Realistischer und unrealistischer Utopismus
Aus Anlass der bevorstehenden Demonstration in Essen und der laufenden Betriebsatswahlen

von Robert Schlosser

03/10

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Keiner schöner Land in dieser Zeit …

Existenzielle Unsicherheit, Armut, Perspektivlosigkeit und Gesundheitsschädigung bis hin zur generellen „Arbeitsunfähigkeit“ durch maßlose Überarbeitung, zählen zu den Glanzleistungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die soziale Bilanz bürgerlicher Reichtumsproduktion wird auch dort zunehmend schlechter, wo relativ hohe Löhne und Gehälter sowie soziale Reformen die gröbsten Auswüchse der Privatproduktion über Jahrzehnte linderte. Die „Wachstumsschwäche des Kapitals“, Krisen und zunehmende Lohnarbeitslosigkeit stehen seit langem im Zentrum gesellschaftlicher Diskussion und Auseinandersetzung. Was die bedingungslosen Verteidiger der kapitalistischen Marktwirtschaft in Unternehmerverbänden und bürgerlichen Parteien dazu sagen, wie sie ihre sozialen Schweinereien rechtfertigen, soll hier nicht weiter interessieren. Es ist allerdings bemerkenswert, unter welchen Forderungen und Zielen gegen die sozialen Konsequenzen kapitalistischer Privatproduktion gekämpft werden soll.

Träume, die Schäume sind ...

Da gibt es zum einen die hübschen Phrasen etwa von der „solidarischen Gesellschaft“ oder auch vom „echten Sozialismus“. Dabei schließt die „solidarische Gesellschaft“ die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte offensichtlich nicht aus. Sie scheint ohne weiteres realisierbar zu sein auch unter Beibehaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der „Marktwirtschaft“. Es gilt vielen als realistisch, dass die Menschen sich solidarisch zueinander verhalten können auch unter Bedingungen allgemeiner Konkurrenz, der Konkurrenz der Unternehmen gegeneinander, der Konkurrenz der Lohnabhängigen untereinander!

Ebenso problemlos realisierbar scheint ein „echter Sozialismus“, der die „Diktatur des Proletariats“ durch die diktatorische Allmacht einer „Partei der Arbeiterklasse“ sicher stellen will und Stalin oder Mao als Wegbereiter dieses „echten Sozialismus“ anpreist. Besonders attraktiv erscheint das nicht und man muss geradezu hoffen, dass uns eine Neuauflage des „realen Sozialismus“ - nunmehr mit einem Echtheitszertifikat versehen - erspart bleibt.

Muss es da wundern, dass die Perspektiven von „Linken“ oder auch Gruppen, die sich selbst als kommunistisch verstehen, nicht eben gut und verheißungsvoll sind?

Für jede Veränderung in der Gesellschaft gibt es Bedingungen (übrigens auch für ein angeblich bedinglungslos mögliches Grundeinkommen). Es gibt gesellschaftliche Bedingungen, die eine unsolidarische Gesellschaft erzeugen (Allgemeinheit von Warenproduktion und Konkurrenz) und es gab gesellschaftliche Bedingungen, die zum despotischen Zwangskollektivismus des „realen Sozialismus“ führten (Unterentwicklung, Struktur der „bolschewistischen“ Partei und ihre Stellung in der „Diktatur des Proletariats“, Praxis des Aufbaus von „Sozialismus“ in einem Land, etc.) Kein guter Wille, keine richtige Politik kann in einer Gesellschaft mit konkurrierender Privatproduktion und konkurrierenden LohnarbeiterInnen ein solidarisches Gemeinwesen verwirklichen. Kein guter Wille, keine richtige Politik kann in einem (!) unterentwickelten (!) Land durch die despotische Herrschaft einer undemokratischen Partei einen „echten“ Sozialismus realisieren.

