Im Wartesaal Teil 10

Das sowjetische Asylrecht
Anspruch und Wirklichkeit

Zwei Texte

08/2016

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TEXT 1

Bereits die erste sowjetische Verfassung, die 1918 angenommene Verfassung der RSFSR hatte im Kapitel V dementsprechende Richtlinien formuliert. Im Artikel 21 hieß es: „Die Russische Föderative Sowjetrepublik gewährt allen Auslän­dern, die wegen politischer oder religiöser Vergehen verfolgt werden, das Asylrecht."(5) Die Verfassung der RSFSR galt als Modell für die anderen Sowjetrepubliken. In der 1936 an­genommenen Verfassung der UdSSR wurde im Artikel 129 das Asylrecht dargestellt:

„Die UdSSR", lautete es hier, „gewährt Bürgern ausländischer Staaten, die wegen Verfechtung der Interessen der Werktätigen oder wegen wissenschaftlicher Betätigung oder wegen ihrer Teilnahme am nationalen Befrei­ungskampf verfolgt werden, das Asylrecht."(6)

Damit war der grundgesetzliche Rahmen abgesteckt, der die Handlungsweise der Sowjetregierung bestimmte. Darüber hinaus war aber auch der Artikel 20 der Verfassung der RSFSR von Bedeutung. „Ausgehend von der Solidarität der Werktätigen aller Nationen verleiht die Russische Föderative Sowjetrepublik den Ausländern, die auf dem Territorium der Russischen Republik einer Beschäftigung nachgehen, die zur Arbeiterklasse oder zu der keine fremde Arbeit ausnutzen­den Bauernschaft gehören, alle politischen Rechte der rus­sischen Bürger und ermächtigt die örtlichen Sowjets, solchen Ausländern ohne jegliche erschwerende Formalitäten die Rechte der russischen Staatsbürger zu verleihen."(7)

Im Wartesaal / Teil 1
Refugees in Nachkriegsdeutschland 1945 - 1957
Zahlen und Daten zur Unterbringung jüdischer Displaced Persons
Im Wartesaal Teil 2

Refugees in der BRD 1951
Bericht des Bundesministeriums für Vertriebene
Im Wartesaal Teil 3
Refugees in der BRD 1953
Auszüge aus dem Bericht des Bundesministeriums für Vertriebene

Im Wartesaal / Teil 4

Der anhaltende Flüchtlingsstrom 1955
Auszüge aus dem Bericht des Bundesministeriums für Vertriebene
Im Wartesaal Teil 5
BRD-Lagerleben 1976-80
von Rolf Oerter und Helmut Stapf 

Im Wartesaal Teil 6
Deutsche antifaschistische Emigration in den USA nach 1933
von Jürgen Schebera
Im Wartesaal Teil 7
Die Flüchtlingspolitik der britischen Regierung nach 1933
Leseauszug aus: Asylland Großbritannien
Im Wartesaal Teil 8
 
Die Solidarität der tschechischen Bevölkerung mit den deutschen Emigrant*innen nach Hitlers Machtergreifung
Leseauszug aus: Exil in der Tschecheslowakei
Im Wartesaal Teil 9
Zweimal schwedische Flüchtlingspolitik
Leseauszug aus: Exil in Skandinavien

Dieser Artikel wurde für die verschiedenen Gruppen der Emigranten bedeutungsvoll. Zu ihnen sind zu zählen die deutschen Spezialisten, die schon bis 1932 recht zahlreich in die Sowjetunion gekommen waren, Mitarbeiter in den inter­nationalen Gremien (KI, IVRS, IRTB, IAH), die ebenfalls vor 1933 in der Sowjetunion waren. Sie alle konnten nach 1933 nicht in die Heimat zurückkehren. So waren auch sie über Nacht zu Emigranten geworden. Das Los, das Karl Schmückle, Hugo Huppert, Hans Günther und andere traf, hat Huppert so beschrieben:

„Erstens wir lebten in Moskau mitgerissen von der Schwungkraft des gewaltigen Plan Jahrfünfts. Zweitens: Wir fühlten das ferne Heimatland, ob mehr nördlich oder südlich, unter den Schlagschatten frösteln, den Hitlers Krieg weit voraus warf. Zum dritten: Wir hießen Emigranten, unser Schicksal hatte eine Umleitung erfahren, voll Kampf und Verantwortung, nicht ohne Spur von Größe."(8) .

