Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich  

03/2020

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onlinezeitung

Bericht vom 01. März 2020

Neue Kristallisationspunkte
für den sozialen Protest?

Das unten folgende ursprüngliche Manuskript datiert vom 14. Februar 20. Es zeigt Möglichkeiten zum Wiederaufflammen des sozialen Protests, u.a. gegen die aktuell im Stadium der Parlamentsdebatte befindliche Konterreform im Bereich des Rentensystems, auf. Bis zum Redaktionsschluss am 1. März 20 erfüllten sich die dort (in dem Artikelmanuskript) zum Ausdruck gebrachten Hoffnungen nicht. In den Tagen ab dem 17. Februar 20, dem Beginn der Debatte in der französischen Nationalversammlung, verlagerte sich die Auseinandersetzung zunächst weitestgehend in den parlamentarischen Bereich: Die Linksfraktionen der Wahlplattform LFI („Das unbeugesame Frankreich“) unter Jean-Luc Mélenchon und der französischen KP übten sich in einer Blockadepolitik und stellten insgesamt rund 41.000 Änderungsanträge. Anträge von denen ein Teil darauf abzielte, hier ein Wort auszutauschen und dort einen Begriff durch sein Synonym zu ersetzen – es handelte sich um klassische Hinhalte-, zeitlich befristete Blockade und „parlamentarische Guerilla“taktik.

Die Regierung kündigte daraufhin zunächst leise und dann immer lautstärker an, man werde auf den Verfassungsartikel 49-3 zurückgreifen, welcher es ihr gestattet, die Aussprache im Parlament abzubrechen, indem sie die Vertrauensfrage aufwirft, und (sofern das Parlament ihr nicht das Misstrauen ausspricht) einen Gesetzentwurf ohne Abstimmung zu Sachfragen für „verabschiedet“ zu erklären. Auch in der Öffentlichkeit, wo die Leitmedien die „parlamentarische Blockadesituation“ über Tage hinweg ständig in Szene setzten, wurde der Boden dafür bereitet. Dieses autoritäre Mittel ist in der Verfassung der Fünften Republik ausdrücklich vorgesehen, wobei der in manchen deutschen Medien auftauchende Begriff „Notverordnung“ (welcher an Paul von Hindenburg und die Weimarer Reichsverfassung erinnern soll) in der Sache unsinnig ist, da im vorliegenden Falle die Parlamentsmehrheit ja mitspielt, anders als im Reichstag 1930. Allerdings ist der Verf.artikel 49-3 in der Absicht seiner Erfinder – die Verfassung der Fünften Republik stammt von 1958, aus dem Jahr de Rückkehr v. Charles de Gaulle an die politische Macht – dafür bestimmt worden, eine zerfasernde, in sich uneinige Parlamentsdebatte zur Fahne („ihrer“ Regierung“) zu zwingen; und nicht dazu, Oppositionsfraktionen vorübergehend mundtot zu machen. Insofern wirft der jetzige Rückgriff auf Artikel 49-3 durchaus ein Legitimitätsproblem auf, auch wenn Teile der öffentlichen Meinung ausführlich darauf vorbereitet worden waren.

Nichtsdestotrotz zögerte das Regierungslager zunächst noch, diese Methode einzusetzen, da ein solches Abwürgen der Parlamentsdebatte –– in der Öffentlichkeit nicht sonderlich gut ankommt. Die Regierungspartei LREM rechnet sich insbesondere negative Auswirkungen bei den Kommunalwahlen vom 15. und 22. März aus, welche sie allerdings mutmaßlich ohnehin abschreiben kann, auch aufgrund mangelnder lokaler Verankerung der erst 2016 gegründeten Retortenpartei LREM.