Offensichtlich interessieren die Bedingungen sozialer Unfreiheit ebenso wenig, wie die Bedingungen sozialer Emanzipation. Es reicht, das Gute zu verkünden, mag es nun „solidarische Gesellschaft“ oder „echter Sozialismus“ heißen.

Zentrale Bedingungen einer solidarischen Gesellschaft oder eines echten Sozialismus wären:

  • Gemeineigentum

  • Selbstverwaltung

  • und demokratische Planung vernetzter genossenschaftlicher Betriebe.

(Privateigentum an Produktionsmitteln, „Marktwirtschaft“ oder die „führende Rolle der Partei“ gehören nicht dazu.)

Über solche Voraussetzungen einer Emanzipation von den sozialen Missständen des Kapitalismus wird kaum konkret diskutiert. Diese Eckpunkte einer kommunistischen Perspektive erschließen sich nur aus ebenso verständiger, wie radikaler Kritik des Kapitals … und darum ist es eher schlecht bestellt. Ein wesentlicher Punkt, warum „die Linke“ insgesamt so sektiererisch, beliebig und ohnmächtig ist. Es kommt aber noch besser.

Was im Kapitalismus nicht geht ...

Nein, es bleibt nicht nur bei der allgemeinen Verheißung einer „solidarischen Gesellschaft“ oder eines „echten Sozialismus. Auch im Kapitalismus wird um „jeden Lohnarbeitsplatz“ gekämpft, so beschissen er auch sein mag. Man weiß von allerlei Heilmitteln, die diese Lohnarbeitsplätze angeblich sicher machen.

Vorne weg etwa die IG Metall, die zu den Betriebsratswahlen folgendes flächendeckend plakatiert :

Ich geh wählen. Mit Betriebsrat sind unsere Arbeitsplätze sicher.“

Wie viele linke Oppositionelle auch, forderte die GOG (Gegenwehr ohne Grenzen; die Kollegen mögen mir verzeihen, dass auch eines ihrer Ziele Gegenstand meiner kleinen Polemik sind...aber es passte gerade so gut.) bei Opel in Bochum Arbeitszeitverkürzung, um Arbeitsplätze zu sichern. „Doch gegen den Abbau der Arbeitsplätze bleibt das wichtigste Mittel: Arbeitszeitverkürzung.“

In Aufrufen zur Demo „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ in Essen wird zuallererst gefordert:

Entlassungsverbot“

Das sind nur 3 beliebige Beispiele, die sich vielfach ergänzen ließen, wie man der vom Kapital gesetzmäßig produzierten Lohnarbeitslosigkeit als Hauptursache der sich ausbreitenden existenziellen Unsicherheit und Armut begegnen will.

Das Versagen des Systems der kapitalistischen Privatproduktion kommt am deutlichsten zum Ausdruck in der steigenden Produktion von Lohnarbeitslosigkeit und stellt damit sich selbst in Frage. Ausgerechnet in dieser zentralen Frage ist man aber ganz versessen darauf, das System zu reparieren und Lohnarbeit zu sichern. Und ausgerechnet dazu wird immer wieder die Arbeitszeitverkürzung, die einer der wichtigsten Hebel und entscheidende Voraussetzung der sozialen Emanzipation von Lohnarbeit ist, als Mittel propagiert.

Doch der Reihe nach.

1. Zur wunderbaren Macht der Betriebsräte

Nur wer an den Weihnachtsmann glaubt, oder in Erwägung zieht, dass der Klapperstorch die Kinder bringt, kann allen ernstes meinen, dass „mit Betriebsrat unsere Arbeitsplätze sicher sind“.

Wenn in einem Werk, wie z.B. dem Opelwerk in Bochum, solche Scheißhausparolen ausgehängt werden, dann verdienten diejenigen, die das tun, eigentlich einen Tritt in den Arsch. Es waren mal über 20.000 Lohnabhängige mit einem „starken“ Betriebsrat. Jetzt sind es keine 6000 mehr. Genau so „sicher“ sind Lohnarbeitsplätze mit Betriebsrat! Darüber noch ein Wort mehr zu schreiben, das grenzt an eine intellektuelle Zumutung!

