Editorial
Ein neues Drehbuch braucht das Land

von Karl Mueller

8/2017

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Neulich unterhielt sich ein Genosse mit mir über unsere Serie "Texte zur Geschichte der Oktoberrevolution". Er meinte, dass allein die Dekrete der jungen Sowjetmacht schon zeigten, dass die Oktoberrevolution heute keine Blaupause für eine revolutionäre Umwälzung mehr sein kann. Sicherlich sei es richtig, so führte er aus, an den Prinzipien des revolutionären Bruchs festzuhalten, wie sie in Lenins Staat und Revolution dargestellt sind, aber - das revolutionäre Drehbuch für heute müsste erst noch geschrieben werden. Darüber entspann sich zwischen uns eine Art Brainstorming, was das bedeuten könnte.

Wir kamen überein, dass dieses Drehbuch kein Schreibtischprodukt einer Theorie-Elite sein kann, sondern aus den ökonomischen und politischen Kämpfen der proletarischen Klasse erwachsen muss. Da die proletarische Klasse - soziologisch betrachtet - kein homogener Block ist, sondern selber von Widerspruchslinien durchzogen, müsste das neue Drehbuch  nach unserer Ansicht in der Art einer Kapitelsammlung von Klassenkämpfen geschrieben werden. Wir stellten schnell fest, dass dabei die Schwierigkeit darin bestünde, die Sache so darzustellen, dass die Dynamik der Teilkämpfe nicht verloren geht; und da die Dynamik selber schwanke, dies in der gegliederten Ordnung der Gesamtdramatik des Drehbuches entsprechend berücksichtigt werden müsste.

Doch wer sollte das tun? Wer sieht sich dazu in der Lage?

Das Leninsche Parteikonzept gilt nolstalgisch eingestellten Kommunist*innen heute nach wie vor als adäquate Antwort darauf. Dem konnten wir beide uns nicht anschließen, da die klassensoziologischen und -kulturellen Bedingungen, die dieser Theorie zugrundeliegen, sowie die Formen der damaligen kapitalistischen Verwertung der Ware Arbeitskraft nebst dazugehöriger politischer Spielregeln heute durch andere Formen abgelöst wurden. An diesem Punkt angekommen, brachen wir unser Gespräch ab und beschlossen eine Denkpause einzulegen, um diesen Faden, der im doppelten Sinne ein "Roter Faden" dieses Drehbuches ist, in einem Folgespräch fundierter wieder aufnehmen zu können.

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Am 15. Juli 2017 fand in der Lunte  eine Gesprächsrunde unter dem etwas mißverständlichen Titel "Bürgerlicher Antifaschismus vs. linker Antifaschismus" statt. Nach zwei kurzen Inputs kreiste das Gespräch vor allem um die Frage, wie weit  hinein ins bürgerliche Anti-AfD-Lager die Antifa-Bündnislinie reichen sollte. Wenig erstaunlich dabei, dass ein Teil der Diskutant*innen sehr wohl einsah, dass es dem linken Antifa-Spektrum an antikapitalistischer Programmatik mangeln würde, dass aber unbeschadet dessen gegen die AfD das möglichst breitestete Bündnis geschaffen werden müsse. Dies begründeten sie allerdings nicht mit den programmatischen Defiziten (unzureichende Ableitung des Faschismus aus dem Kapitalismus), sondern mit der Angst vor politischer Isolierung. Sie meinten, dass es zwar richtig sei,  den Kapitalismus als Wurzel des Faschismus in einem antifaschistischem Programm darzustellen, dass sich aber ihre antifaschistsche Bewegungspolitik nicht mit einer Arbeit an so einem "Drehbuch" verbinden ließe.

Solch eine "Entweder-oder?"-Frage werfen sich linksbegreifende stadtpolitische Aktivist*innen erst gar nicht mehr auf, wie der Artikel von Detlev Kretschmann "Über Nacht gebaut" exemplarisch zeigt, den wir nach seiner Veröffentlichung durch die GEW Berlin aus diesem Grunde hier virtuell reprinten.