Am Nachmittag des Samstag, 29. Februar 19 gegen 17 Uhr wurde bekannt, dass die Regierung nunmehr den oben zitierte Artikel 49-3 tatsächlich zückte. Die parlamentarische Aussprache zur Renten„reform“ ist damit, jedenfalls in erster Lesung, abgeschlossen (auch wenn noch ein Zusatzgesetz zur Gründung neuer Institutionen zur Rentenpolitik verabschiedet werden muss, für welches die Regierung den Artikel 49-3 nicht mehr einsetzen darf, da seine Benutzung nur einmal pro Sitzungsjahr rechtlich zulässig ist). Sofort ging die Meldung über diverse Telefone, per SMS und Whatsapp-Nachricht, nachdem oppositionelle Gruppen seit Tagen zu „Tag X-Protesten“ für den Zeitpunkt des (in der Öffentlichkeit allgemein erwarteten) Einsatzes von Verfassungsartikel 49-3 aufriefen und sich dafür warmliefen.

Am Abend dieses 29. Februar – das findet buchstäblich nur alle Schaltjahre statt – versammelten sich, je nach Zeitpunkt, rund 400 bis 600 Menschen vor dem Parlamentsgebäude bzw. auf der Brücke, die die Pariser place de la Concorde mit der Nationalversammlung verbindet, und standen sich zwischen massiven Polizeikontingenten in der Kälte die Beine in den Bauch. Der Verf. dieser Zeilen war, jedenfalls zeitweilig, vor Ort mit dabei.

Das Ergebnis darf nicht als Mobilisierungserfolg gelten (wenn auch unter widrigen Bedingungen: Die Ankündigung erfolgte am Spätnachmittag an einem Wochenende, zu einem weitgehend unerwarteten Zeitpunkt, da die am Nachmittag anberaumte Kabinettssitzung offiziell die Bekämpfung des Coronavirus zum Gegenstand hatte). Aus dem Sozialprotest scheint die Luft ‘raus, von einer unwiderstehlichen Dynamik kann derzeit jedenfalls keine Rede sein. Nunmehr machen Aufrufe die Runde, nachdem die Regierung relativ überraschend den Vorwand der Bekämpfung der Corona-Viruskrankheit für das Durchdrücken der Renten„reform“ nutzte, solle man sich ab dem kommenden Montag (in der Konsequenz) eben massiv krank melden. Dies wirkt jedoch eher hilflos – wird eine solche Kampagne nicht konsequent kollektiv längerfristig organisiert, sondern hängt Alles nur von individuellen Initiativen ab, wird sie kaum massiven Druck entfalten – und kann nicht verbergen, dass bei dem Thema derzeit eine Niederlage zu verzeichnen ist. Dadurch wird die Renten„reform“ nicht populärer (eine stabile Umfragemehrheit ist, jedenfalls in ihrer derzeitigen Form, dagegen), und die Regierungspartei LREM dürfte bei den Kommunalwahlen im laufenden Monat März 2020 eine Quittung dafür erhalten. Doch ein Sieg im Klassenkampf ist es ebenfalls nicht, keinesfalls.

Letzte Meldung: Die im Laufe der Monate Dezember 19, Januar (und Februar 20) am Sozialprotest teilnehmenden Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände wie CGT, Solidaires und FO riefen ursprünglich zu einem nächsten „Aktionstag“ mit Protesten und Streiks erst wieder am 31. März (!) dieses Jahres auf. Der letzte fand am 20. Februar 20, ohne größeren Widerhall oder Mobilisierungserfolg. Doch nunmehr, nach der relativ plötzlich kommenden Ankündigung vom Samstag Nachmittag (29.02.20) zum Abbruch der Parlamentsdebatte zwecks Durchdrückens der Renten„reform“, wollen die beteiligten Gewerkschaften an diesem Montag, den 02. März 20 zusammentreten. Dazu kündigte CGT-Chef Philippe Martinez am Sonntag früh (1. März) an, Aktionen, d.h. Proteste „bereits in der kommenden Woche“ seien zu diskutieren, eine AFP-Meldung vom Sonntag früh erklärt eine neue Protestmobilisierung im Laufe der Woche folglich für „möglich“ (vgl. https://www.lefigaro.fr).

Abzuwarten bleibt, ob dabei noch einmal eine echte und ernsthafte Dynamik möglich wird, nachdem diese in den zurückliegenden Tagen ausblieb.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.