2. Die Wunderwaffe Arbeitszeitverkürzung

Wer auch nur ein bisschen etwas von kapitalistischer Ökonomie versteht, der weiß, dass das wichtigste – aber immer noch unsichere - Mittel gegen Arbeitsplatzabbau der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens ist. Dieser Erfolg hängt wiederum entscheidend von der Rentabilität des Kapitals ab. Ohne ausreichende Profite keine Investitionen, die zum Erhalt bestehender Lohnarbeitplätze und zu vermehrter Nachfrage nach Lohnarbeit führen.

Wie das Wort „lohnabhängig“ schon sagt, ist Arbeit im Kapitalismus abhängige Arbeit. Lohnarbeit hängt ab von der Akkumulation des Kapitals. Die Zahl beschäftigter LohnarbeiterInnen wird bestimmt von der Größe des bereits akkumulierten Kapitals und von Umfang und Art der weiteren Akkumulation.

  • Soweit die Art der Kapitalakkumulation den Umfang beschäftigter Lohnarbeit bestimmt, spielt die „technischen Zusammensetzung“ der Investitionen eine entscheidende Rolle. Je höher der Grad der Automation, desto geringer der Impuls für die Nachfrage zusätzlicher Lohnarbeit.

  • Die Größe der Investitionen hängt davon ab, wie viel Profit ein Unternehmen gemacht hat und wie leicht es an Gelder auf dem Kapitalmarkt kommt.

  • Ob ein Unternehmen investiert wird bestimmt vom bisherigen Erfolg auf dem Markt und davon, wie die Notwendigkeit und/oder Möglichkeit einer Ausdehnung des Umsatzes auf dem Markt eingeschätzt wird.

Wie die Konjunkturen kapitalistischer Wirtschaft eindrucksvoll bestätigen, wird die Akkumulation des Kapitals ebenso „unbeabsichtigt“ wie regelmäßig durch Krisen unterbrochen. Solche Krisen sind Situationen, in denen das Kapital (ob Einzelkapital oder gesellschaftliches Gesamtkapital) nicht wächst, sondern schrumpft. Sie bedeuten immer, dass LohnarbeiterInnen entlassen werden, der Umfang der vom Kapital beschäftigten Lohnarbeit abnimmt.

Die Akkumulation des Kapitals zielt nicht nur auf einfache Vergrößerung, sondern auf Modernisierung, technischen Fortschritt, Verringerung des Bedarfs an zusätzlicher Lohnarbeit pro bestimmter Menge Geldkapital. Sie zielt immer auch auf die Vergrößerung der Rate zu der sich ein Kapital gegebener Größe verwertet. Weil das so ist, bedeutet Wachstum des Kapitals nicht automatisch vergrößerte Nachfrage nach menschlicher Arbeitskraft. Das Kapital kann wachsen und gleichzeitig die Zahl der beschäftigten LohnarbeiterInnen verringern, also Leute entlassen.

Dies alles findet Bestätigung in der sozialen Realität der entwickelten kapitalistischen Länder und die soziale Bilanz ist ständig Gegenstand der Nachrichten und Kommentare.

Ohne sich jedoch weiter um diese grundlegenden, ins Auge springenden Zusammenhänge der kapitalistischen Produktionsweise zu kümmern, wird von allen möglichen Seiten unterstellt, man könne durch Arbeitszeitverkürzung den Abbau von Lohnarbeitsplätzen verhindern, gar für „Vollbeschäftgung“ sorgen. Scheinbar hebt die Arbeitszeitverkürzung die ökonomischen Gesetze, nach denen Kapitalismus funktioniert, ganz oder teilweise auf. Es wird so getan, als könne es im Kapitalismus eine unter sozialen – nicht ökonomischen – Gesichtspunkten rationelle Verteilung von Arbeit geben und als wäre das durch politischen Willen plan- und durchsetzbar! Die Verteilung von Arbeit wird aber von ökonomischen Gesetzen bestimmt, die zwingend aus den Produktionsverhältnissen hervorgehen und jedem Einzelkapital durch die Konkurrenz aufgezwungen werden.