Vollmundig wird darin eingangs behauptet: "Kotti & Co steht für den Widerstand gegen den kapitalistischen Umbau Berlins." Vielmehr müsste es richtigerweise heißen: "Kotti & Co steht für die Legende, dass es im Kapitalismus soziale Gerechtigkeit geben kann." Zumal  gegen Ende des Artikels kleinlaut eingeräumt wird: "Kotti & Co wurde zu einer Mitakteurin in der Frage der Stadtgestaltung, die leider immer noch eine kapitalistische ist."

So lehrt uns dieses politische Projekt: Wenn sich Richtiges mit Falschem verbindet, dann kommt das Falsche raus.

Aus der Praxis der Lärmdemos, des Gecekondu-Baus und der Parole "Löhne rauf, Mieten runter" entstand in der Folgezeit keine von Mieter*innen geführte Organisation mit einem antikapitalistischen wohnungspolitischen Programm. Nicht einmal der Versuch, sich mit der Frage des kommunalen Wohnungs(neu)baus - immerhin entstand nahezu zeitgleich die INKW - zu befassen, stand den selbsternannten Sprecher*innen für (Sozialbau-) Bestandsmieter*innen im Sinn.  Sondern stattdessen musste infolge des ständigen Vorsprechens in den Vorzimmern des Senats - wie dem Artikel zu entnehmen ist -   aus Kotti & Co. ein mit Stiftungsgeldern gepamperter Verein werden. 

Von daher sind nun mittlerweile laut D.Kretschmann Kotti & Co-Aktivist*innen zu "Expert*innen" mutiert und dürfen auf  Lobbyisten-Sitzplätzen an den Außenrändern des rot-rot-grünen Senats Platz nehmen. Manchmal haben sie sogar eine gutdotierte (Fest-)anstellung beim Senat gefunden. Auch für eine wirklichkeitsnah eingeleitete Masterarbeit ließ sich die politische Praxis bei Kotti & Co. gut gebrauchen.

Man könnte die Kotti & Co.-Story vielleicht wohlwollend unter Berliner Lokalgeschichte abbuchen, doch ist dem leider nicht so. Aus Freiburg stammt ein Text, in dem die grün-schwarze Stadtentwicklungspolitik zwar zurecht als unsozial angegriffen wird, aber die strategischen Konsequenzen, die daraus für eine antikapitalistische Wohnungspolitik gezogen werden müssten, bleiben unbeachtet. Anstatt ein solches  "Drehbuch" - zumindest ein Kapital dafür - vermittelt aus der eigenen politischen Praxis zu schreiben, die Notwendigkeit war offentlich ins Bewußtsein gedrungen, wurde das auf Kapitalverwertung abgestellte Konzept des Mietshäusersydidikats für eine widerständige Wohnungspolitik als ausreichend angesehen, obgleich die zu schluckende Kröte nicht unbemerkt blieb:

"Im Modell des Mietshäuser Syndikat bestimmen MieterInnen selbst über die Verwendung und Höhe ihrer Mieten, soweit das unter kapitalistischen Verhältnissen möglich ist. Eine echte Alternative kann das Syndikat allerdings nur sein, wenn es sich konsequent der Frage der Zugangsoffenheit für Menschen aus nicht alternativem Milieu stellt."

Was offensichtlich so zu verstehen ist, dass Lohnarbeiter*innen sich dafür engagieren sollen, dass die Bilanzen des Mietshäusersyndikats stimmen und sie dabei ein wenig mitberaten und mitbestimmen dürfen. Es geht dem Proletariat aber nicht um ein Stück vom Kuchen des gesellschaftlichen Reichtums, sondern dieser, von der proletarische Klasse erarbeitet, muss von ihr geplant, angeeignet und verteilt werden. Kurzum: Es geht um die Aufhebung des Kapitalismus - es geht um dieses Drehbuch und zwar neu für dieses Land geschrieben.

