Editorial
Intellektueller Zentralangriff


von Karl Müller

10/06

trend
onlinezeitung
Gut 40 Leute waren am 22.9. ins IKAD zum TREND NACHTGESPRÄCH Unsere Geschichte lassen wir uns nicht nehmen gekommen. Ilse Schwipper und Johann von Rauch wollten aus ihrer Sicht Richtigstellungen zu Kraushaars Bombenbuch vortragen.

Zunächst stellte Karl-Heinz Schubert, der dann das "Nachtgespräch" moderierte, dar, welchen Erfolg das Bombenbuch nicht nur in der bürgerlichen LeserInnenschaft, sondern gerade auch unter Linken erzielt hat. Dies erschien ihm mit Bezugnahme auf die Linken deswegen bemerkenswert, weil die politische Absicht des Buches vor allem darin besteht, jeglichen Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu delegitimieren. Hier knüpfte  Ilse Schwippers Kritik an, die in ihrem Impulsreferat sagte: "Aber nicht nur, dass Wolfgang Kraushaar über all jene den Kübel voller Antisemitismus ausschüttet, die sich bedingungslos seinerzeit mit dem palästinensischen Widerstand solidarisierten. Er tut dies generell mit dem gesamten linken Widerstand der damaligen Zeit." Und anfügte: "Unzweifelhaft haben wir Fehler gemacht in unserem Kampf, persönlich – privat und im politischen geschehen. Aber dieser Teil der Geschichtsaufarbeitung ist Sache der am Kampf Beteiligten und ganz sicher nicht von Wissenschaftlern mit tendenziell konservativen und verurteilenden Motiven mit dem Blick von außen." Schließlich appellierte sie, dass die Linke "alte Feindbilder" und "trennende Organisation" überwinden solle.

Johann von Rauch griff diesen Gedankengang auf und schilderte aus seiner Sicht, worin die Zersplitterung der 68er Linken seiner Meinung hauptsächlich begründet gewesen sei. Jede Gruppierung hätte ihre "Wahrheit" für eine objektive gehalten und damit ihre Besonderung gerechtfertigt. Wenn es denn eine Lehre aus der Geschichte der 68er-Linken  gäbe, dann die - so Johann von Rauch - von solcher Rechthaberei Abstand zu nehmen. Sie führe geradewegs ins Sektierertum.

In der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass Johann von Rauchs Versuch der Verallgemeinerung einer Erfahrung durch Transformation in einen begrifflichen Zusammenhang ("objektive Wahrheit") auf erhebliches Unverständnis bei den Gästen stieß. Dies war keineswegs überraschend, denn seit etlichen Jahren hat sich - vor allem in praktisch arbeitenden Zusammmenhängen - eine Tendenz zur Verflachung politischer Diskussionen breitgemacht. Diese Tendenz zeichnet sich vor allem durch ein hohes Maß an Theoriefeindlichkeit aus. Ableitungen, Befunde und Urteile oder sogar Gesetzmäßigkeiten und schließlich Widersprüche sind jenen Diskutanten ebenso fremd wie weltanschauliche Fragen und erkenntnistheoretische Probleme. Statt dessen dominiert eine Mischung aus Plausibilität und (linkem) Milieudenken, welches aus Zuweisungen und Abgrenzungen zusammengebastelt ist. Mittels politischer Interaktionen (Kampagnen, Demos, Aktionen) Erlebtes wird als wesentlich für den Gruppenkonsens festgeschrieben, wird damit zum  Eigenen, lebensweltlich (Heidegger lässt grüßen) zur politischen Identität und in einer Wagenburg von Ver- und Zumutungen eingefriedet.

