Editorial
Notizen über opportunistische und sektierererische Tendenzen

von Karl Mueller

10/09

trend
onlinezeitung

„Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelnheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.“ Friedrich Engels (MEW 19, S. 209)

„In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“ Karl Marx  (MEW 23,  27f)

Am 13.9.2009 trafen sich knapp 20 Leute, um ein Referat von Internationalist Perspective zu hören. Die dem Referat zugrunde liegenden Thesen (Aufruf an das pro-revolutionäre Milieu) waren zuvor im TREND veröffentlicht worden. Die Referenten aus dem linkskommunistischen Spektrum forderten die ebenfalls aus dem linkskommunistischen Spektrum kommenden Anwesenden auf, ihre revolutionären Positionen zukünftig „in gemeinsamen Diskussionen, gemeinsamen Treffen, gemeinsamen Stellungnahmen und Interventionen" zu verbreiten.  Die VertreterInnen der IKS, der GIS, von Wildcat und den „FreundInnen der klassenlosen Gesellschaft“ reagierten auf dieses Ansinnen eher skeptisch bis zurückhaltend.  Auch ein fruchtbarer Widerstreit der Meinungen kam nicht auf. Obgleich dies zumindest für die „FreundInnen“ angesagt gewesen wäre. Zwar hatten sie ihre neue Ausgabe des Kosmoprolet zum Verkauf dabei, doch die darin enthaltenen Ansichten zu den aktuellen Klassenauseinandersetzungen und ihre damit verbundenen strategischen Überlegungen, die ideologisch quer zur „Internationalist Perspective“ liegen, wurden nicht vorgetragen.  

Nur ein Beispiel zur Verdeutlichung: Der Genosse von Internationalist Perspective propagierte einen Internationalismus im Geiste des 1. Weltkongresses der III. Internationale. Die neue Nr. 2 des Kosmoprolet enthält eine explizite Abrechnung mit Lenin - bzw. mit Positionen, die sich an Lenin orientieren - insbesondere aber mit Lenins Überlegungen zur Diktatur des Proletariats, eben jener zentralen Fragestellung des damaligen 1. Kongresses.

Dass Sie auch anders können, als aus Opportunitätsgründen Zurückhaltung zu üben (Internationalist Perspective lieferte der neuen Ausgabe einen zentralen Artikel zur Krisentheorie), zeigt in der neuen Nr.2 des Kosmoprolet. die Behandlung meiner kritischen Würdigung (siehe dazu das Editorial der 3/08) ihrer "28 Thesen zur Klassengesellschaft"

Allein mein Verweis darauf, dass die „FreudInnen“ nach meiner Auffassung, Abschied von der Diktatur des Proletariats genommen haben, wodurch m. E. die Selbstaufhebung des Proletariats als Klasse und der anderen Klasse(n) überhaupt nur umgesetzt werden kann, führte zu wüsten Angriffen. Hatte ich es doch gewagt, Marx und Lenin in dieser Frage zu zitieren, so wirkte dies offensichtlich wie das Pawlowsche Glöckchen, welchen den Beißreflex auslöst:  Ich wurde als „im geistigen Morast der K-Gruppen steckend“ verortet und mein Verweis auf den dialektischen und historischen Materialismus wurde als Plagiat von Erich Honecker qualifiziert. (Kosmoprolet Nr. 2, S. 185f) 

Schade eigentlich. Denn unsere „FreundInnen“ sind allesamt BerlinerInnen und es wäre doch ein Leichtes gewesen in 1 1/2 Jahren seit Erscheinen des Editorials 3/08 mit mir in einen Gesprächs- oder sei es nur in einen Emailkontakt zu treten, um die politischen und theoretischen Widersprüche zwischen uns auszudiskutieren oder sogar aufzulösen.  Das dies nicht geschehen ist,  ist umso unverständlicher, wenn mensch bedenkt, dass die HerausgeberInnen des Kosmoprolet die „FreundInnen“ und La Banda Vanga seit Jahren - letzmalig in der Juli/August-Ausgabe 2009 - TREND als Veröffentlichungplattform und Werbeträger für sich nutzen. Unverständlich auch deswegen, weil den "FreundInnen" die Mitarbeit im politischen Beirat des TREND bei dessen Einrichtung 2005 angeboten worden war.

