Texte zu Klasse & Partei
Die Weiterentwicklung der Parteitheorie durch Mao Tsetung

Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung (Teil 8)

Diskussionsvorlage des ZK der KPD (1979)    

10/2016

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Erst mit Mao Tsetung wurde eine auch praktische Kritik der Fehler der KI und Stalins in den Grundlagen geleistet. Er geht nicht ohne Grund auf den Lenin der Hegemonietheorie und der Philosophischen Hefte und den Marx der Feuer­bachthesen zurück. Denn es geht ihm darum, der Dialektik den ihr gebühren­den Platz wieder zuzuweisen.

Mao Tsetung entwickelt seine Vorstellungen von der chinesischen Revolution und der Kommunistischen Partei in der Auseinandersetzung mit der dogmati­schen und linksopportunistischen Linie Wang Mings, die die schematische Übertragung der KI-Vorstellungen der Bolschewisierung auf chinesische Ver­hältnisse repräsentiert.

Tritt in der Parteitheorie der KI die Partei gegenüber der Klasse immer mehr in den Vordergrund, so geht Mao Tsetung — und zwar zeit seines Lebens — vom Vorrang der Arbeiterklasse und der Massen aus.

Bisher in der Rubrik Texte zu Klasse & Partei erschienen:

 „Die wahren Helden sind die Massen", die Massen machen die Geschichte — diese ständige Betonung der Schöpferkraft der Massen und ihrer Rolle als Subjekt der Geschichte bringt ihn zu einer Bestimmung der Partei, die wirklich dialektisch sie sowohl in ihrer Be­deutung als Ausdruck und Waffe der Klasse wie auch als historisches Gebilde, d.h. als Mittel zum Zweck sieht (weshalb er in den „ Über die zehn großen Bezie­hungen" davon spricht, daß er sehr froh wäre, wenn die Partei abstirbt wie der Staat, nur jetzt ginge es noch nicht).

Während Stalin in seinen drei Phasen des Parteiaufbaus versuchte, ein allge­meingültiges Schema zu entwickeln, das aber undialektisch die Gewinnung der Avantgarde den Massenaktionen gegenüberstellte und keinen Ubergang erken­nen ließ, in dem die Ebene der politischen Strategie der Partei völlig herausfiel, bestimmte Mao Tsetung in „Der Zeitschrift Kommunist zum Geleit "für die chi­nesischen Bedingungen den Parteiaufbau, die Einheitsfront und den bewaffne­ten Kampf als die drei „Zauberwaffen" der chinesischen Revolution. Ihre grundlegende Bedeutung hat diese Aussage Mao Tsetungs darin, daß hier die Beziehungen zwischen der Partei in ihrer nationalen Ausprägung, der Rolle und Stellung der Partei im System der Klassenbeziehungen und der politischen Strategie entwickelt werden und es so ermöglicht wird, die Gesamtheit dieses Geflechts von Widersprüchen im Auge zu behalten:

Die Erfahrungen der vergangenen achtzehn Jahre zeigen uns, daß die Ein­heitsfront und der bewaffnete Kampf die zwei grundlegenden Waffen für die Niederschlagung des Feindes sind. Die Einheitsfront ist eine Einheitsfront für die Durchführung des bewaffneten Kampfes. Die Parteiorganisationen hinge­gen sind jene bewaffneten Kämpfer, die diese beiden Waffen — die Einheits­front und den bewaffneten Kampf — handhaben, um die Positionen des Fein­des zu stürmen und zu zerschlagen. Das sind die Wechselbeziehungen zwischen diesen drei Faktoren. " (Bd.2, S.343)

Ist gegenüber der linksopportunistischen Wang Ming-Linie und auch den Auffassungen der KI die Rehabilitierung und weitere Entwicklung der Dialektik und die Betonung der Praxis als Feld der Erkenntnis (der tätigen Seite der Er­kenntnis) der eine Strang der Kritik Mao Tsetungs, so weist er zweitens vor al­lem auf die Rolle des besonderen, die Notwendigkeit einer „Stilisierung" des Marxismus hin:

Eine politische Partei, die eine große revolutionäre Bewegung führt, kann nicht siegreich sein, wenn sie über keine revolutionäre Theorie verfügt, keine Geschichtskenntnisse besitzt, kein tiefes Verständnis für die praktische Bewe­gung hat...Die Kommunisten sind internationalistische Marxisten, aber wir können den Marxismus nur dann in die Praxis umsetzen, wenn wir ihn mit den konkreten Besonderheiten unseres Landes integrieren und ihm eine bestimmte nationale Form geben. Die große Stärke des Marxismus-Leninismus liegt gerade in seiner Integration mit der konkreten revolutionären Praxis aller Länder. Für die Kommunistische Partei Chinas bedeutet das, die Anwendung des Marxismus-Leninismus auf die konkreten Verhältnisse Chinas zu erlernen. Für die chinesischen Kommunisten, die ein Teil der chinesischen Nation, deren ei­genes Fleisch und Blut sind, ist jedes von den Besonderheiten Chinas losgelöstes Gerede über Marxismus nur ein abstrakter, hohler Marxismus. Daher wird die konkrete Anwendung des Marxismus in China in der Weise, daß er in jeder sei­ner Äußerungen die erforderlichen chinesischen Charakterzüge aufweist, d.h. eine Anwendung des Marxismus im Lichte der Besonderheiten Chinas, zu ei­nem dringenden Problem, das die ganze Partei verstehen und lösen muß. " (Bd.2, S.246)

Diese Aufgabenstellung führte für Mao zu einem neuen Revolutionskonzept der neudemokratischen Revolution, mit den Bauernmassen als Hauptkraft, einer Verbindung von nationalem und antifeudalem Kampf usw. Der grundlegende Aspekt liegt aber darin, daß Mao ähnlich wie Gramsci betont, daß der Marxis­mus ein Uberbau ist, der nur in seiner historisch besonderen Form existiert und lebendig bleiben kann. Und Mao Tsetung geht an diesem Punkt (wie Gramsci mit seiner Fragestellung des Durchschlagens der Philosophie auf den Alltagsver­stand) noch weiter, auch über die von Lenin entwickelten Auffassungen hinaus. In die Theoriebildung, in die Erarbeitung eines Marxismus mit nationalen Zü­gen, müssen die Erfahrungen, die Interessen und die Meinungen der Massen eingehen, Feld der Überprüfung der Theorie ist also die gesamtgesellschaftliche Praxis und das Feuer der Kritik und Praxis der Massen, nicht allein der Partei. Die Verbindung von Partei und Klasse, von Führung und Massen (innerhalb und außerhalb der Partei) ist daher für Mao Tsetung ein konstitutiver Bestand­teil des Prozesses, in dem eine richtige Theorie und politische Linie erarbeitet wird. Mao Tsetung faßt diesen Prozeß in seiner Interpretation des demokrati­schen Zentralismus. Mao Tsetung verläßt hier erstmalig den engen Rahmen der Interpretation des demokratischen Zentralismus als eines organisatorischen Korsetts der kommunistischen Parteien und ihres inneren Lebens. Für Mao Tsetung sind Demokratie und Zentralismus eine Einheit von Gegensät­zen, die nach den besonderen Bedingungen behandelt werden müssen. In die­sem Spannungsfeld vollzieht sich die Vermittlung von Theorie und Praxis, von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein, der Fortschritt von sinnlicher zu ratio­naler Erken^rtrrjjs, die Verbindung der Partei mit der Klasse und der Führung mit den Massen. Mao Tsetungs Prinzipien „aus den Massen schöpfen, in die Massen tragen", „die Führung mit den Massen und das Allgemeine mit dem Besonderen verbinden"finden hier ihren theoretischen und praktischen Bezugs­punkt. Die Schriften Mao Tsetungs über den Arbeitsstil, die Arbeitsprinzipien und die Gestalt der Partei dürfen also nicht als ein auf chinesische Bedingungen zugeschnittenes System ethisch-moralischer Orgregeln mißverstanden werden. Sowohl zeitlich (Ausrichtung in Jenan), vor allem aber theoretisch gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen diesen Schriften und Mao Tsetungs Schriften „Über die Praxis" und „Über den Widerspruch". Zudem grenzt sich ja Mao Tsetung vor einer Parteivorstellung ab, wie sie in der KI aufkam, nach der die Beziehungen zwischen der Partei und der Klasse jedes Leben verloren und von einem Wechselverhältnis zur Einbahnstraße der Anweisung herunterkamen. Mao Tsetung betont dagegen den offenen und prozeßhaften Charakter des Ver­hältnisses von Partei und Klasse, von Theorie und Praxis, von Führung und Massen, wenn er sagt:

Eine wirklich fest zusammengeschlossene und mit den Massen verbundene führende Gruppe kann sich nur im Kampf der Massen, nicht losgelöst von ihm, nach und nach herausbilden. Wenn sich ein großer Kampf entfaltet, soll und kann während seines gesamten Verlaufs, d.h. in der Anfangs-, Mittel- und der Endphase, die Zusammensetzung der führenden Gruppe meistens nicht ganz dieselbe sein. " (Über die Partei, Sammelband, S.155)

Und — gerade unter sozialistischen Bedingungen und als Lehre aus den revisio­nistisch entarteten Parteien — Mao Tsetung läßt die Dialektik auch gegenüber der Partei selbst walten. Auf der Moskauer Konferenz 1957 wendet er sich gegen Leute, die meinten, „daß die Partei kein Objekt der Analyse, also monolithisch und uniform" (Bd.5, S.584) sei und plädierte dafür, daß „die Dialektik aus dem kleinen Kreis der Philosophen heraustreten und unter die Massen gehen" (S. 585) solle. Mao Tsetung interpretierte die nach 1949 stattfindenden Linien­kämpfe und die innerparteilichen Widersprüche als Widerspiegelung des Klas­senkampfes, der gesellschaftlichen Widersprüche in der Partei. Die Partei selbst also ist eine Einheit von Gegensätzen. Gegenüber den Theoretikern, die nur von der Existenz einer einzigen Linie ausgehen und daraus metaphysisch ableiten lassen, daß die „Partei immer recht habe", betont Mao gerade, daß auch die Minderheit recht haben könne, daß sie ihre Meinung beibehalten dürfe, daß man gegen einen revisionistischen Strom schwimmen müsse in der Partei; und umgekehrt die Notwendigkeit von Kritik und Selbstkritik, von ideologischem Überzeugen statt Draufschlagen, von Hilfe bei begangenen Fehlern. Alle diese Auffassungen Mao Tsetungs entstammen nicht allein der chinesi­schen Parteigeschichte, sondern sind die Reaktion einmal auf den schnellen Sieg der modernen Revisionisten in sehr vielen kommunistischen Parteien, an­dererseits aber die schweren Fehler in der Behandlung der innerparteilichen Widersprüche in der KPdSU vorher.

Mao Tsetung setzt also am entwickeltsten Stand der internationalen kommuni­stischen Bewegung und den wirklichen Stand der Klassenkämpfe und Erfahrun­gen der Parteien an; aus der chinesischen Revolution selbst leiten sich allerdings günstige Voraussetzungen für diese theoretische Arbeit ab. Der Boden für eng­herzigen Ökonomismus war in China gar nicht vorhanden, ein „chinesischer Marxismus" mußte sich sofort mit der objektiven Verklammerung der Bildung eines modernen Nationalstaats mit dem antiimperialistischen Kampf beschäftigen und das Problem der Klassenbündnisse und Einheitsfront im revolutionären Prozeß aufwerfen.

In der Phase nach dem Sieg der Revolution 1949 entwarf Mao Tsetung zuneh­mend deutlicher, indem er die Erfahrungen der Klassenkämpfe im Inland, der kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion, den Ungarnaufstand und die Ereignisse in Polen 1956 auswertete, das Bild einer sozialistischen Gesellschaft, die eine Klassengesellschaft mit antagonistischen und Widersprüchen im Volke ist, die noch tief geprägt ist von Muttermalen der alten Gesellschaft. Er polemi­sierte auf der Moskauer Konferenz gegen diejenigen, die sagten, im Sozialismus seien ,, Widersprüche zu finden", weil man sie nicht „finden" muß, sie sind ein­fach massenhaft da. Es wäre vereinfacht, wollte man Mao Tsetung zu einem Re­volutionär nur im Überbau erklären. Seine Analyse betraf vielmehr die Produk­tionsverhältnisse und die Klassenverhältnisse des Sozialismus, die materiellen Grundlagen der Übergangsgesellschaft.

Gegenüber der sowjetischen Auffassung, die die Produktionsverhältnisse auf den ersten Aspekt des Eigentums an den Produktionsmitteln einschränkte, be­tonte Mao Tsetung die notwendige Umwälzung aller drei Aspekte, also auch der Verhältnisse der Menschen zueinander in der Produktion und der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. In seinen Schriften z.B. zur Betriebsverfas­sung von Anshan versuchte er, die Dialektik auf diese Umwälzung der Produk­tionsverhältnisse anzuwenden und neue Formen ihrer fortschreitenden Umwäl­zung zu entwickeln. In seinen Schriften „ Über die richtige Behandlung der Wi­dersprüche im Volk" und „ Über die zehn großen Beziehungen "versucht er, die existierenden Widersprüche voll aufzunehmen und Wege vorzuschlagen, sie richtig zu behandeln.

