TREND-Thema: Stadtumbau

Überbaustrategie
Stadtsanierung in Kreuzberg

7-8/10

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Aus dem Büro für Stadtsanierung und soziale Arbeit, das nach dem 1. Mai 1968 von der Basisgruppe Kreuzberg gegründet wurde, ist jetzt eine Berufsbasisgruppe Regionalplanung im RC Berlin hervorgegangen. Der Ansatzpunkt für Mieterkampagnen ergab sich aus den Sanierungsprojekten des Bausenats für den Bezirk Kreuzberg:

AUFRUF ZUR GRÜNDUNG EINER FÖRDERGESELLSCHAFT REGIONALPLAN

Der Westberliner Senat will gemäß der Regierungserklärung von 1963 in den ehemals proletarischen Stadtteilen die objektiven Disparitäten (vernachlässigte Wohnbausubstanz, Unterversorgung mit Sozialeinrichtungen im vorhandenen Raum-programm u.a. Mängel) spektakulär abbauen. Diese Strategie erlaubt aber gleichzeitig neben den erst eingeleiteten Sanierungsprogrammen mit Durchführung des Weißen Kreises die sog. Chancengleichheit der Individuen auf den verschiedenen Märkten vorab als gegeben zu unterstellen. Angesichts dieser Situation erhält der Kampf um emanzipatorische Lebensbedingungen in benachteiligten Stadtgebieten allgemein-politische Relevanz:


Bisher zum Thema erschienen:

Siehe auch die Infopartisan-Linkseite: Reaktionäres von "Rot-Rot"

Nicht nur werden die innerbetrieblichen Kriterien der Lohnfindung bei den absehbaren und angekündigten allgemeinen Steigerungen des Metzinses zunehmend fragwürdiger; das Bündnis mit den vorherrschenden Profitinteressen läßt zudem die Chance eines planvollen Umbaues der sozialen Infrastruktur nach Maßgabe autonom-demokratischer Bedarfsbestimmung verfallen zugunsten einer kurzatmigen Krisen-Vermeidungsstrategie auf dem Bausektor: Hinter der Fassade sozialpolitisch progressiver Stadterneuerung wird in Wirklichkeit mit der lokalen Umschichtung von Bevölkerung als solcher Nachfrage mobilisiert und das Angebot rigoros verknappt.

In dieser allgemeinen Situation ist die kritische Intelligenz darauf verwiesen, Gegenstrategien aus der Perspektive der von System-Konflikten betroffenen Gruppen zu entwickeln und die Bedingungen einer aufgeklärten Öffentlichkeit herzustellen, die geeignet sind, organisatorische Kerne zunehmender Selbstverwaltung in Schulen, Hochschulen und Betrieben sich bilden zu lassen.

Die BERUFSBASISGRUPPE REGIONALPLANUNG IM REPUBLIKANISCHEN CLUB stellt sich die Aufgabe, Ansätze zur Formulierung von Gegenstrategien in der Regionalplanung zu koordinieren .

Für einen solchen Ansatz stehen die begonnenen Aktivitäten des BÜROS FÜR STADTSANIERUNG UND SOZIALE ARBEIT in Berlin -Kreuzberg.

Eine doppelte technische Rationalisierung ist im nordöstlichen Teil von Kreuzberg für ein Gebiet geplant, das annähernd denselben Umfang hat wie das Paradebeispiel des Senats für Stadterneuerung im Berliner Wedding:

  • Von 16000 Wohnungen, die Anfang der sechziger Jahre gezählt wurden, gelten nach Auffassung der Bauverwaltung nur 3 °/o als erhaltenswert;

  • Älteren Plänen zufolge soll innerhalb desselben Gebietes eine Stadtautobahn über eine Folge von parkähnlichen Alleen gelegt werden;

  • In einem aufwendigen Kreuzungsbauwerk soll die Südtangente kurz vor der Sektorengrenze mit der Osttangente verbunden werden.