Raasan Samuel Loewe, einer der Protagonisten der "FreundInnen", schrieb 1987 in einem "Offenen Brief" der Agentur für die Selbstaufhebung des Proletariats zum Thema Diktatur des Proletariats:

"Die Oktoberrevolution überwand siegreich die Anschläge der Verräter, machte dadurch die vergessenen Lehren der Revolution wieder geltend und verteidigte die marxistische Theorie, deren Ruin die Verräter des Sozialismus beabsichtigten. Der Weg des Siegs über den bürgerlichen Staat wurde durch den Oktober für alle Nationen geltend definiert: Anwendung von Gewalt, Zerfetzung der demokratischen Garantien und als wesentlicher Begriff des Marxismus unbegrenzte Ausübung der Diktatur des Proletariats. Die Oktoberrevolution brandmarkte jeden als Idiot, der hinter der proletarischen Diktatur die Macht eines einzelnen Menschen sieht, und als noch größere Idioten diejenigen, die, vor der "Tyrannei" zitternd, wie alle demokratischen Huren nur die utopische Macht einer formlosen, nicht organisierten, als kämpfende Partei gebildeten Klasse anerkennen.“

Und auf der von mir im Partisan.net gehosteten Seite  "Revolutionärer Funke", dem virtuellen Nachfolgeprojekt der "Agentur"  findet sich vor wenigen Jahren in der Rubrik "Grundpositionen" in Sachen Diktatur des Proletariats im Hinblick auf ihre obige Hauruck-Position folgende rätekommunistische Klarstellung :

" Die undefinierte Anwendung der Begriffe "Diktatur des Proletariats" und der "Selbstverwaltung" muß abgelehnt werden, da sie mit der Praxis der Diktatur über das Proletariat und der Selbstverwaltung des Elends verbunden sind. Das moderne Proletariat findet seinen Begriff in der Macht der direkten Kommunikation, deren permanente Offenheit keine Mißdeutung zuläßt, sondern ihre volle Erfüllung fordert: Alle Macht dem Proletariat, alle Macht durch die proletarischen Organe: Vollversammlungen, Räte etc.... Keine Macht über das Proletariat!"

Wenn nun heute mein Festhalten am Proletariat als historischem Subjekt  und an der Machtausübung durch das Proletariat zum Aufbau des Kommunismus den selben GenossInnen als Teufelszeug und "Ungeist " gilt, dann mögen sie doch mal vermitteln warum. Auch in der neuen Nr. 2 erhellt sich ihr Paradigmenwechsel nicht. In der Nr. 2 scheint eher deutlich zu werden, das die Kritische Theorie einfach an die Stelle des wissenschaftlichen Sozialismus gesetzt und die materialistische Geschichtsauffassung nebst dialektischer Methode fallengelassen wurde.

Es kommt daher rein denklogisch nicht von ungefähr, dass wenn mensch das klassisch revolutionäre Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft - das Proletariat - nicht mehr zum Bezugspunkt seiner theoretischen und praktischen Bemühungen macht, sondern stattdessen nach einem "sozialrevolutionären Pol" (Kosmoprolet, Nr.2, S. 6 und 46) Umschau hält, eine Theorielücke klafft. Die anschließende Berufung auf Horkheimers Konstrukt vom  "Autoritären Staat" (Kosmoprolet, Nr.2, S.47) ist dann nur folgerichtig.

Vermittelst des Begriffs vom "Autoritären Staat" geht Horkheimer nämlich davon aus, daß mit der Ablösung des Kapitalismus der freien Konkurrenz sein Ende nicht mehr in der proletarischen Revolution finden kann, sondern daß der Kapitalismus nun sozusagen im "autoritären Staat" vor sich hinvegetiert.