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Auf den Seiten der Homepage "Linkes Oldenburg" fanden wir den Text "So kann sozialer Wohnungsbau gelingen", der sich zu den beiden anderen Texten allein schon dadurch unterscheidet, dass er einen klaren Trennungsstrich zu einer sich links gebenden, den Kapitalismus tatssächlich aber affirmierende Wohnungspolitik zieht. Gegen die kapitalistische Verwertung von Wohnraum, stellt er das Konzept der selbstorganisierten Bewohner*innen, die nun keine Mieter*innen mehr sind sondern Wohnraum-Nutzer*innen, da es kein Privateigentum an den Häusern mehr gibt. So richtig dieses Konzept sein mag, vor seiner Verwirklichung steht der Staat, der die kapitalistischen Profite mit der Miete sichert - zur Not auch mit Gewalt, wie die Geschichte der Hausbesetzungen lehrt. Hier macht es sich der Autor ein wenig leicht, wenn er schreibt:

"Vorab wollen wir zugestehen, dass es zu Beginn einer anderen Wohnungspolitik „natürlich“ Schwierigkeiten geben kann. Das ist in fast jedem Lernprozess so. Die Menschen werden wieder lernen müssen, sich selbst einzubringen und demokratisch zu handeln, jenseits der beiden Kreuze."

Der grundlegende Mangel seines Wunschkonzerts besteht also schlicht darin, dass der Autor glaubt, dass die Überwindung von Macht- und Eigentumsverhältnissen durch Diskurs möglich sei, wie er es uns durch das abschließende Kropotkin-Zitat, das große Veränderungen das Produkt des "kollektiven Geist" wären, noch einmal nahelegt.

Sicherlich ist es hilfreich zu träumen, denn wer dazu nicht fähig oder willens ist, hat bekanntlich auch keine Kraft zum Kämpfen, d.h. konkrete Utopien sind gefragt - aber nicht als Schreibtischprodukte ohne reale Bindung an eine politische Praxis. Das  "neue Drehbuch" wird ein kollektives sein - und es wird in den sozialen Kämpfen als ein in einem dialektischen Verhältnis von Theorie und Praxis sich selbst fortschreibendes "Drehbuch" entstehen.

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Die beiden Papiere von L.A.R.A. "Wir können auch anders"  und  Prolos "9 Punkte Programm der Prolos" erwecken beide den Eindruck, als ob es sich um ein solches "Drehbuch" oder zumindest um einige Kapitel dafür handeln würde.

Bei L.A.R.A. heißt es dazu in der Einleitung:

"Die Ideen unseres Textes entwickeln sich an vielen Stellen weniger aus einer Ideologie, als aus unseren Erfahrungen und aus vorhandenen, oft lokalen Ansätzen. Diesen Text verstehen wir als Beitrag, der Diskussionen entfachen und Schritte in einem längeren Prozess anstoßen soll."

Dieser Prozess soll vor allem darin bestehen, durch "Selbstermächtigung" und "Teilhabe" die kapitalistisch-patriarchalische Gesellschaft sukzessive über sich hinaus in eine andere, gerechte Gesellschaft zu transformieren.

Und ganz indidualanarchistisch fängt die "Selbstermächtigung" beim Einzelnen an. Aus interpersonaler Addition von subjektiv neuen Erfahrungen - wie z.B. durch Gemeinbesitz zur persönlichen Reproduktion (z.B. Essen, Trinken und Wohnen) - entstehen nach Meinung der Verfasser*innen ("zwei handvoll Menschen") Projektnetze im Hier und Jetzt als soziale Freiräume - wozu auch das Mietshäusersyndikat gezählt wird. Ein neuer "Lebensstil" wird zum Ziel der politischen Praxis - begleitende Schritte dazu  im "öffentlichen Raum" : "Demaskieren, Markieren, Dekonstruieren".