Selbstverständlich gibt es außergewöhnliche Bedingungen, unter denen im Kapitalismus annähernd „Vollbeschäftigung“ herrscht. Maßgeblich ist allemal die Rate, zu der sich das Kapital verwerten und daher wachsen kann. Weitgehend unbeschränkte Zufuhr billigster Lohnarbeitskräfte und eher lange Arbeitstage, also vergleichsweise hohe Profitraten führen am ehesten zur „Vollbeschäftigung“ … und es ist ausgemacht, dass ein solcher Zustand nur von kurzer Dauer sein kann! Eine Verwertungssituation, die durch niedrige Profitraten und Überakkumulation gekennzeichnet ist, lässt schon wegen der ständigen „Restrukturierungen“ und des hohen Niveaus von Firmenpleiten (mit zyklisch gebrochener aber steigender Tendenz) weder sichere Lohnarbeitsplätze noch „Vollbeschäftigung“ zu.

Unter der Bedingung anhaltender Überakkumulation und niedriger Profitraten würde eine Verkürzung der Arbeitszeit die Möglichkeiten zur absoluten Mehrwertproduktion soweit verschlechtern, dass besonders darauf angewiesene kleine und mittlere Betriebe in noch größerem Umfang Pleite machten. Herrschte obendrein noch Krise, und müssten die Kapitalisten einen vollen Lohnausgleich zahlen, so würden die Unternehmenspleiten explosionsartig zunehmen.

Wenn gegenwärtig Kurzarbeit hierzulande ein stärkeres Ansteigen der Arbeitslosigkeit verhindert hat, dann nicht wegen der verkürzten Arbeitszeit, sondern weil Arbeitslosenversicherung und Staat Lohnzahlungen übernommen haben! Vereinfacht ausgedrückt: Wenn Lohnarbeit das Kapital nichts kostet, braucht es auch nicht so schnell entlassen.

Bei den mit sozialdemokratischem Geist durchdrungenen Gewerkschaften ist das eh klar: jede Pleite ist ein Produkt von „Missmanagement“ und könnte daher verhindert werden. Massenhafte Freisetzung von LohnarbeiterInnen durch Pleiten, gar durch 30.000 Unternehmensinsolvenzen und mehr pro Jahr, sind danach ausschließlich Produkt unfähiger Unternehmer. Dümmer geht’s nimmer!

Doch auch all jene Linken, die der Arbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung Herr werden wollen, scheinen davon auszugehen, dass Rationalisierungsentlassungen und Pleiten nichts mit ökonomischer Notwendigkeit zu tun haben. Wo man auch hinschaut, „Fehlentscheidungen“ aus Raffgier. Selbst Verlust auf der ganzen Linie erscheint so als Ausgeburt der Boshaftigkeit von Unternehmern.

Diese Polemik mag sich so anhören, als hielte ich nichts von einem Kampf für Arbeitszeitverkürzung. Das ist nicht der Fall! Ich halte Arbeitszeitverkürzung für ein zentrales Ziel sozialer Emanzipation im Kapitalismus und vom Kapitalismus. Dieses Ziel umzudeuten in ein Instrument zur Garantie auf Lohnarbeit ist so ziemlich das abwegigste, was mir untergekommen ist.

Die alte, inzwischen vielfach geschmähte, durch Marxismus geprägte „traditionelle Arbeiterbewegung“ sah das noch ganz nüchtern. Man verlangte die Arbeitszeitverkürzung, um dem gesundheitlichen Ruin durch maßlose Überarbeit zu begegnen und man verlangte sie als elementare Bedingung sozialer Emanzipation der LohnarbeiterInnen. Das sollte als Ausgangspunkt für detaillierte Begründung auch heute noch reichen!