"Daß der Kapitalismus die Marktwirtschaft überleben kann, hat sich im Schicksal der proletarischen Organisationen längst angekündigt. Die Parole der Vereinigung in den Gewerkschaften und Parteien war gründlich befolgt, aber die führten weniger die unnatürlichen Aufgaben der Vereinigten Proletarier durch, nämlich den Widerstand gegen die Klassengesellschaft überhaupt, als daß sie den natürlichen Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung gehorchten. Sie fügten sich den Wandlungen der Wirtschaft ein."  (Horkheimer, Max, Gesellschaft im Übergang, Ffm 1972, S. 14)

Indem die proletarischen Organisationen von Horkheimer zum integralen Bestandteil spätkapitalistischer Verhältnisse erklärt werden, stellt sich zwangsläufig die Frage der Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft anders. Seine fiktive Lösung heißt: Transformation des antagonistischen Widerspruchs zwischen den Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft in einen Widerspruch zwischen Staat und Individuum. Der Ausbruch aus diesem Gehäuse kann schlusssendlich nur noch als voluntaristischer Akt des Individuums verlaufen:

"Diese Versuche, die ihrem Wesen nach keine Bürokratie dulden, können nur von den Vereinzelten kommen. Vereinzelt sind alle." (Ebd. S. 28)

Und in der Sprache unserer Kosmoproleten klingt dies so:

"Die globale Klasse der Proletarisierten besteht heute aus winzigen Kernen von High-Tech-Produzentinnen, nach wie vor auch klassischen Fabrikarbeitern, Massen von Dienstleistungssklaven und einer gigantischen Überschussbevölkerung; ihre Gemeinsamkeit ist mit anderen Worten auf das dürre Kriterium der Lohnabhängigkeit zusammengeschrumpft, ja überhaupt so fraglich geworden, dass manche Theoretiker inzwischen von subalternen Klassen im Plural sprechen. Was Rätemacht unter den Bedingungen dieser Zersplitterung bedeuten könnte, ob sie überhaupt noch an die Produktion gebunden wäre, steht in den Sternen."
(Kosmoprolet, Nr.2, S.46)

Lassen wir noch einmal die eingangs erwähnten GenossInnen von der Internationalist Perspective zu Wort kommen:

"Theoretische Meinungsunterschiede sind nicht das Hindernis zur Zusammenarbeit, sie sind ein normaler Teil des revolutionären Lebens des Proletariats; das Hindernis ist das Sektierertum.“

Wie wahr. Daher von hier aus die Bitte an die "FreundInnen": Unterlasst zukünftig solch primitive Polemik, die nichts klärt, sondern verhärtet und wenn, höchstens nur im eigenen Mikrokosmos Zustimmung findet.

Das TREND-Projekt war von der ersten Ausgabe an strömungsübergreifend, dass sichert den "FreundInnen unbeschadet ihrer Entgleisungen weiterhin Raum zur Veröffentlichung ihrer Positionen.

TREND ist aber auch ein diskursives Projekt, daher von hieraus der Vorschlag an die "FreundInnen der klassenlosen Gesellschaft" zu einem öffentlichen und fairen Disput in Sachen "Revolutionäres Subjekt", "Diktatur des Proletariats" und "Wissenschaftlicher Sozialismus" in einer gemeinsamen Veranstaltung.(*)

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Völlig anders verliefen dagegen unsere beiden Film- und Diskussionsveranstaltungen zum Thema 40 Jahre Septemberstreiks. Auch hier kamen jeweils rund 20 Personen zusammen. Doch hier wurden die Widersprüche offen ausgetragen, sei es im Hinblick auf dier Bewertung des Streiks oder im Hinblick auf die Würdigung der Filme. Zweifelslos hing dies auch damit zusammen, dass die FilmemacherInnen, Christian Ziewer und Klaus Wiese, allen Fragen und Statements aufgeschlossen gegenüberstanden. Der in den Veranstaltungen geäußerte Wunsch, noch den so genannten 3. Teil der "Arbeiterfilme" - nämlich "Der aufrechte Gang" -  zu zeigen und dann zu diskutieren, werden wir alsbald nachkommen. Und wir werden uns bemühen, Christian Ziewer und Klaus Wiese wieder "an Bord" zu haben.

Im Oktober allerdings versuchen wir erst einmal mit einer vierteiligen Filmereihe unter dem Motto "Vom ökonomischen zum politischen Kampf", den Blick auf das Fabrik- und ArbeiterInnenmilieu breiter anzulegen. Es werden nicht nur Spiel- und Dokumentationsfilme mieinander abwechseln, sondern auch der Zeitrahmen wird von 1969 bis in die Gegenwart reichen.

