Editorial
Neo-Imperialismus


von
Karl Mueller
12/05

trend
onlinezeitung
Eine „antikapitalistische Transnationale" ist nötig und wir könnten einfach damit anfangen, uns als eine solche zu organisieren, so lautet die Message der AG Transnationaler Widerstand.

Es ist erfreulich festzustellen, dass im Scherbenhaufen des autonomen Spektrums damit begonnen wird, die ideologische Lufthoheit der "Anti"deutschen in den eigenen Zusammenhängen zu ignorieren, um sich wieder Themen zu widmen, die ihre Fragestellungen aus der Klassenwirklichkeit entnehmen. Bereits in der Oktoberausgabe dokumentierten wir einen in der INTERIM erschienenen Text, der zum einen die Frage nach den heutigen Bedingungen von Lohnarbeit und ihrer Aufhebung aufwarf, sowie zum anderen eine anti-/transnationale Grundierung enthielt.

So lobenswert der Versuch der AG Transnationaler Widerstand auch  ist, weil er in die politisch richtige - die transnationale - Richtung weist, so wenig transportiert er doch Einsichten in die materiellen Grundlagen und Entwicklungstendenzen des heutigen Kapitalismus. Im Grunde genommen bleibt er der Karl-Heinz Rothschen Form eines modernen Proletkults verhaftet, wo von längst bekannten Zuständen der Lohnarbeit erzählt wird, die dadurch freilich nicht begriffen werden. Auf der gleichen Wellenlänge liegt der aus Österreich stammende Artikel: "Alles ist käuflich", der durch sein Faktenwissen Erkenntniswert erhält. Unter dem Gesichtspunkt der Informationsgewinnung ist auch der Artikel "Der Wisconsin-Plan in Israel" bedeutsam; wenn auch Methode und Begriffe aus dem Arsenal der bürgerlichen Soziologie entstammen, so vermittelt er den seltenen Einblick in die Klassenstrukturen Israels und der besetzten Gebiete.

Gerhard Hanloser führt dagegen die direkte Auseinandersetzung mit den "Anti"deutschen. Und zwar in der Form einer Ideologiekritik, indem er die Rolle und Funktion "anti"deutscher Propanganda skizziert. Das Bild ist vernichtend: "Anti"deutsche erweisen sich als  Claqueure und Einpeitscher der US-amerikanischen Außenpolitik mit dem erklärten Ziel, den Antikapitalismus, wie er aus den Widersprüchen des warenproduzierenden Kapitalismus erwächst, zu pathologisieren und den Klassenkampf des Proletariats zu delegitimieren. Und: "Faschismus darf nicht als das erscheinen, was er auch war: eine präventive Konterrevolution, deren Gegner die sozialistische Bewegung, der Marxismus und die klassenbewußten Arbeiter waren."

Werner Seppmanns Artikel und der über Terry Eagleton befassen sich mit dem Terror, wie er als genuiner Teil bürgerlicher Politik nach innen und imperialistischer nach außen historisch und heute in Erscheinung tritt. Terry Eagleton erinnert: "Der Terror begann als Staatsterror auf dem Weg der Bourgeoisie zur Herrschaft ihrer Klasse. Diese wilde Macht lebt in der Gegenwart fort. Der Terror gehört auf, gesetzlos zu sein, und wird legitim. Er findet nicht mehr auf dem Kopfsteinpflaster von Paris statt, sondern zieht sich aus der öffentlichen Wahrnehmung in die Gefängnisse und Folterlager geachteter und etablierter Regime zurück.“

Im übrigen ein Terror, wie er von "Anti"deutschen in Kirchensälen und bei Straßenumzügen vehement propagiert wird. By the way: "Anti" mit Tüttelchen, weil es sowohl bei den Hardcore- wie auch Lightversionen "anti"deutscher Provenienz höchstens vordergründig um die Kritik "deutscher" Verhältnisse geht.

RGL nimmt die aktuell laufende Entführung einer Deutschen im Irak zum Anlass von Spekulationen über mögliche Verwicklungen der CIA in solche Praktiken. Diese Gedankenspiele sind aber nur der Aufhänger für das Erinnern an die Blutspur, die die US-Außenpolitik der letzten 60 Jahre nach sich zieht. Resümierend stellt RGL fest:„Dieser imperial-faschistoide und völkermörderische Staatsapparat der US-Administration inszeniert sich jedoch global als demokratisch und rechtsstaatlich mit imperativem Beispielcharakter für die gesamte Welt.“

Jenen drei Artikeln, die sich mit den Erscheinungsformen spätbürgerlicher Klassenpolitik, speziell dem Terror, jeweils auf ihre Weise befassen, ist gemeinsam, dass sie sich schwer tun, das Wesen der Etappe der kapitalistischen Entwicklung seit 1989 materialistisch auf den Begriff zu bringen. Wir haben - uns  dieser Schwierigkeit bewusst - für die Etappe der kapitalistischen Entwicklung seit 1989 den Begriff "Neo-Imperialismus" in unserer Printausgabe 2-05 verwendet. Dazu erreichten uns Fragen über Sinn und analytische Reichweite dieses Begriffes. Auch gab es Mutmaßungen über einen möglichen Rückfall in Denkweisen des verflossenen politischen Marxismus.

In seinem Aufsatz, den er mit "Der Neue Imperialismus" betitelt, schreibt Eric Hobsbawm:

"Das Zentrum der industrialisierten Welt verschiebt sich rapide in die östliche Hälfte Asiens. Anders als ältere imperialistische Länder, und anders als die meisten übrigen entwickelten Länder, hat die USA damit aufgehört ein Nettoexporteur von Kapital zu sein; sie hat sogar damit aufgehört der größte Akteur beim internationalen Spiel des Kaufens und Gründens von Firmen in anderen Ländern zu sein, und die finanzielle Stärke des Staates basiert auf der anhaltenden Bereitschaft anderer Länder, hauptsächlicher asiatischer, ein sonst unhaltbares Defizit aufrecht zu halten."

Hobsbawn vertritt hier in klassischer Weise, eng an Marx angelehnt, einen Imperialismusbegriff, der die realen Ungleichzeitigkeiten der kapitalistischen Entwicklung im Weltmaßstab aus der Akkumulation und Konzentration (Stichwort Kapitalexport) des Kapitals herleitet. Damit steht er ideengeschichtlich betrachtet in der Nähe der Imperialismustheorien der II. und III. Internationale. Daran versuchten wir mit unserer Printausgabe anzuschließen, ohne dies explizit in der Printausgabe auszudrücken.

Doch noch ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt sei genannt. Wir markierten die neo-imperialistische Etappe mit dem Jahr 1989. Dieses Jahr steht als ein Synonym für das Zerfallen des Lagers der sozialistischen Staaten, das über viele Jahrzehnte der imperialistischen Kapitalakkumulation eine Verwertungsschranke setzte. Im Grunde genommen nähert sich die neue Wirklichkeit den Wesensmerkmalen des alten Imperialismusbegriffs, wie er aus den Verhältnissen vor der Oktoberrevolution abgeleitet worden war. Dies wird weiterhin zu zeigen sein.