3. Weitere flankierende Wunderwaffen

Man traut aber der wunderbaren lohnarbeitssichernden Wirkung von Arbeitszeitverkürzung nicht so recht. Also werden weitere Wunderwaffen in Anschlag gebracht. Man verlangt „vollen Personalausgleich“ bei Arbeitszeitverkürzung und wenn das nicht hilft: Entlassungsverbot! Mir verschlägt es fast die Sprache. Wenn ein kapitalistisches Unternehmen mangels Umsatz vor dem Bankrott steht, den ökonomisch erzwungenen Entlassungen mit einem Entlassungsverbot begegnen zu wollen, das grenzt wirklich an Alchemie. Woraus sollen denn die Löhne bezahlt werden, wenn der Umsatz von Ware in Geld scheitert? Ah ja, wie man vielfach lesen kann, ist ja Geld genug da, man muss es nur richtig verteilen!

Warum verlangt man nicht auch noch Einstellungszwang? Das wäre doch noch erfolgversprechender. Ebenso gut wie Entlassungsverbot oder Einstellungszwang könnte man auch noch Pleitenverbot durch gesetzliche Warenumsatzgarantie, gesetzlichen Kaufzwang zur Absicherung dieser Umsatzgarantie und eine gesetzlich garantierte Mindestrendite – selbstverständlich mit Augenmaß errechnet - verlangen. Dann wäre das ein Rundumsorglospaket, wie es sich manche LohnarbeiterInnen heute wünschen würden.... und alles kann bleiben, wie es ist! Endlich wäre es vollbracht, ein geplanter Kapitalismus ohne Lohnarbeitslosigkeit, eine „solidarische Gesellschaft ohne Profitlogik“. Ein beeindruckender „Antikapitalismus“, der die Einleitung einer soziale Revolution durch die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln, deren Aneignung durch Überführung in Gemeineigentum etc. überflüssig macht!

Wie sagte es doch mal einer der Propheten der „sozialistischen Marktwirtschaft“? Heute sei ein anderer Umgang mit Ware und Geld möglich. Das Kapital kann bestehen bleiben, es soll nur aufhören, wie Kapital zu funktionieren. Der Löwe kann Löwe bleiben, darf sein Raubtiergebiss behalten, soll sich aber künftig gefälligst von Gemüse ernähren.

Schaut man sich etwas genauer an, was manche Linke so im Angesicht von massenhafter Lohnarbeitslosigkeit fordern, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ginge es nicht um die Überwindung des Lohnsystems, sondern partout um den Erhalt von Lohnarbeitsplätzen. Offenbar glaubt man der eigenen Kritik an Lohnarbeit nicht so recht. Jedenfalls kann da von einer Kritik am System der Lohnarbeit kaum noch die Rede sein.

Einigermaßen desillusioniert und enttäuscht ...

gehe ich natürlich wieder zur Demo in Essen am 20. März. Schließlich werden außer blöden Parolen und illusorischen Forderungen auch noch ein paar richtige Forderungen erhoben.

Ganz wichtige Forderungen gegen die sozialen Folgen der ökonomischen Krise fehlen aber. So fehlt vor allem die Forderung nach Erhöhung und verlängerten Auszahlung von Arbeitslosengeld I. Und fast noch wichtiger wäre eine Forderung nach Überführung der Arbeitslosenversicherung in eine Selbstverwaltung der Lohnabhängigen. Dies ist nämlich der Hauptmangel der bestehenden Arbeitslosenversicherung. Sie wird beherrscht vom Kapital, seinen Interessenvertretern und Reformisten, deren Verstand von „ökonomischer Vernunft“ getrübt ist. Weil das so ist, ist aus dem „Arbeitsamt“ eine „Agentur für Arbeit“ geworden, mehr und mehr ein wirkungsvolles Instrument des Kapitals, um Lohnarbeitslose zu drangsalieren und die Arbeitslosenversicherung zu einem bloßen Erfüllungsgehilfen des (Arbeits-)Marktes zu machen, der hilft, die Gesetze dieses Marktes durchzusetzen. (Die unzumutbaren Forderungen, die die Bundesanstalt an Lohnarbeitslose stellt, sind nichts anderes, als der subjektive Nachvollzug und die Umsetzung objektiv wirkender ökonomischer Gesetze!)