Der Widerspruch zwischen Partei und anderen gesellschaftlichen Kräften, zwi­schen dem Staat und den einzelnen, Widersprüche zwischen Teilen des Volkes — sie werden hier erstmals zum Thema einer Strategie des sozialistischen Auf­baus und der Weiterführung der Revolution unter der Diktatur des Proletariats gemacht. Eine abschließende Würdigung der Kulturrevolution steht von Seiten der KP Chinas noch aus und kann auch von uns jetzt nicht gegeben werden. Überblickt man jedoch das Werk Mao Tsetungs, so ist diese Kulturrevolution ein praktisch gewordener Versuch, die virulent gewordenen Widersprüche in ei­ner großen revolutionären Masseninitiative zu lösen, die Probe aufs Exempel seiner Überlegungen. So ist wohl auch der kolportierte Ausspruch Maos zu ver­stehen, wonach er zwei großen Sachen gemacht hätte, die Revolution von 1949 und die Kulturrevolution.

In grundlegenden Fragen der Dialektik von Partei und Klasse sind die Auffas­sungen Mao Tsetungs heute entwickelter Stand marxistischer Theorie. Dabei zeigen die Veröffentlichungen und Erfahrungen seit dem Sturz der Viererbande 1976, daß die europäische, zumeist linksradikale und mystifizierende Interpre­tation des Denkens und Handelns Mao Tsetungs seinen wirklichen Auffassun­gen höchst unzureichend gerecht wird. Auch unser eigenes Verständnis war von einer einseitigen und linksradikalen Interpretation der Kulturrevolution ge­prägt, obwohl wir die Überspitzungen des Schwenkens des roten Büchleins nie mitmachten.

Heute sehen wir klarer, daß die Ideen Mao Tsetungs nicht einfach für uns handhabbar und anwendbar gemacht werden können. Denn sie können für uns nur fruchtbar werden, wenn sie von dem gefiltert werden, was das wirklich Chi­nesische am Marxismus Mao Tsetungs ausmacht. Die historischen und sozialö­konomischen Grundlagen gehen in die Theorien Mao Tsetungs mit ein. Sich auf die von Mao entwickelte Dialektik von Diktatur gegenüber der Konter­revolution und Demokratie im Volk zu berufen, bedeutet nicht, ein Konzept der Diktatur des Proletariats einfach zu übernehmen, in dem die Partei alle Berei­che des staatlich-gesellschaftlichen Lebens direkt lenkt; denn diese Tatsache rührt aus den spezifischen Besonderheiten der chinesischen Revolution her, wo die Partei seit 1927 in den roten Stützpunktgebieten stets „an der Macht"war und das gesamte gesellschaftliche Leben leiten mußte.

Sich auf die Auffassung Maos vom notwendigen ideologischen und Linien-kämpf in der Partei als Widerspiegelung der Klassenwidersprüche und der de­mokratischen Lösung der Widersprüche im Volk zu stützen, bedeutet nicht, dies in den chinesischen Formen zu tun, die — aus traditionellen Gründen — häufig in Anspielungen, ritualisierten Formen, in historischen Kostümen ideo­logische Kämpfe ausfechten; es wäre auch ganz falsch, die spezifischen Formen der Öffentlichkeit (die jetzt an ihre Grenzen stoßen) in China auf uns zu über­tragen, die Information und Diskussion in den „Grundeinheiten" (nicht der Partei allein!), deren Herkunft die Öffentlichkeitsformen des Sippenverbands im alten China ist, woran die KP Chinas anknüpfen konnte. Gerade jetzt, wo von der KP Chinas selbst die gesamten Fragen der Revolution, der Partei und des sozialistischen Aufbaus neu aufgeworfen werden, bedeutet für uns, von Mao Tsetung zu lernen:

Verstehen der Verhältnisse, aus denen heraus Mao Tsetung gedacht und seine Theorien entwickelt hat, ihnen zunächst auf ihrem inneren Entwicklungsgang folgen, um sie verstehen und nicht einfach zu übertragen. Erst auf dieser Grundlage können wir uns die Kerngedanken des Werks Mao Tsetungs erschließen, die uns eine schöpferische und eigenständige Verbindung dieser Kerngedanken mit unserer Revolution und unseren deutschen Verhält­nissen erlauben.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus:  Parteitheorie in geschichtlicher Darstellung, in: Theorie und Praxis 2/1979, Köln 1979, S. 47-51