Bedeutungsvoll aber wurde dieser Artikel auch für jene, die erst nach 1933 in die Sowjetunion kamen, denen aber zumeist die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. „Viele der Emigranten gelangten direkt oder über Zwischenstationen", erinnert sich Huppert, „in die Sowjetunion, erhielten hier Asylrecht und breiteste Betätigungsfreiheit. Unsere deutsche IVRS-Zentrale bekam deutschsprachigen Zuzug und Auffüllung ihrer Aktivtrupps. Das veränderte ganz entschieden ihr Profil, steigerte ihre Leistungsfähigkeit."(9) Schließlich profitierte eine vierte Gruppe von dieser Großzügigkeit: die österreichischen Schutzbündler, die nach der blutigen Niederschlagung des Februaraufstandes sehr zahlreich in der Sowjetunion Asyl fanden. Alfred Kurella, der 1934 in die Sowjetunion gekommen war, teilt in seinem Bericht, „Ich lebe in Moskau", mit, daß er auf Grund des Artikels 129 der sowjetischen Verfassung das Asylrecht erhielt. Die verfassungsmäßigen Festlegungen ließen ihn aber auch an fast allen Rechten der Sowjetbürger teilhaben.

„Wir" (Kurella und seine Frau — K. J.) „lebten zunächst als Staatenlose. Praktisch war unsere Lage fast in nichts von der heutigen unterschieden" (Kurella hatte inzwischen die sowjetische Staatsangehörigkeit erhalten). „Wir genossen auch als Staatenlose alle Vorzüge der Sowjetgesetzgebung einschließlich der Unentgeltlichkeit von Landnutzung, ärztlicher Behandlung, Bildung usw. Stillschweigend waren wir dabei auch gehalten, die Pflichten der Sowjetbürger zu erfüllen, bis auf eine, die Wehrpflicht.... Daß wir nicht das Wahlrecht genossen (das einzige verfassungsmäßige Recht des Sowjetbürgers, von dem wir auch de facto ausgeschlossen waren), hinderte uns nicht daran, an all den anderen vielen Formen der Kontrolle, Kritik und Beeinflussung der Politik der Organe des Staates und des öffentlichen Lebens teilzunehmen, die den eigentlichen und konkreten Inhalt der Sowjetdemokratie ausmachten."(10)

Im Unterschied zu vielen anderen Ländern, die Emigranten aufnahmen, war in der Sowjetunion den Exilierten ein breites Betätigungsfeld für gesellschaftliche Aktivitäten gegeben, sie konnten in verschiedenen Formen am öffentlichen Leben, an der Ausfüllung sozialistischer Demokratie teilhaben. Dafür sei noch einmal aus Heinz Willmanns Erinnerungen zitiert:

Als Mitglieder der KPD führten wir kein Parteileben in dem Sinne, wie wir das von früher her kannten. Aber wir hatten ständigen Kontakt zu den Mitgliedern unseres Zentralko­mitees und den von ihnen beauftragten Genossen. Wir er­hielten Informationen, Konsultationen und bestimmte Auf­träge. Ansonsten nahmen wir am gesellschaftlichen Leben der Sowjetunion teil. So gehörte ich z. B. der Betriebsgewerk­schaftsleitung im Staatsverlag für schöne Literatur an. Außerdem war ich Mitglied im Journalistenverband und im Litfonds des sowjetischen Schriftstellerverbandes. Wir besuch­ten Veranstaltungen und Vorträge dieser Organisationen, nahmen am Klubleben teil und besuchten Abend Vorlesungen an der Universität. Die Moskauer Parteiorganisation der KPdSU veranstaltete regelmäßig Lektionen zu wichtigen Problemen der Innen- und Außenpolitik."(11)

Alle Quellen weisen übereinstimmend aus, daß den deutschen Emigranten in der Sowjetunion ein weites Feld für gesellschaftliche Ar­beit eröffnet war, ja, daß sie, wie noch zu zeigen sein wird, selbst zu den Aktiven bei der Durchführung der sozialistischen Kulturrevolution in deutschsprachigen Gebieten gehörten. Die Führungsorgane der KPD hatten hier allen Spielraum, die spezifischen Probleme des deutschen antifaschistischen Kampfes zu beraten und zu organisieren und darin den ganzen Kreis der Emigranten einzubeziehen. Auch die deutschen Schriftsteller konnten ihre Probleme im Rahmen der Tätigkeit ihrer Sektion im sowjetischen Schriftstellerverband beraten. Heute läßt sich wohl sagen, daß es zu den positiven Leistungen der deutschen Antifaschisten zählt, sich auf mannigfaltige Weise in der sowjetischen gesellschaftlichen Öffentlichkeit hervorgetan zu haben.