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Aufmerksame LeserInnen unseres Onlinemagazins werden bemerkt haben, dass wir den Schwerpunkt "Schülerknast" weiterführen, obwohl es im engeren Sinne zur Zeit nichts Neues über das Neuköllner Schulschwänzerinternat zu berichten gibt. Tatsache ist aber, dass das Absondern, Wegschließen und Kontrollieren von so genannten auffälligen Kindern und Jugendlichen im Mainstream liegt, wie nicht nur in Neukölln mit bestimmten sozial widerständigen Wohnkiezen umgegangen wird. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, dokumentieren wir "Task Force Okerstraße" , ein Papier, das in schonungloser Offenheit darlegt, was das herrschende politische Personal unter sozialer Kontrolle versteht. Es versteht sich von selbst, dass wir auch den Widerstand gegen solche Konzepte anhand eines Flugblatts aus dem Schillerkiez dokumentieren. Schon hier sei auf die dazugehörige Veranstaltung am Montag, den 19.10. um 20.00 Uhr im Stadtteil- & Infoladen LUNTE, Weisestr. 53, 12049 Berlin hingewiesen.

In einem von uns 1999 veröffentlichten Artikel, worin eine Untersuchung der "Verstädterung" - wie damals der soziale Stadtumbau hieß -  mithilfe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie vorgenommen wird, heißt es im Resumee:

"Die Lohnabhängigen und ihre Organisationen sind deshalb nicht nur gezwungen, ihren Kampf gegen das Kapital zur Verteidigung ihrer Lebensinteressen auch auf außerbetriebliche Lebensbereiche auszudehnen, sondern sie müssen diese Kämpfe zugleich verbinden mit dem Kampf um die demokratische Transformation von Staats- und Planungsapparaten und die Schaffung neuer gesellschaftlicher Organisationsformen der Reproduktion der Arbeitskraft als Teil des umfassenden Kampfes um die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse."

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Abschließend noch der Hinweis, dass diese Ausgabe zwei besondere Schmankerl bereit hält:

Einmal ein fiktives Exklusivinterview zur Agenda 2020, das uns R.Lindner zur Verfügung gestellt hat. Es ist einfach beklemmend zu lesen, wie mit betriebswirtschaftlichen Jargon zentrale Probleme als Sachzwänge und Stellgrößen behandelt werden, vor allem dann, wenn beim Lesen die Konturen zur Wirklichkeit verschwimmen.

Zum andern ist nach einem Monat "Pause" unser "Stammautor" Bernard Schmid zurück und liefert als erstes eine wirklich spannend zu lesende Reportage über seine "Polit-Reise" durch Burundi, Rwanda und Republique Democratique Du Congo (R.D.C.)

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*) Das Editorial geht den "FreundInnen" auch per Email zu. Im Hinlick darauf werden wir demnächst berichten.

TREND(s) im Netz - hier die jüngsten Zahlen:

Die BesucherInnenzahlen vom September 2009, in Klammern 2008, 2007

  • Infopartisan gesamt: 124.569    (102.115, 126.353)
  • davon TREND: 87.989   (73.461, 91.210)

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  • 1.836 BesucherInnen verbuchte die Agit 883 Seite.
  • Es wurden 3.138 Ausgaben der Agit 883 aufgerufen.
     
  •  4.111 BesucherInnen besuchten das  Rockarchiv
  •  5.703 Seiten wurden im Rockarchiv abgerufen
  •  97 Mal wurden die Flugblätter der Haschrebellen gelesen

Die am meisten gelesene Seite im September 2009 war:
Portal-Seite Infopartisan
http://www.infopartisan.net   6.311

Der am meisten gelesene TREND-Artikel im September 2009:
Die Gründung der Grünen Partei
http://www.trend.infopartisan.net/trd0105/t350105.html
   634

Der am meisten gelesene TREND-Artikel der 9/2009- Ausgabe
Über Krise, Klassenanalyse und Programm

http://www.trend.infopartisan.net/trd0909/t4090909.html    409

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