Der abenteuerliche Aspekt der Planungen für Kreuzberg-Nord ist symptomatisch vorfindlich an dem definitiv beschlossenen Abriß eines konfessionell geleiteten Krankenhauses, das besonders für langfristige Behandlungen etwa in der Altersheilkunde geeignet ist (die bei der demografischen Entwicklung Westberlins besondere Bedeutung erhält): Das Kuratorium des Krankenhauses schlug aus der Sanierung vermeintlich das beste heraus, indem es Eigentümer des Grundstücks blieb und die aus der Wohnbebauung zu erwartenden Miet-Einnahmen für Renten verwendet, die den zur Ruhe gesetzten Schwestern gezahlt werden sollen. An der Entscheidung der Senats Verwaltung, die vergleichsweise niedrigen Zuschüsse für den Betrieb des Krankenhauses vollends einzustellen, sind ebenso betriebswirtschaftliche Irrationalität nachweisbar - vor wenigen Jahren wurden mehrere Millionen DM für Modernisierungen investiert -, wie der Einspruch der Ärztekammer und bezirklicher Medizinalbehörden, letztlich auch der Bauhistoriker auf die Erfordernisse der Versorgungslage der Bevölkerung verweist. Umso aufschlußreicher wird es vermutlich sein, die politische Logik der Entscheidung der Bürokratie, die den Abriß von Bethanien für Juni 1970 vorsieht, gegen sie nutzbar zu machen: Gegenüber den Widerständen, die der Stadtsanierung in Kreuzberg von Seiten des Kleingewerbes geboten werden, hat man ersichtlich eine schwächere Gruppe eingekauft, um ein Identifikations-Symbol der Bevölkerung zu treffen und ihren Widerstand zu brechen. Je mehr diese Kalkulation zutrifft, desto erfolgreicher wird auch die Umkehrung derselben Rechnung. Der Identifikationswert von Bethanien wird zum Symbol für den Widerstand werden, den eine Arbeiterbevölkerung der unteren Ränge gegen ihre ausserbetriebliche Umsetzung leisten kann.

Wie Bauplaner des Senats offen erklären, gehen in die Planung der Sanierung nicht die Interessen der Bewohner ein, die heute in dem Gebiet zwischen Prinzenstraße und Lausitzer Platz leben: Schon der Mietpreis sorge dafür, daß besser gestellte Gruppen in Zukunft dort wohnen werden. Vom Standpunkt der Se -natsverwaltung ist es daher erklärlich, daß ein technisches Gutachten über Sanitärzellen aus Kunststoff verweigert wurde, die als Übergangslösung an den Gebäuden in Sanierungsgebieten -die Gebiete der zweiten Stufe werden vom Regionalforschungsinstitut DATUM, Bad Godesberg, z.Zt. errechnet - angebracht werden könnten. Die Sinnfälligkeit dieser Einrichtung wird von den Betroffenen vermutlich gesehen: Wenn schon die Verhältnisse als so schlecht gelten, daß man in größeren Arealen den Abriß von Häusern plant, dann dürfte nichts unversucht bleiben, was die Lage derjenigen zu verbessern geeignet ist, die noch einige Jahre unter denselben Bedingungen leben werden wie die bereits Exmittierten (Jährliche Sanierungsrate: höchstens 5.000 Wohnungen gegenüber 300.000 sanierungsbedürftigen Wohnungen, die kein Bad haben).

  • Das BÜRO FÜR STADTSANIERUNG UND SOZIALE ARBEIT wird in der nächsten Ausgabe des WOHN-INFO die technischen und ökonomischen Details des Sanitärzellen-Vorschlags darstellen, der mit einer Zusammenlegung von Kleinwohnungen am ökonomischsten durchzuführen ist; sowie im Zusammenhang mit den Mieterhöhungen für Sozialwohnungen der ersten beiden Bauprogramme die Finanzierungspraktiken, die den Mietpreis im sozialen Wohnungsbau der letzten Jahre bedingen; und die Spekulationen, die den Abriß des Bethanien-Krankenhauses erforderlich machen.

