Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Sozialprotest in Frankreich  

03/2020

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Bericht vom 17. Februar 2020
Die Verparlamentarisierung
der Auseinandersetzung

Lauert der Feind im eigenen Lager, stellt man sich selbst mit am wirkungsvollsten ein Bein? Der französischen Regierungspartei LREM (La République en marche) scheint derzeit Ähnliches zu widerfahren. Dies ost allerdings bestimmt nicht ohne einen Zusammenhang mit den sozialen Auseinandersetzungen, die in den letzten zwei bis drei Monaten in der französischen Gesellschaft massiv aufgebrochen sind, zu sehen. Bei diesen bildet die geplante und ab kommenden Montag, den 17. Februar 20 nun in der Nationalversammlung debattierte Renten„reform“ einen wichtigen Kristallisationskern.

Auch wenn die bürgerlichen Medien inzwischen weitgehend so tun, als seien diese Auseinandersetzungen jedenfalls auf einer größeren Ebene bereits wieder vorüber, ist dies erst einmal unzutreffend – während unterdessen neue Mobilisierungsdaten anstehen, die dem sozialen Konflikt einen neuen Kristallisationskern geben könnten. (Können, nicht müssen: Die Wirklichkeit wird es alsbald bestätigen oder nicht!)

Spaltpilz innerhalb des Regierungslagers

Im Laufe der vergangenen zwei Wochen zerstritt sich das Regierungslager vor laufenden Kameras selbst über eine soziale Frage, die sich weitgehend mit Symbolkraft über das konkrete Debattenthema hinaus aufgeladen hat, obwohl sie nicht in direkter Verbindung mit dem derzeit die soziale Agenda beherrschenden Rententhema steht.

Ende Januar 20 hatte ein Abgeordneter der liberalen Mitte-Rechts-Partei UDI in der Nationalversammlung beantragt, den Sonderurlaub, der Lohnabhängigen gewährt wird, wenn ihnen ein Kind gestorben ist, von fünf auf zwölf Tage auszudehnen. Das war gewiss kein revolutionäres Vorhaben, bedeutete jedoch eine menschliche und sozialpolitische Anerkennung des Leids einer begrenzten Anzahl von abhängig Beschäftigten. Viel gekostet hätte das gar nicht unbedingt, denn die derzeitige Realität läuft ohnehin darauf hinaus, dass betroffene Eltern sich in einem solchen Falle meistens ärztlich krankschreiben und/oder eine Depression attestieren lassen. Die Reform sollte vor allem bewirken, dass sie sich nicht zu verstecken brauchen, sondern den Grund für ihren Schmerz offen benennen könnten.

Man hätte also damit rechnen können, dass auch bürgerliche Abgeordnete dieses Anliegen ohne allzu viel Aufhebens durchwinken. Dies zu erwarten, hieß jedoch, nicht mit der Kleinlichkeit und dem übersteigerten Wunsch, dem Kapital noch bis ins letzte Detail dienlich zu sein, in Kreisen der Regierungspartei zu rechnen. In nächtlicher Sitzung wurde der Antrag durch die (zu vorgerückter Stunde auf eine relativ geringe Zahl von anwesenden Abgeordneten zusammengeschrumpfte) Nationalversammlung mit 40 zu 38 Stimmen abgeschmettert. Arbeits- und Sozialministerin Murielle Pénicaud selbst hatte die Abgeordneten um ein negatives Votum ersucht – denn was würde dies die Unternehmen nur wieder kosten?

Besonders hervor tat sich auch die südfranzösische LREM-Abgeordnete Sereine Mauborgne, die mehrfach das Wort ergriff, um das Vorhaben als unbegründeten neuen Anschlag auf die geplagten Unternehmen darzustellen: „Warum zwölf und nicht fünfzehn, zwanzig, vierzig Tage?“ Als Alternative regte die Dame an, man könne ja Arbeitszeit-Spendenkonten in Unternehmen einrichten, auf die die anderen Lohnabhängigen ihren betroffenen Arbeitskollegen dann Urlaubstage von ihren eigenen Arbeitszeitkonten spenden könnten. Hauptsache, die armen Arbeitgeber würden nicht belastet.

Tage später wurde der Vorgang einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Seitdem tobt auch durch bürgerliche Medien ein kaum abreißender Sturm der Empörung, und selbst viele Konservative zeigen sich von so viel hartherziger Unmenschlichkeit unangenehm berührt. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, dass familiäre Werte auf der bürgerlichen Rechten als notwendiger Ausgleich gegen die Härte des Kapitalismus gelobt werden. Auch dass der wichtigste Arbeitgeberverband in Frankreich, der MEDEF, selbst für die Maßnahme eintritt und sogar selbst eine neue Abstimmung im Parlament zu ihrer Einführung fordert, erleichterte den Regierungskritiker/inne/n die Argumentation.

