Editorial
Ecken und Kanten

Von Karl Müller

Update aus aktuellem Anlass vom 3.12.2006
12/06

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onlinezeitung
Wenige Tage nach dem Erscheinen der 11/06 erreichte uns eine stimmungsvoll aufgespreizte Kritik an meinem Editorial „Aus der Unterschicht in den Untergrund“ von einem der Macher des 883-Lesebuches.  Heftig polemisierte er darin gegen meine unmissverständliche Feststellung dass unvorhersehbar kleine, als Randgruppe bezeichnete Teile einer breiten gesellschaftlichen Bewegung - nämlich der Jugend- und Studentenbewegung, in den Untergrund mit dem alleinigen Ziel gingen, dem Kapitalismus den Garaus zu machen.“ 

Meine Feststellung völlig verdrehend zensierte er: „Einige Bezüge in dem von „Karl Mueller“ verfassten Editorial sind so  kraus, das man darauf nicht ernsthaft mehr erwidern geschweige denn argumentieren kann. Und damit meine ich noch nicht einmal den Einfall, die  studentische APO-Szenerie Ende der 60er Jahre in Berlin nun als eine Art  „Unterschicht“ zu deuten.“

Nichts desto trotz ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass die RAF-Gründer – also jene „Leninisten mit Knarren“ aus dem akademischen Milieu kommend – nicht die einzigen waren, die den bewaffneten Kampf aufnahmen, sondern das etliche Protagonisten aus den so genannten Randgruppen stammten, wo zuvor Baader &  Meinhof & Co in Frankfurt/M wie in Westberlin, Heidelberg und anderswo versucht hatten, in diesen sozialen Zusammenhängen organisierend und rekrutierend einzugreifen.

Und daher ist es sachlich richtig von einem der 883-AutorInnen, nämlich von Sven Steinacker, wenn er in seinem Aufsatz über das Verhältnis von radikalen Linken und  sozialen Randgruppen schreibt: „Eine gewisse Bedeutung erlangte er (der Problemkreis  Randgruppen  - kamue) in erster Linie dadurch , dass er immer wieder in andere Themen wie etwa Avantgarde-/Organisations-/Theorie-Praxis-Diskussion hineinragte…Allerdings wurde eher diffus von Deklassierten, Unterschichten, Außenseitern, unterprivilegierten Schichten, Erwerbslosen, Verwahrlosten, Kriminalisierten usw. gesprochen.“

Vielleicht sollte sich das 883-Lesebuch-Team mal einfach ein wenig inhaltlich abstimmen, jedenfalls was die historischen Fakten anbelangt?

Unser „883-Kritiker“, der im Zusammenhang mit dieser Mail ausdrücklich nicht namentlich genannt werden will, echauffierte sich auch darüber, dass wir es für unakzeptabel halten, dass der sehr freundliche Klaus Schmitt, der uns bei der Recherche sehr geholfen hat“ (O-Ton des N.N.) mit seiner Anarcho-Fascho-Kacke im Verein mit Bernd Rabehl  via CD durch das 883-Lesebuch unkommentiert(!!) Verbreitung findet.

Scans aus K. Schmitts 883-Schwindel
von der CD des 883-Lesebuch
es

Notwendige ERGÄNZUNGEN zum Editorial "Ecken und Kanten "

Daher von hier aus noch einmal auf den Punkt gebracht:

Wenn im interpretierenden Rückblick antisemitische Grundierungen in der Agit 883 zu entdecken sind, wie dies Knud Andresen in seinem Aufsatz „Das äußerst komplizierte Palästina-Problem“  für antideutsch fühlende LeserInnen befriedigend behauptet, dann ist dies einen Widerstreit der Meinungen wert. Rechte Texte der 90er Jahre zu verbreiten, die mit der Agit 883 von 1969-72 nur dadurch verbunden sind, indem ein ehemaliger 883-Handverkäufer viele Jahre später den Zeitungsnamen für seine reaktionären Zwecke missbrauchte, ist ein schwerer politischer Fehler. Diesen zu korrigieren ist eine Forderung, die im politischen Raum expliziert gegen die linken Herausgeber zu richten ist. Wir werden die Herausgeber Andresen & Mohr & Rübner, sollte es zu einer 2. Auflage kommen, daran zu messen haben. 