Wenn man also wirklich im Kapitalismus Einfluss nehmen will auf die Praxis „sozialer Einrichtungen“, dann reicht es nicht, Forderungen an diesen Staat zu stellen! Man muss Selbstverwaltung der Lohnabhängigen verlangen und die Lohnabhängigen müssen Willens sein, sie auszuüben! (Dafür wäre Arbeitszeitverkürzung nötig, wenn sich Selbstverwaltung nicht auf Wahlen beschränken soll!) Anders kann der Prozess sozialer Emanzipation nicht vorwärts kommen und „wir“ machen uns einen vor.

Begeistert bin ich nicht vom Aufruf zur Essener Demo, schon weil das Leitmotiv „Wir zahlen nicht für eure Krise“ aus dem gleichen Holz geschnitzt ist, wie die Sprüche über „solidarische Gesellschaft“ und „echten Sozialismus“. Falls das den Machern der Parole entgangen sein sollte: „wir“ haben schon für „deren“ Krise bezahlt, was sich u. a. in den rapide gewachsenen Staatsschulden ausdrückt. Die Milliarden, die aus Steuermitteln den Banken zugeflossen sind, die Zahlungen von Kurzarbeitergeld aus Arbeitslosenversicherung und Steuermitteln, das alles und mehr haben „wir“ bereits gezahlt. Wie sollte das auch anders gehen?

„Deren“ Krise ist nämlich nicht zuletzt „unsere“ Krise, weil die Krise des Kapitals eine Krise des Systems der Lohnarbeit ist. In der Krise zahlen viele drauf: Kapitalisten wie Lohnabhängige. Die einen verlieren ihren ganzen Reichtum oder doch Teile davon, bzw. ihren Anteil am Produktivvermögen einer kapitalistischen Gesellschaft. Die anderen verlieren mit ihrem Lohnarbeitsplatz ihre Existenzgrundlage im Kapitalismus und könnten gerade deshalb ein Interesse an der Beseitigung kapitalistischer Produktionsverhältnisse entwickeln.

Schließlich und vor allem ist das Kapital ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis, in das „wir“ alle verstrickt sind. Daher setzt grundsätzliche Kritik des Kapitals auch immer Kritik und Selbstkritik von Lohnabhängigkeit voraus. Nur diejenigen Lohnabhängigen, die ihre eigene Lebensweise als Lohnabhängige in Frage stellen, sind zu grundsätzlicher Kritik am Kapital fähig.

Wer etwas gegen Lohnarbeitslosigkeit tun will, der muss das System der Lohnarbeit (kapitalistische Produktionsverhältnisse) in Frage stellen und abschaffen. Wer etwas gegen die verheerenden sozialen Folgen der Lohnarbeitslosigkeit im Kapitalismus tun will, der muss solche Forderungen aufstellen/Ziele formulieren, die mit den vorgegebenen Bedingungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse und den daraus resultierenden ökonomischen Gesetzen rechnen, um deren Folgen zu lindern. Markige Sprüche und „verträumte“ Forderungen helfen nicht und drücken eher die Orientierungslosigkeit linker Öffentlichkeit aus als „Realismus“.

Nein, unmittelbar großen Erfolg, darf man sich von meinen Vorschlägen nicht erwarten. (Dafür ist meine Isolation in dieser Linken bester Beweis.) Etwas mehr Klarheit und darauf gegründete Erfolgsaussicht schon.