  • Das BÜRO FÜR STADTSANIERUNG UND SOZIALE ARBEIT verbreitet das WOHN-INFO mit Postwurfsendungen, plant Diskussionen in Kleingruppen, Umfragen udd öffentliche Versammlungen mit den Bewohnern des Planungsgebietes, um die Demokratisierung im Planungsprozeß voranzutreiben.

  • Als Beitrag zur theoretischen Aufarbeitung der Problematik von Wohnungspolitik, Stadtsanierung und Bodeneigentum gibt das BÜRO FÜR STADTSANIERUNG UND SOZIALE ARBEIT einen Sammelband heraus, der Vorträge von Prof. Werner Hofmann (Marburg), Prof. Elisabeth Pfeil (Hamburg) sowie Aufsätze von Herbert J. Gans, Nathan Glazer, Karl-Heinz Walper, Joachim Schlandt u.a. enthält .

  • Das BÜRO FÜR STADTSANIERUNG UND SOZIALE ARBEIT besteht bislang aus: Assistenten und Studenten der Architektur, der Soziologie u.a. Disziplinen sowie Sozialarbeitern. Speziell für die Ausarbeitung von architektonischen Gegenvorschlägen, sonst auch für Versammlungen und Beratungen werden die Fabrikräume in der Wrangelstraße benutzt. Für kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit wird außerdem z.Zt. ein zentral gelegener Laden eingerichtet (Naunynstraße Ecke Oranienplatz).

Für unsere Arbeit ist die MITARBEIT oder BERATUNG durch Angehörige weiterer Berufsgruppen dringend erwünscht:

  • Pädagogen und Bildungsforscher, die sich mit den Auswirkungen der Wohnsituation von Arbeiterfamilien und der Einstellung von Eltern auf die Emanzipationschancen ihrer Kinder praktisch befassen oder die sich mit der Schulbauplanung und Experimental-Schulprogrammen beschäftigen;

  • Juristen, die bei der Organisation des Widerstandes gegen Mietpreiserhöhungen und Exmittierungen helfen (im Zusammenhang mit dem ROTEN KREIS);

  • Mediziner, Psychologen, Theologie-Studenten, die in emanzipatorischen Beratungsstellen mitarbeiten oder auf die bestehenden Sozialhilfe--Institutionen (Gesundheitsämter, Kirchengemeinden, Jugendclubs, Krankenhäuser) einwirken wollen.

Die Berufsbasisgruppe Regionalplanung fordert zur Unterstützung des Büros für Stadtsanierung und soziale Arbeit auf. Sie gründet zu diesem Zweck eine FÖRDERGESELLSCHAFT REGIONALPLAN, deren Mitglieder über die Verwendung sämtlicher zur Verfügung gestellter Mittel Rechenschaft verlangen und den Verwendungszweck ändern können.

1)
WOHN-INFO. Informationen zur Wohnungs- und Baupolitik wird vom Büro für Stadtsanierung und soziale Arbeit herausgegeben . Die erste Ausgabe erschien zum 1. Januar 1969 anläßlich der Auflösung der lokalen Wohnungsämter. Sie wurde in einer Auflage von 10.000 im Sanierungsgebiet Kreuzberg verteilt.
2)
Bisher vorliegend: Materialien zur Mieter-Agitation (vergriffen) W J. Schlandt und R. Czeskleba: Wohnungspolitik im Wien der zwanziger Jahre und in Westberlin, Ein Beispiel für die Kapitulation der Sozialdemokratie; 2. Aufl., Berlin 1968

(Berufsbasisgruppe Regionalplanung im RC Berlin sowie Büro für Stadtsanierung und soziale Arbeit, l Berlin 36, Wrangelstr. 5, u. Naunynstr. 48, Tel. 61 30 02)

Editorische Anmerkung

Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift  Rote Pressekorrespondenz,  Nr. 4, Westberlin 15.3. 1969. Seite 9f

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