Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich  

03/2020

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Bericht vom 10. Februar 2020
Regierungslager streitet über antisoziale Politik

Lauert der Feind im eigenen Lager, stellt man sich selbst am wirkungsvollsten ein Bein? Der französischen Regierungspartei LREM (La République en marche) scheint derzeit Ähnliches zu widerfahren. Dies allerdings nicht ohne Zusammenhang mit den sozialen Auseinandersetzungen, die in den letzten zwei bis drei Monaten in der französischen Gesellschaft massiv aufgebrochen sind.

Im Laufe der vergangenen Wochen, seit den letzten Januartagen 2020, zerstritt sich das Regierungslager vor laufenden Kameras selbst über eine soziale Frage, die sich weitgehend mit Symbolkraft über das konkrete Debattenthema hinaus aufgeladen hat, obwohl sie nicht in direkter Verbindung mit dem derzeit die soziale Agenda beherrschenden Rententhema steht.

Ende Januar 20 hatte ein Abgeordneter der liberalen Mitte-Rechts-Partei UDI in der Nationalversammlung beantragt, den Sonderurlaub, der Lohnabhängigen gewährt wird, wenn ihnen ein Kind gestorben ist, von fünf auf zwölf Tage auszudehnen. Das war gewiss kein revolutionäres Vorhaben, bedeutete jedoch eine menschliche und sozialpolitische Anerkennung des Leids einer begrenzten Anzahl von abhängig Beschäftigten. Viel gekostet hätte das gar nicht unbedingt, denn die derzeitige Realität läuft ohnehin darauf hinaus, dass betroffene Eltern sich in einem solchen Falle meistens ärztlich krankschreiben und/oder eine Depression attestieren lassen. Die Reform sollte vor allem bewirken, dass sie sich nicht zu verstecken brauchen, sondern den Grund für ihren Schmerz offen benennen könnten.

Man hätte also damit rechnen können, dass auch bürgerliche Abgeordnete dieses Anliegen ohne Aufheben durchwinken. Dies zu erwarten, hieß jedoch, nicht mit der Kleinlichkeit und dem übersteigerten Wunsch, dem Kapital noch bis ins letzte Detail dienlich zu sein, in Kreisen der Regierungspartei zu rechnen. In nächtlicher Sitzung wurde der Antrag mit 40 zu 38 Stimmen abgelehnt. Arbeits- und Sozialministerin Murielle Pénicaud hatte die Abgeordneten um ein negatives Votum ersucht – denn was würde dies die Unternehmen nur wieder kosten? Besonders hervor tat sich auch die südfranzösische LREM-Abgeordnete Sereine Mauborgne, die mehrfach das Wort ergriff, um das Vorhaben als unbegründeten neuen Anschlag auf die geplagten Unternehmen darzustellen: „Warum zwölf und nicht fünfzehn, zwanzig, vierzig Tage?“ Als Alternative regte die werte Dame an, man könne ja Arbeitszeit-Spendenkonten in Unternehmen einrichten, auf die die anderen Lohnabhängigen ihren betroffenen Arbeitskollegen dann Urlaubstage von ihren eigenen Arbeitszeitkonten spenden könnten. Hauptsache, die armen Arbeitgeber würden nicht belastet.

Tage später wurde der Vorgang einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Seitdem tobt auch durch bürgerliche Medien ein kaum abreißender Sturm der Empörung, und selbst viele Konservative zeigen sich von so viel hartherziger Unmenschlichkeit unangenehm berührt. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, dass familiäre Werte auf der bürgerlichen Rechten als notwendiger Ausgleich gegen die Härte des Kapitalismus gelobt werden. Auch dass der wichtigste Arbeitgeberverband in Frankreich, der MEDEF, selbst für die Maßnahme eintritt und sogar selbst eine neue Abstimmung im Parlament zu ihrer Einführung fordert, erleichterte den Regierungskritikern die Argumentation. Im Hintergrund spielt dabei sicherlich auch eine Rolle, dass der MEDEF nicht nur ein vermeintlich menschliches Antlitz des Kapitals zeigen soll, sondern dass in seinen Reihen ferner die Großunternehmen den Ton angeben. Einem Großbetrieb ist es jedoch relativ egal, ob unter mehreren Hundert Beschäftigten ein oder zwei Mitarbeiter ein paar Tage Sonderurlaub nehmen. Bei einem kleinen Unternehmen mit wenigen Angestellten macht sich dies stärker bemerkbar.

Inzwischen zeigten sich mehrere Minister in der Öffentlichkeit zerknirscht, die ursprüngliche Hardlinerin Mauborgne übte mediale Selbstkritik. Auf einer Fraktionssitzung ging es heiß her, einzelne Parlamentarier werfen der Regierungsspitze eines Selbstdemontage des eigenen Lagers oder jedenfalls dessen ramponiertes Image vor. Premierminister Edouard Philippe räumte öffentlich ein, man habe hier einen Fehlgriff getan, aus Versehen natürlich. Er selbst scheint im Übrigen nicht mehr allzu sehr vom Erfolgskurs seines Kabinetts überzeugt zu sein. Zur allgemeinen Überraschung kündigte er an, bei den französischen Kommunalwahlen vom 15. und 22. März 20 in seiner Heimatstadt Le Havre für den Bürgermeisterposten kandidieren zu wollen. Vielleicht könnte er bald Rathaus- statt Regierungschef sein - es sei denn, seine dortige Kandidatur wird so sehr zur Pleite, wie Viele dies nun im aktuellen Kontext erwarten. Dann aber wäre es um seine politische Statur auch nicht sonderlich gut bestellt.

