eine Kritik einwänden, sie habe doch ihren Gesellschaftswürfel mit soziologischen Daten angereichert und nicht mit "Zeichen", das wäre doch ihr Brückenschlag zu Marx. Dann möchte ich ihr entgegen halten, dass sie damit noch lange nicht ihren subjektiven Idealismus überwunden hat.

Im genuin Marxschen Sinne definiert Mao den Grundwiderspruch des Kapitalismus als den zwischen dem "gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Form der Aneignung". Für den Strukturalisten Wallenstein heißt dagegen der Grundwiderspruch: Der Gegensatz der "individuellen" Interessen zwischen Kapitalisten und Arbeitern bei der Verteilung von Gewinn und Lohn. Methodisch verfährt DGS ebenso: Sie untersucht nicht die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse mit der Methode des dialektischen Materialismus im Kontext einer kollektiven politischen Praxis, um deren Bewegung und Widersprüche zu bestimmen, wie sie durch den Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privatkapitalistischer Aneignung geformt werden, sondern sie erfindet sich wie Wallenstein Grundwidersprüche, indem sie diese aus subjektiven Empfindungen ("Interessen") ableitet, um sie dann in das dazu das passend gemachte, soziologische Modell wie aus dem Ärmel geschüttelt zu pressen. Übrigens unterscheidet sich dies prinzipiell nicht von der Herangehenweise an eine Gesellschaftanalyse seitens bürgerlicher Forschungsinstitute - siehe dazu z.B.: Die "Sinus-Milieus".

Dass sich die Menschen, je nach ihrer Klassenlage, die kapitalistische Gesellschaft nur von den Erscheinungen her erklären und dabei dialektische Zusammenhänge nur als schlichte Interessengegensätze interpretieren, mag bisweilen fürs persönliche Zurechtkommen im  Alltag und fürs eigene Befinden nützlich sein. Wenn jedoch auf einem kommunistischen Parteitag, der für sich beansprucht,  im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus stehende Einschätzungen der politischen Situation und darauf aufsetzend eine politische Handlungsorientierung zu formulieren, sich nicht über das Alltagsbewußtsein erhebt, sondern - wie die Rede der DKP-Vorsitzenden Patrick Köbele zeigt, nur perpetuiert, dann ist dies bitter.

Wir dokumentieren seine Rede in voller Länge um zu zeigen, dass Hoffnungen, wie sie zwischen dem 20. und 21. Parteitag der DKP bei etlichen Altlinken aufkeimten, die DKP werde sich in eine Partei der Arbeiter*innenklasse auf der "Höhe der Zeit" transformieren, begraben werden dürfen. Dazu empfehlen wir besonders aufmerksam den Abschnitt über das "Massenbewußtsein" zu lesen. Da wird  der alltägliche Rassismus gnadenlos verharmlost, als sei er das natürliche Ergebnis von Perspektivängsten (!??), die bei den Menschen (!sic) aus ihrem "feinen Gespür" resultieren, wenn durch die Flüchtlinge angeblich die "Konkurrenz in der Arbeiterklasse" wächst und die Mietpreise  steigen.

Gebärden sich SPDler*innen als offene Rassist*innen, wie die drei Essener Ortvereine, die im Januar 2016 zur Demo gegen Flüchtlingen unter der Parole "Genug ist genug: Integration hat Grenzen, der Norden ist voll" aufriefen, dann sind diese laut Patrick Köbele bedauerlicherweise dem "Rassismus auf den Leim" gegangen. Anstatt deren Rassismus als Bewußtseinsform auf die widersprüchliche Warenförmigkeit gesellschaftlicher Beziehungen im Kapitalismus zurückzuführen (siehe dazu: Wertgesetz und Rassismus), mangelt es für Köbele den Geleimten nur an Aufklärung. Daher empfiehlt der Vorsitzende seinen  DKP-Genoss*innen folgerichtig, sie mögen jene Verführten im gemeinsamen Kampf aufklären und läutern:

"Das alles erfordert aber auch, dass wir mit den Menschen reden müssen, selbst mit denen, die gerade dabei sind, dem Rassismus auf den Leim zu gehen. Das ist schwer und es geht besser in gemeinsamen Kämpfen, auch darum brauchen wir das Forderungsprogramm."