Das 883-Lesebuch ist eben ein Buch mit Ecken und Kanten, welches nicht nur zu erhellendem Meinungsstreit und anschließenden Klärungen verhilft, sondern auch zu eigenen Untersuchungen verleitet.

So hat Karl-Heinz Schubert begonnen mit Unterstützung des TREND bei INFOPARTISAN ein Rockarchiv ROCK & REVOLTE aufzubauen. Er ließ uns diesbezüglich wissen, dass seiner Meinung nach die Darstellung dessen, was im 883-Lesebuch als Subkultur, Underground und Jugendszene  referiert wird, worthülsenhaft falsch und dahinter geringes Faktenwissen verbergend daherkommt. Daher erschiene es ihm geboten, jenem kulturalistischen Geraune entgegen zu treten – allerdings nicht vornehmlich auf der Ebene der Ideologiekritik, sondern auf dem Feld der empirischen Fakten. Er hofft, dies durch Ton, Film, Bild und Texte zu leisten, die dokumentarischen Charakter haben, und von daher ein anderes Verständnis dieser "Roten Jahre" (1967-77 nach Koenen) – nämlich ein Klassen- und Kapitalverhältnisse reflektierendes - zu ermöglichen.

Unsererseits wollen wir sein Vorhaben ein wenig dadurch begleiten, in dem wir unser Archiv durchforsten und im Internet recherchieren. In dieser Ausgabe beginnen wir daher mit der Spiegelung eines Textes, der die  Entstehung und die Aufgaben des Jugendamtes beschreibt. Wir haben ihn im Internet bei einer so genannten Väter-Initiative gefunden, die nicht unbedingt zu den fortschrittlichen Kräften gehört. Ihre konservative Grundierung kommt in dem vorliegenden Text u. E. nicht zum Tragen, vielmehr beleuchtet er  einen nicht unwesentlichen Seitenstrang der Fakten, die im ROCKARCHIV zusammengestellt werden (sollen), nämlich den Versuch durch Umstrukturierung des Staatsapparates im Jugendbereich auf die revoltierende Jugend kalmierend und Zustimmung produzierend einzuwirken. 

Im übrigen halten wir die Nr.12, die letzte Nummer des Jahres für eine der gelungenen. Neben den Standardtexten aus Geschichte, Philosophie und Ökonomie gibt es wieder echte Schmankerl - als da wären:

  • Der Teil II der Notizen zum gesellschaftlichen Stoffwechsel von Franz Schandl, der quasi als Dankeschön für die "gute Zusammenarbeit" dem TREND die Möglichkeit gibt, seinen Text online zustellen, während er zeitgleich in Printausgabe der Streifzüge 38 erscheint.
  • Robert Schlosser unterstützte diese Ausgabe mit dem Hinweis auf Rainer Roths Thesenpapier zur Gesundheitsreform, welches wir mit der Aufforderungen zu diskutieren und zu verbessern nun spiegeln.
  • Peter Nowak provoziert bestimmt Widerspruch, wenn er über den Attentäter von Emsdetten schreibt: "Bemerkenswert ist eher, dass sich in seinen Erklärungen viele Elemente eines Jugendlichen finden, der sich auch einer linken Bewegung anschließen könnte." Und das ist gut so, denn Widerspruch ist ja bekanntlich Grundlage der Bewegung.
  • Und schlussendlich, was wäre der TREND ohne Bernard Schmids Berichte aus Frankreich?

Das Jahr 2006 geht seinem Ende entgegen und wenn wir auf dieses zurückschauen, dann war das 11. TREND-Jahr  eines mit echten Glanzlichtern

Daher von dieser Stelle aus ein dickes Dankeschön an alle, die dazu beigetragen haben, dass der TREND dieses Jahr so erfolgreich durchlaufen konnte.

Ebenfalls ein dickes Dankeschön an alle AutorInnen, die auch dieses Jahr wieder dafür sorgten, dass der TREND ein interessantes, lehrreiches, lesenswertes  und profiliertes linkes Onlinemagazin ist.

Und last not least geht der Dank an den politischen Beirat des TREND, ohne den vieles in diesem Jahr nicht gelaufen wäre. Er war ein lebendiges, streitlustiges und daher lehrreiches - vor allem aber fleißiges Gremium - und das soll so bleiben.