Am Montag, den 10. Februar d.J. verkündete der frühere konservative Premierminister der Jahre 2002 bis 2005, Jean-Pierre Raffarin, falls die derzeit geplante und gesellschaftlich umkämpfte Rentenreform tatsächlich durchkomme, dann habe Staatspräsident Emmanuel Macron „politischen Mut bewiesen“. Von aus Kapitalsicht berufener Seite – Raffarin selbst war in seiner Amtszeit mit mehreren Streikbewegungen konfrontiert, setzte die mittlerweile vor-vor-vor-vorletzte Rentenreform 2003 gegen erhebliche Widerstände durch und privatisierte ein Jahr später die Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF – wird Macron dadurch, nach der Ungemach der letzten Wochen, der Rücken gestärkt. Ganz sicher scheint Raffarin allerdings auch nicht anzunehmen, dass die geplante Attacke auf das Rentensystem durchkommt, sprach er doch erkennbar im Konditional.

Die Parlamentsdebatte um dieses Thema beginnt am kommenden Montag, den 17. Februar. An jenem Tag ist bereits ein „neuer schwarzer Montag“ in den öffentlichen Transportmitteln angekündigt, nachdem ein breit befolgter Ausstand bei den Verkehrsbetrieben SNCF – im Fernverkehr – und RATP, dem Pariser Nahverkehrsbetreiber, um den 20. Januar herum nach rund fünfundvierzig Streiktagen an den meisten Orten zu Ende ging. Anfänglich war die Ankündigung noch von bürgerlicher Seite belächelt worden, doch ein halbes Dutzend Gewerkschaften haben sich mittlerweile hinter den Streikaufruf gestellt, darunter UNSA, FO und SUD sowohl bei der Eisenbahn als auch im Nahverkehr. Als letzte größere Gewerkschaft zeigte sich zu Wochenanfang ausgerechnet die CGT – deren Branchenverband bei den Eisenbahnern nicht zu ihrem linken Flügel gehört – noch zögerlich und hatte noch keine klare Position bezogen. (ANMERKUNG d. Autors: Eventuelle Hoffnungen auf ein Wiederaufflammen von Streiks rund um das genannte Datum haben sich im Nachhinein nicht erfüllt.)

Der Dachverband CGT, der in den letzten Jahren meist kämpferischere Positionen bezog als seine eigene Eisenbahnergewerkschaft, ruft unterdessen für kommenden Donnerstag, den 13. Februar 20 zu neuen Protesten gegen die Rentenreform auf, und alle teilnehmenden Gewerkschaften gemeinsam für den darauffolgenden Donnerstag in der kommenden Woche, den 20. Januar 20.

Eine Reihe von „Streikherden“ haben sich, trotz der vorläufigen Beendigung des Transportstreiks im vorigen Monat (Januar 20), gehalten. So haben sich in vielen Pariser Trabantenstädten und Stadtteilen berufsgruppenübergreifende Streikkomitees, interpro, gegründet. Die Anwältinnen und Anwälte machen ihrerseits von sich reden – der ungewöhnliche Streik in ihrer Berufsgruppe hält seit dem 06. Januar an, wurde zu Anfang dieser Woche bislang unbefristet fortgesetzt und führte an vielen Gerichtsannullierung zur Aussetzung von bis zu achtzig Prozent der Verfahren. Und im Hochschulwesen beginnt es soeben erst zu brodeln, dort wird ab dem 05. März 20 zum unbefristeten Streik. Neben der Opposition gegen die Rentenreform geht es dort um gravierenden Stellenmangel und die drohende allgemeine Befristung von Verträgen.

Hingegen blieb die Streikbeteiligung in vielen zentralen Industriebetrieben hinter der in anderen Sektoren wie dem Bildungsbereich zurück. In der Petrochemie etwa war der Streik in den Raffinerien, dessen Höhepunkt die zweite Januarwoche (07. bis 10. Januar 20) bildete, kein Erfolg. Einige der Gründe dafür liegen im bleiernen Gewicht des Arguments der Arbeitsplatzerpressung – seit längerem wird über die Auslagerung oder Schließung von Raffineriekapazitäten im Inland diskutiert -, aber auch im besonderen stalinistischen Charakter des dortigen Branchenverbands der CGT: Er redet oft an einer Mehrheit der Beschäftigten vorbei, oder belässt diese jedenfalls in der Passivität, da die Avantgarde es schon irgendwie richtet.

Allem Anschein nach wird die Auseinandersetzung, die noch lange nicht beendet ist – darauf insistieren auch bürgerliche Medien wie der Privatfernsehsender BFM TV in diesen Tagen gegen die Absicht der Regierungspartei, die krampfhaft den Eindruck von „Normalisierung“ zu erwecken versucht – von anderen als den traditionell besonders kampf- und durchsetzungsfähigen Beschäftigtengruppen vorangetrieben werden müssen, will er erfolgreich sein.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.