Dialektisches Denken verunsichert solche ideologisch behausten, formal und mechanistisch denkenden ZeitgenossInnen daher aufs Tiefste. Die Erkenntnis, dass Gegensätze eine Einheit bilden, dafür eine Form brauchen, um sich zu bewegen - sogar um den Preis ihrer Aufhebung - ist tatsächlich ein intellektueller Zentralangriff auf den identitär-politischen Schrebergarten. Schlussendlich empfanden wir - unter dem Eindruck dieses Abends - unsere Entscheidung, Texte des dialektischen und historischen Materialismus bzw. entsprechende Sekundärliteratur in der neuen Rubrik "Texte zur Philosophie"  zu verbreiten  - und das heißt heutzutage vor allem wieder zugänglich zu machen -  mehr als richtig.

Wir beginnen in dieser Ausgabe mit der abschnittsweisen virtuellen Veröffentlichung zweier vergessener Texte, die nicht nur qualitativ verschieden sind, sondern gänzlich unterschiedliche Zwecke verfolgen. Zum einen handelt es sich um die "Marxistischen Lehrbriefe", die aus der Schulungsarbeit der illegalen KPD stammen. Zum andern um das Arbeitsergebnis einer universitären Dialektik-AG aus den "roten" 70er Jahre. Damit wollen wir sozusagen die inhaltliche Breite dessen abstecken, was unsere LeserInnen auf diesem Feld der Theorie demnächst zu erwarten haben.

Im Übrigen gab es unlängst in Sachen inhaltliche Breite eine harsche Kritik, festgemacht an dem in der Nr. 09-06 als besonderes Dokument gekennzeichneten Text des Kurt Gossweiler und der dazugehörigen Debattenbeiträge. In der Email hieß es dazu:

Warum habt ihr diesen elenden Artikel über Stalinismus und
Antikommunismus in den trend aufgenommen? Was bezweckt ihr damit? Haltet  ihr das wirklich für diskussionswürdig? Dann doch gleich richtig Sayers
und Khan, das Original für Gläubige. Im jahr 1995(?) Augenzeugen der
Prozesse als Beleg für die "Verschwörung" anzuführen, das ist ein
starkes Stück! Der Typ hat echt "Mut". Es liegt mittlerweile so
erdrückendes Material gegen die Prozessführung der Stalin-Bande vor (und
nicht nur dagegen), dass mir eine solche Argumentation die Sprache
verschlägt. Musste das wirklich sein im trend? Wo hören die Strömungen auf, die gespiegelt werden?

Zunächst einmal: Es dürfte allein aus formalen Gründen schon ersichtlich sein, dass Gossweilers Text plus Anhang nicht zu denen gehört, die wir für diskussionswürdig halten - jedenfalls in unserem, dem TREND-Zusammenhang. Daher erscheint er nicht in der  Rubrik "Information & Diskussion"; desgleichen konnten wir diesem Text keine Fakten oder relevanten Standpunkte entnehmen, so dass er auch nicht in der Rubrik  "Hintergründe & Gegenstandpunkte" erschien. Und dennoch halten wir Gossweilers Text für wichtig zu verbreiten. Dazu erinnern wir an unsere "Stellungnahme  zur Veröffentlichungspraxis" aus dem Jahre 2005. Darin heißt es diesbezüglich:

"Die fortschreitende Wertvergesellschaftung zerbrach nicht nur den nationalstaatlich verfassten Sozialismus, sondern lässt mit dem gleichen rasanten Tempo die kapitalistischen Staaten erodieren...Unter diesen Voraussetzungen verstehen wir unter Rückbesinnung auf den Marxismus die notwendig gewordene Modernisierung dieses theoretischen Werkzeugkastens.  Solch ein Marxismus auf der "Höhe der Zeit" bedeutet freilich auch das Verhältnis von Bruch und Kontinuität im Hinblick auf die ArbeiterInnenbewegung, ihre Strömungen und Flügel solidarisch und nicht denunziatorisch zu entfalten." 