Wenn - wie bei der DKP die fragmentierten Klassenstrukturen der spätkapitalistischen Gesellschaft  gestützt auf die SMK-Theorie populistisch zu einem simplen Oben-Unten-Modell heruntergebrochen werden, worin die "Konzerne" mit dem Staat im Klammergriff  "von oben" über alle Menschen "da unten" herrschen, dann zeigt sich trotz der Modellunterschiede die methodische Nähe zu DGS' Gesellschaftswürfel. Es handelt sich gleichermaßen um ein schematisches ex ärmelo Modell - hier mit der Funktion, politische Propaganda plausibel zu machen. Und daher dürfte - so steht zu vermuten -das für Juni 2016 durch den DKP-Vorsitzenden in Aussicht gestellte "Forderungsprogramm", das als Plattform für die DKP-Bundestagskandidatur herhalten soll, nur als Verlängerung dieses eindimensionalen Gesellschaftsbildes daherkommen.

Unbeschadet dessen setzen wir die Reihe "Klasse und Partei" mit zwei weiteren Texten -  "Einheit und Differenz innerhalb der Arbeiterklasse" (von Plato) und "Die Dialektik von Partei und Massen in der chinesischen Theorie" (ital. Genoss*innen)  - aus der maoistischen ML-Bewegung der 1960er/70er fort. In ihnen sind unseres Erachtens grundlegende Fragen der kommunistischen Parteitheorie aufgeworfen, die es mit Blick auf die heutigen kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse neu zu stellen und zu beantworten gilt. Die Texte richten sich gerade auch an die linken Kräfte, die begonnen haben, sich erneut mit den "Mao Tsetung-Ideen" zu befassen (siehe dazu in der letzten Ausgabe: Vor der Wiedergeburt des politischen Maoismus?)

Dieter Wegner beschreibt in seinem Aufsatz , wie sich "die deutschen Gewerkschaftsführer, zusammen mit Managern, Politikern, Journalisten und Militärs" als "die deutsche Elite" sehen und schlußfolgert in seinem Fazit:

"Eine Erneuerung der ArbeiterInnenbewegung und der Gewerkschaftsbewegung kann nicht mit dem und durch das Führungspersonal der DGB-Gewerkschaften geschehen! Die Parole kann also nicht heißen: Erneuerung der Gewerkschaften durch (gewerkschaftsgeführte) Streiks. Die Parole kann nur heißen: Erneuerung durch Kampf von unten!  Das geht nur durch wirkliche Bewegung in den Betrieben. Diese ist von außen durch Unterstützungsgruppen zu fördern."

Und nicht von ungefähr führt ihn dies zu den K-Gruppen-Erfahrungen der 1970er Jahre, deren "Fehler nicht wiederholt werden" sollten. Für Wegner bestanden sie besonders darin, sich gegenseitig ideologisch auf dem Schauplatz Betrieb zu zerfleischen. Dass die K-Gruppen immer "Klarheit" vor Einheit forderten, um dieses ideologische Ringen zu legitimieren, ist zweifellos einem strategischen Plan geschuldet, worin die Partei für sich die historische Avantgarderolle beansprucht. Obgleich der Avantgardeanspruch damals ziemlich substanzlos eingefordert wurde, wäre er aufgrund der  vorliegenden historischen Erfahrungen, selbst, wenn die damalige Parteikonzeption inhaltlich gehaltvoller angereichert worden wäre, heute obsolet. Das heißt wiederum nicht, dass die Arbeiter*innenklasse sich nur entlang des Betriebskampfes syndikalistisch organisieren sollte, sondern, wenn sie den Kapitalismus aufheben will, sie nicht umhinkommen wird, sich politisch als Partei zusammenzuschließen. Dafür braucht es eine Parteitheorie auf der "Höhe der Zeit" und nicht eine, die glaubt, ihre Antworten 1917 und in der Geschichte der Komintern gefunden zu haben. Denn eine geschichtliche Tragödie wiederholt sich bekanntlich als Farce (MEW 8/115) - darüber sollten besonders DKP-Genoss*innen einmal selbstkritisch nachdenken.

1) Immanuel Wallenstein, Marx und die Geschichte, in: Etienne Balibar, Immanuel Wallenstein, Rasse-Klasse-Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg, Berlin 1992, S. 161

2) Mao Tsetung, Über das Verfahren ein Lehrbuch der Politischen Ökonomie zu verfassen, in: Helmut Martin (Hg.), Mao Tsetung, Das machen wir anders als Moskau, Reinbek 1975, S.81f