Editorial
Revolutionäre Theorie

von Karl Mueller

05/07

trend
onlinezeitung

In seinen "Flüchtlingsgesprächen" läßt Brecht zwei während des Faschismus Emigrierte, den Intellektuellen Ziffel und den Arbeiter Kalle, über ihre Erfahrungen mit der Staatsschule reden. Während Ziffel besonders die Möglichkeiten der Schule lobt, dass dort die jungen Menschen alle miesen Tricks kennen und anwenden lernen, die nötig sind, um im Leben voranzukommen, hebt Kalle an der Schule, so wie er sie erlebt hat, als einziges Positivum hervor, dass er dort gelernt habe, dass es nichts bringt, im Leben Pech zu haben.

Am 22.4.07 traf sich unser Autor Peter Nowak mit Detlev K. und Karl-Heinz Schubert in der Berliner Rütli-Schule anlässlich des 1. Berliner Sozialforums unter dem Label TREND ONLINEZEITUNG, um über die rassistische Hetze, die sich über die Schüler dieser Schule genau vor einem Jahr ergossen hatte, deren Ursachen und ihren inneren Zusammenhang zum Niedergang der Staatsschule zu diskutieren. Wenngleich keiner der Diskutanten und auch keiner der Gäste aus dem Schuldienst, sowie Eltern, Schüler und Studenten Bezug auf die Brechtschen Flüchtlingsgespräche nahm, so gingen doch alle ihre Beiträge in die Richtung, welche Brecht mit seiner satirischen Skizze aufweist:  Staatschule auf gut deutsch heißt schon immer - wie  buntlackiert sie auch daherkommt - Schule der Untertanen. Gerade die aktuelle Debatte in Berlin um die Schaffung einer so genannten Gemeinschaftsschule als Standardschule neben dem Gymnasium bei gleichzeitiger Abschaffung der anderen Schulzweige, zeigt an, dass das politische Personal dieser Stadt ganz im Sinne der Brechtschen Skizze es als  völlig ausreichend erachtet, dass die einen am Gymnasium lernen, wie man(n) herrscht und die anderen an der Gemeinschaftsschule wie man(n) beim Beherrschtwerden über die Runden kommt - gerade dann, wenn ökonomisch Schmalhans Küchenmeister ist.

Nun gab es auch in dieser Runde wieder die üblichen Fragen nach dem realpolitischen Nutzen solcher theoretischen Erkenntnisse. Leider und nicht unerwartet stießen Detlev K.´s und Karl-Heinz Schuberts diesbezüglichen Ansichten bei den TeilnehmerInnen jenes Workshops auf Unverständnis, befriedigten sie nämlich nicht deren Verlangen nach griffigen Formulierungen und kleinen Plattformen. Vielmehr insistierten sie darauf, dass nicht Plausibilität das Kriterium für eine auf wirkliche Veränderung abzielende Politik sein kann, sondern nur die Analyse der kapitalistischen Verhältnisse selber - und ihr Ausgangspunkt: die dialektische Negation der Negation.

Oder anders: Unsere Zeitung wurde dank des Engagement ihrer drei Repräsentanten deutlich als das wahrgenommen, was sie sein möchte: Ein Organ mit dessen Hilfe die Aneignung revolutionärer Theorie möglich ist.

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Revolutionäre Theorie ohne Parteilichkeit für die Interessen, Nöte und Ängste der Klasse, die unseren gesellschaftlichen Reichtum schafft, wäre keine, sondern verkäme zum akademischen Theorie-Fastfood im Gerangel um Beschäftigungspositionen in Staats-, Partei- und Gewerkschaftsapparaten oder zur Legitimationsideologie zwecks Befestigung der Kasematten von Polit-Sekten.

Unter diesem Aspekt dürften sich unsere LeserInnen bisweilen gefragt haben, warum wir Texte, den jener Geruch anhängt, dennoch publizieren. Neben wir zum  Beispiel den in dieser Ausgabe publizierten 2. Teil von "Freiheit in marxistischer Sicht" aus den Marxistische Lehrbriefen. Hier werden die erbärmlichen Lebensbedingungen eines "Kasernenhofsozialismus" zu Freiheitsverhältnissen umgedeutet. Diese Lehrbriefe bildeten das theoretische (besser das ideologische) Rüstzeug für jene Kräfte, die infolge der Jugend- und Studentenbewegung ab 1968 für die DKP gewonnen werden konnten. Das waren nicht wenige und sie spielen heute noch eine führende Rolle in jener Politsekte, der es nach wie vor gelingt, auf PDS, WASG und Co. ideologisch abzustrahlen. Von daher hat dieser Reprint exemplarische Bedeutung zum Aufweis für eine bestimmte mechanistische Auffassung von Dialektik, wodurch das klassenanalytische Instrumentarium des wissenschaftlichen Sozialismus zu einer reinen Milieutheorie verkommt.

Das materialistische Dialektik kein abgeschlossenes Gebäude aus fertigen Lehrsätzen darstellt, zeigt dagegen der andere virtuelle Reprint: Modelle der materialistischen Dialektik Diese Aufsatzsammlung sollte in jedem Fall quer zu den Lehrbriefen gelesen werden.

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Für unser Verständnis von Gesellschaftsanalyse ist nicht nur der Zusammenhang von Theorie und Praxis zentral, sondern vor allem, dass darin die Marxsche Kritik der Politischen Ökonomie das Hauptkettenglied bildet. Von daher freuen wir uns immer dann besonders, wenn uns Texte auf diesem Gebiet zur Veröffentlichung gegeben werden. Diesmal kam ein - wenn auch nicht einfacher - so doch sehr lesenwerter Text von von Hans-Peter Büttner: Die Nutzlosigkeit der neoklassischen Nutzenlehre.

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Politische Meinung und Berichterstattung sind gleichsam das andere Standbein unserer Zeitung. Auch hier haben wir für diese Ausgabe eine Reihe lesenswerter Artikel erhalten, von denen ich besonders drei hervorheben möchte:

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Abschließend geht noch ein besonderer Dank an Bernard Schmid, der den TREND bevorzugt mit ganz aktuellen Artikeln zur Präsidentenwahl in Frankreich versorgt und an Lutz Getschmann für seine Geschichte des TextilarbeiterInnenstreik von Lawrence 1912  "Lieber kämpfend als arbeitend hungern..."