Abschließend wird empfohlen, "sich diesen Text gegenseitig laut vorzulesen".

Anders dagegen Prolos:

"Mit diesem Programm wollen wir erklären, wo wir als Gruppe Prolos stehen und vor welchen Problemen die Menschheit steht. Wir werden erklären, warum wir der Ansicht sind, dass wir eine freie kommunistische Gesellschaft brauchen, in der die Produktionsmittel vergesellschaftet sind und die politische Planung von Produktion, Leben, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in der Hand aller im Sinne basisdemokratischer Räte und Kommunen organisiert wird."

Prolos betreibt also mit seinem Programm Propaganda für eine "freie kommunistische Gesellschaft" als (End-)ziel in der Art einer Prinzipienerklärung. Sie ist leider wenig originell. Obgleich Umwelt und Patriarchat hinzugekommen sind, stammt doch das meiste - mit offensichtlichem Bezug zum Rätekommunismus - aus dem Propagandaarsenal der Arbeiter*innenbewegung der letzten 150 Jahre. Hinzu kommt, dass das Verenden des antikapitalistischen Projekts "Oktoberrevolution" einfach ausgeblendet wird, als wären Räte das Allheilmittel gegen ein kapitalistisches Rollback.

Prolos' Programm ist nicht das Ergebnis einer Klassenanalyse, woraus sich Strategie und Taktik ableiten. Es hat ganz offensichtlich keine Bindung zur konkreten Realität des Klassenkampfes. Die Organisierung der Klasse für die Aufhebung des Kapitalismus wird daher für Prolos folgerichtig in einen lebensweltlich-voluntaristischen Akt von selbsternannten Revolutionär*innen umgedeutet:

"Organisiert euch in den jeweiligen Lebenszusammenhängen – bildet revolutionäre Banden, Gruppen und Organisationen oder schließt euch solchen an! Organisiert euch überregional, weltweit."

L.A.R.A. und Prolos haben einen Mangel gemeinsam. Und dieser ist fundamental. Ihnen gelingt es nicht, aus den Erfahrungen der Klassen- und soziale Kämpfe theoretische Schlüsse zu ziehen und mit diesen die gesellschaftlichen Konturen einen nichtkapitalistischen Gesellschaft zu skizzieren, weil ihnen das Verhältnis von Theorie und Praxis für den alltäglichen Klassenkampf eigentlich ziemlich "Wurscht" ist. Die einen Verwuseln sich im "Hier und Jetzt", die anderen werben für ein Fern-Ziel.  Beide Programme gehören leider in die Rubrik: Voluntarismus und Eskapade.

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Kommen wir abschließend noch einmal zum "Hier und Jetzt". Am 7. Juli 2017 wurden 34 Parteien zu Bundeswahl 2017 zugelassen.

Darunter drei Parteien mit revolutionär-sozialistischem  Anspruch:

  • DKP (Deutsche Kommunistische Partei)
  • Internationalistische Liste / MLPD
    (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands)
  • SGP (Sozialistische Gleichheitspartei, Vierte Internationale)

also links von der sozialdemokratischen  Partei "Die Linke", in der mehrere Gruppen aus dem trotzkistischen Spektrum aus taktischen Gründen arbeiten und daher diese Partei im Wahlkampf unterstützen oder für sich nutzen werden.

Am 28. Juli 2017 entschieden Landes- und Kreiswahlausschüsse über die Landeslisten und die Direktkandidaten.

Mit dieser Ausgabe werden wir in der Rubrik  "Die Linke und die Bundestagswahlen 2017" ausgewählte Dokumente, Mitteilungen und Stellungnahmen dieser drei Parteien aus ihrem Wahlkampf veröffentlichen. Kritische Stellungnahmen dazu aus anderen linken&radikalen Zusammenhängen werden das Bild abrunden.