Unter diesem Gesichtspunkt ist es allerdings unabdingbar unsere LeserInnen von Diskussionen zu unterrichten, die in den Reihen des politischen Marxismus geführt werden. So veröffentlichten wir den Gossweiler Text nicht allein, sondern mit ihm weitere sich darauf beziehende. Denn der Gossweiler Text für sich genommen ist tatsächlich wenig ergiebig, spannend sind eigentlich die Reaktionen, aus denen ersichtlich ist, dass der zeitgenössische politische Marxismus nicht in der Lage ist zu begreifen, welches die tatsächlichen Voraussetzungen einer kommunistischen Organisierung und Umwälzung der kapitalistischen Verhältnisse sind - und da wo er das Terrain der Kritik der Politischen Ökonomie betritt - ist er nicht weniger rückwärts gewandt. Dies nur zu dem "besonderen Dokument" in dieser Ausgabe - dem Tagungsbericht von Robert Steigerwald .

Abschließend noch Bemerkungen zu einigen "Leckerbissen" dieser Ausgabe, was nicht heißt, dass in den nächsten Updates keine weiteren folgen werden.

Zunächst einmal Vadim Riga´s "Die lebendige Blume brechen". Seine umfassende Behandlung der Religionsfrage vom Standpunkt des Kommunismus  sehen wir als passende Ergänzung zu der neu eröffneten "Philosophie"-Rubrik. Wenn er abschließend feststellt: "Die Ideologien und Religionen stellen den Menschen auf den Kopf. Wir wollen, das der Mensch auf seinen Füssen steht, damit er seinen Kopf sinnvoll und sinnlich gebrauchen kann.", so drückt sich gleichsam darin ein Leitmotiv unserer Beschäftigung mit dem historischen und dialektischen Materialismus als Wissenschaft und als Weltanschauung aus.

Hans-Peter Büttner zeigt mithilfe der „Cambridge-Cambridge-Kontroverse“ auf, dass "das Bedürfnis nach einer Rechtfertigungslehre des Kapitalismus so groß" ist, "daß wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zur Kenntnis genommen werden dürfen". Anders als bei Riga geht es bei ihm nicht um die Kritik von Ideologien, sondern um die Kritik an praktischen Konzepten, die praktisch nicht greifen, infolgedessen sie sich gegen wissenschaftliche Kritik ideologisch abgrenzen müssen - und damit einen "sinnvollen Gebrauch des Kopfes" (Riga) ver-/behindern. 

Robert Schlosser registriert ein Verstummen der Kritik am Privateigentum sowohl unter Bewegungsozialisten - und formuliert damit unausgesprochen eine Kritik an der WASG  & Linkspartei - als auch unter so genannten Theoretikern. Damit legt er den Finger in die Wunde linker Politik, die heute immer noch ohne eine zureichende theoretische Fundierung daher kommt. Oder anders. Setzt Robert Schlosser die Akzente richtig, wenn er gegen dieses Verstummen fordert:  "die Herausarbeitung der nötigen Klarheit in der Kritik des Kapitals" und " die nötige Verständigung über jene kurzfristigen und langfristigen Ziele sozialer Befreiung, die sich realistischer Weise aus den objektiven Verhältnissen ergeben"? Stellungnahmen sind ausdrücklich erbeten!

Und last not least ein Hinweis zur Spiegelung des Bologna-Textes "Arbeiter, Maschinen, Migration, Kultur". Eigentlich gehörte dieser Text - wendet mensch hier strikt die Veröffentlichungskriterien des Gossweiler-Textes an -  in die Doku-Rubrik. Bologna hegt und pflegt in seinem Artikel ein klassisches Missverständnis des politischen Marxismus, nämlich zu meinen, dass Parteilichkeit und Interessengebundenheit von Wissenschaftlern direkte Auswirkungen auf den Gebrauchswert ihrer Wissenschaft haben. Daher in Umkehrung dessen seine Forderungen nach einer "militanten Geschichtswissenschaft" an der Seite des Proletariats und denklogischer Weise die Verkürzung des Marxismus aus eine Soziologie, in der "die Verbindung zwischen Arbeiter und Maschine eine der grundlegenden Beziehungen" darstellt. So will Sergio Bologna die "Krise des Marxismus" des Marxismus überwinden und merkt gar nicht, dass sein Marxismusverständnis die Krise des Marxismus ist.