Blödsinnige Kraftmeierei, die jeder Grundlage entbehrt hilft auch nicht wirklich weiter. Wenn es im Aufruf zur Essener Demo etwa heißt:

Nicht wir – Lohnabhängige, Erwerbslose, RentnerInnen und Jugendliche – werden diese Krise bezahlen! Wir zwingen die Profiteure zur Kasse.“

dann ist das leeres Wortgeklingel. Von den Kräfteverhältnissen her sieht es eher so aus, dass vor allem „wir“ diese Krise bezahlen, und dass es uns nicht gelingen wird, die Profiteure zur Kasse zu bitten. Solche Sprüche sind überflüssiger als ein Kropf und es ist schade um das Papier, auf das sie gedruckt werden. Klärende Kritik und richtige Forderungen wären besser! Anders nämlich wird es Essig werden mit dringend nötigen Fortschritten in der Verständigung unter Lohnabhängigen über gemeinsame Kritik am Kapitalismus und gemeinsame Ziele sozialer Emanzipation (im Kapitalismus und über den Kapitalismus hinaus).

Abschließend einige Bemerkungen zu soziale Reformen

Generationen von Lohnabhängigen stürzten ins absolute Elend, wenn sie krank und/oder arbeitslos wurden. Dank z.B. erkämpfter Lohnfortzahlung und zugestandener Arbeitslosenversicherung ist das nicht mehr der Fall. Ein großes Stück sozialer Emanzipation von den sozialen Folgen kapitalistischer Ökonomie. Manchen Revolutionären sind jedoch soziale Reformen eher „Stützen des Systems.“ Der Prozess sozialer Emanzipation ist ihnen eher gleichgültig, was sie allein zu interessieren scheint ist der nebulöse Zustand sozialer Freiheit, von dem niemand weiß, wie er genau aussehen könnte. (Marx hat sich mit guten Gründen standhaft geweigert ihn auszumalen.) In der überzogen kritischen Haltung zu sozialen Reformen im Kapitalismus kommt nicht gerade eine humanistische Gesinnung zum Ausdruck!

Jede wirkliche soziale Reform kostet das Kapital Geld und schmälert seinen Profit (zum Beispiel Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die 1957 in einem langen Streik erkämpft wurde), verschlechtert also seine Verwertungsbedingungen. Lohnarbeitsplätze sind auf diese Weise jedenfalls nicht zu sichern, sie werden durch solche Reformen eher bedroht. Wirkliche soziale Reformen verschärfen die Widersprüche kapitalistischer Ökonomie und schwächen sie keinesfalls ab.

Soziale Reformen können nur harmonisierend wirken, solange das Kapital die Belastung durch größere Kosten mit entsprechend hohem Wachstum kompensieren kann, wie es etwa in der Rekonstruktionsperiode nach dem 2. Weltkrieg der Fall war. Solche hohen Wachstumsraten sind immer nur unter ganz bestimmten Bedingungen auf Zeit möglich. Heute sind wir in Ländern wie Deutschland meilenweit davon entfernt.

Die Verschärfung der ökonomischen Widersprüche durch erfolgreiche (teure) Sozialreform ist umso ausgeprägter, je schwächer das Wachstum des Kapitals und je schroffer seine Kriseneinbrüche. Würde man in der heutigen Situation eine Reform durchsetzen, die das Kapital mit gleichen Kosten belastet, wie die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, so würde das die Ökonomie des Kapitals empfindlich treffen und große gesellschaftliche Auseinandersetzungen provozieren. Der Kampf für richtige soziale Reformforderungen ist Teil des Kampfes für soziale Emanzipation und bereitet die soziale Revolution vor. Solche richtigen Forderungen werden zu Sammelpunkten des Widerstands und Mitteln der Verständigung unter den Lohnabhängigen. Ohne sie kann sich der Klassenkampf nicht entwickeln oder erschöpft sich in spontanen Ausbrüchen.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.

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