Schon 1935, teilweise auch als Antwort auf Versuche der faschistischen Regierung in Deutschland und ihrer Botschaft der UdSSR, die in der Sowjetunion lebenden deutschen . szialisten, aber auch sowjetische Bürger deutscher Natio-alität für chauvinistische und nationalistische Zwecke einzuspannen, stellten viele der deutschen und österreichischen Emigranten den Antrag auf die Staatsbürgerschaft der UdSSR. Die sowjetische Regierung verfuhr durchweg ent­sprechend der gesetzlichen Festlegungen großzügig. Die Ausfüllung sowjetischer Gesetzlichkeit war jedoch alles andere als ein bloßer staatsbürgerlicher Akt, dahinter standen menschliche Beziehungen, menschliche Verhältnisse. So hatten die Emigranten, die in der Sowjetunion Asyl gefunden hatten, ein anderes Verhältnis zu ihrem Gastland als die meisten der Emigranten in der kapitalistischen Welt. Ihnen war von vorn­herein das, was in der neuen Heimat vor sich ging, nicht gleichgültig, sie brachten diesem Land gegenüber bereits eine große emotionale Aufgeschlossenheit mit, sie fühlten sich mit dem Land der sozialistischen Revolution innig verbunden.

Anmerkungen

5) Die Verfassungsgesetzgebung des Sowjetstaates. Eine Sammlung von Dokumenten. Berlin (o. J.), S. 16.
6) Ebenda, S. 77.
7) Ebenda, S. 16.
8) Huppert, Wanduhr mit Vordergrund, S. 378.
9) Ebenda, S. 374.
10) Alfred Kurella, Ich lebe in Moskau. Berlin 1947, S. 91f.
11) Heinz Willmann, Erinnerungen. IML, ZPA, EA 1021.

Quelle: Klaus Jarmatz, u.a., Exil in der UdSSR, Leipzig 1979, S.21-24
 

TEXT 2

Ebenso fehlt noch immer eine genaue Aufstellung derjenigen deutschen Kommunisten, die nach Abschluß des Hitler-Stalin-Paktes an Deutschland und damit an die Gestapo ausgeliefert wurden. Dieses schlimme Kapitel wird von der DDR-Geschichtsschreibung gänzlich verschwiegen, doch auch solche Tabus sollten überwunden werden. Im Februar 1940 hatte die Deutsche Botschaft in Moskau z. B. in einer Verbalnote an das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten „dankend zur Kenntnis genommen", daß 28 deutsche Reichsangehörige „abbefördert" wurden und in einem Telegramm nach Berlin deren Übergabe gemeldet (Dok. 3). Solche wenig ehrenhafte Vorgänge müssen endlich historisch aufgearbeitet werden. Welche schrecklichen Folgen die Übergabe an die Gestapo für die Betroffenen hatte, geht aus einem Buch von Margarete Buber-Neumann hervor.

Sie selbst wurde ausgeliefert und blieb dann bis 1945 im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert. Über die „Abbeförderung" berichtet sie:

„Alle Gesichter waren gleich starr und unbeweglich vor Angst. Wir standen und blickten über diese Eisenbahnbrücke, die die Grenze bildete zwischen dem von den Deutschen besetzten Polen und dem von den Russen okkupierten Teil. Uber die Brücke kam ein Soldat langsam auf uns zu. Als er sich näherte, erkannte ich die Soldatenmütze der SS. Der NKWD-Offizier und der von der SS hoben grüßend die Hand an die Mütze . . . und dann sah ich, wie sich drei von unserer Gruppe absonderten und erregt auf den NKWD-Offizier einsprachen. Irgendwer flüsterte: ,Die weigern sich, über die Brücke zu gehen.' Es waren der jüdische Emigrant aus Ungarn, ein deut­scher Lehrer und ein junger Arbeiter aus Dresden, über den ich später erfuhr, daß er an einem bewaffneten Zusammenstoß mit den Nationalsozialisten im Jahre 1933 beteiligt gewesen sei, wobei ein Nazi ums Leben gekommen war. Ihm war es gelungen, zu fliehen und nach Sowjetrußland zu emigrieren. Im Prozeß gegen die bei diesem Zusammenstoß verhafteten Kommunisten hatte man auf ihn, den Abwesenden, alle Schuld abgewälzt. Dann sah ich, wie die drei über die Brücke getrieben wurden."26

Daten über das Schicksal einiger weniger der vermutlich 1000 an die Gestapo Ausgelieferten sind im folgenden zu finden, für die meisten fehlen sie noch immer.

Hier sei nur auf den tragischen Fall des KPD-Mitglieds und Komponisten Hans Walter David verwiesen. Er wurde 1893 als Sohn eines Justizrates geboren, seine Eltern waren deutsche Juden. Zunächst studierte er Jura, danach Musik, meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, wurde an der Front verwundet, erhielt das EK 1. Klasse. Nach dem Krieg konnte er sein Studium fortsetzen und arbeitete bis 1933 in Düsseldorf als Komponist, Dirigent und Musikpädagoge. David emigrierte nach Paris, kam 1935 auf Einladung des „Verbandes der Sowjet-Komponisten" nach Moskau und übernahm im Mai 1936 den Posten eines Generalmusikdirektors in Engels an der Wolga. In der Moskauer „Deutschen Zentral-Zeitung" beteuerte er noch seine Genugtuung, im „Lande des Sozialismus eine neue Heimat gefunden" zu haben. David widmete Stalin sogar eine Geburtstagshymne — allerdings in der verfemten Zwölftonmusik— und wurde danach am 5. November 1937 verhaftet. Da er sich weigerte, die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen („Teilnahme an einer faschistischen Gruppe" und „Spionage für Deutschland") zu gestehen, wurde er nach seiner späteren Aussage deswegen „unmenschlich geschlagen". Durch „Fernurteil" —also ohne seine Anwesenheit vor Gericht— wurde er am 11. September 1939 zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt und kam ins Arbeitslager Wjatka. Von dort nach Moskau zurückgeholt, wurde ihm im April 1940 erklärt, seine Strafe sei in „Ausweisung nach Deutschland" umgewandelt worden. Am 2. Mai 1940 nach Deutschland ausgeliefert, kam David ins Gefängnis Lublin, die SS hat ihn dann im KZ Majdanek vergast.

Zu den nach Deutschland ausgewiesenen Personen zählten auch viele Angehörige von Kommunisten, die in den Säuberun­gen verhaftet (und meist umgebracht) worden waren. Die Frau des im Moskauer Schauprozeß von 1936 Verurteilten Olberg, Betty Olberg, mußte die UdSSR beispielsweise zusammen mit Margarete Buber-Neumann verlassen. Frau und Sohn des vom NKWD hingerichteten Kominternfunktionärs Willy Wloch wurden 1940 nach Deutschland ausgewiesen, sein Sohn später noch zur deutschen Wehrmacht eingezogen.

Anmerkungen

Dok 3)
Verbalnote

Die Deutsche Botschaft hat die telefonische Mitteilung, wonach die in den Sammellisten vom 1. und 2. Februar 1940 benannten deutschen Reichsangehörigen, mit Ausnahme der Frau Klara Vatter am 5. des Monats nach Brest-Litowsk zur Übergabe an die Deutsche Grenzpolizei abbefördert worden sind, dankend zur Kenntnis genommen. Die Deutsche Botschaft hat ferner davon Kenntnis genommen, daß sich der Abtransport der Frau Vatter deshalb verzögere, weil die Ermittlungen nach ihrem zweijährigen Kinde, das mit zur Ausweisung kommen soll, noch nicht abgeschlossen sind. Die zuständigen deutschen Stellen sind entsprechend unterrichtet worden. Die Deutsche Botschaft bittet das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, Maßnahmen zu ergreifen, daß die Ermittlungen nach dem Kinde beschleunigt durchgeführt werden und, daß nach dem Abschluß Frau Vatter mit ihrem Kinde einem neuen Sammeltransport Ausgewiesener zugeteilt wird.
Moskau, den 10. Februar 1940.

26) Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. München 1949, S. 155.

Quelle: Hermann Weber, "Weiße Flecken" in der Geschichte, Ffm 1989, Dok 3, S.138, Lesetext, S.36f