Im Hintergrund spielt dabei sicherlich auch eine Rolle, dass der MEDEF nicht nur ein vermeintlich menschliches Antlitz des Kapitals zeigen soll, sondern dass in seinen Reihen ferner die Großunternehmen den Ton angeben. Einem Großbetrieb ist es jedoch relativ egal, ob unter mehreren Hundert Beschäftigten ein oder zwei Mitarbeiter ein paar Tage Sonderurlaub nehmen. Bei einem kleinen Unternehmen mit wenigen Angestellten macht sich dies stärker bemerkbar. (Dies dient den dagegen stimmenden LREM-Abgeordneten als Argument. Nun hätten sie sich ja auch dafür entscheiden können, dem eventuell selbst vor sich hin vegetierenden Tante-Emma-Laden in solchen Fällen eine staatliche Unterstützung zur Querfinanzierung anzubieten. Aber nein, stattdessen diente es als Vorwand, um die soziale, oder eher humanitäre Maßnahme vom Tisch zu wischen…)

Inzwischen zeigten sich mehrere Minister in der Öffentlichkeit zerknirscht, die ursprüngliche Hardlinerin Mauborgne übte mediale Selbstkritik. Auf einer Fraktionssitzung der Regierungspartei LREM ging es ziemlich heiß her, einzelne Parlamentarier/innen werfen der Regierungsspitze eines Selbstdemontage des eigenen Lagers oder jedenfalls dessen ramponiertes Image vor. Premierminister Edouard Philippe räumte öffentlich ein, man habe hier einen Fehlgriff getan, aus Versehen natürlich. Er selbst scheint im Übrigen nicht mehr allzu sehr vom Erfolgskurs seines Kabinetts überzeugt zu sein. Zur allgemeinen Überraschung kündigte er an, bei den französischen Kommunalwahlen vom 15. und 22. März 20 in seiner Heimatstadt Le Havre für den Bürgermeisterposten kandidieren zu wollen. Vielleicht könnte er bald Rathaus- statt Regierungschef sein - es sei denn, seine dortige Kandidatur wird so sehr zur Pleite, wie Viele dies nun im aktuellen Kontext erwarten. Dann aber wäre es um seine politische Statur auch nicht sonderlich gut bestellt. Kreisen also bereits die Geier über dem Kabinett..?

Der konservative „Reform“einpeitscher Raffarin stützt Macron den Rücken

Am Montag dieser Woche, den 10. Februar d.J. verkündete der frühere konservative Premierminister der Jahre 2002 bis 2005 (und derzeitige Senator) Jean-Pierre Raffarin, falls die derzeit geplante und gesellschaftlich umkämpfte Rentenreform tatsächlich durchkomme, dann habe Staatspräsident Emmanuel Macron „politischen Mut bewiesen“. Von aus Kapitalsicht berufener Seite – Raffarin selbst war in seiner Amtszeit mit mehreren Streikbewegungen konfrontiert, setzte die mittlerweile vor-vor-vor-vorletzte Rentenreform 2003 gegen erhebliche Widerstände durch und privatisierte ein Jahr später (2004) die Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF – wird Macron dadurch, nach der Ungemach der letzten Wochen, der Rücken gestärkt. Ganz sicher scheint Raffarin allerdings auch nicht anzunehmen, dass die geplante Attacke auf das Rentensystem durchkommt, sprach er doch erkennbar im Konditional.

Neue Mobilisierungstermine

Die Parlamentsdebatte darum beginnt am kommenden Montag, den 17. Februar. An jenem Tag ist bereits ein „neuer schwarzer Montag“ (so lautet die Formulierung der dort stimmenstärksten Gewerkschaft UNSA RATP) in den öffentlichen Transportmitteln angekündigt, nachdem ein breit befolgter Ausstand bei den Verkehrsbetrieben SNCF – im Fernverkehr – und RATP, dem Pariser Nahverkehrsbetreiber, um circa den 20. Januar 20 herum (je nach Örtlichkeiten) nach rund fünfundvierzig Streiktagen an den meisten Stellen zu Ende ging.

Anfänglich war die Ankündigung noch von bürgerlicher Seite belächelt worden, doch ein halbes Dutzend Gewerkschaften haben sich mittlerweile hinter den Streikaufruf gestellt, darunter UNSA, FO und SUD sowohl bei der Eisenbahn als auch im Nahverkehr. Als letzte größere Gewerkschaft zeigte sich zu Wochenanfang ausgerechnet die CGT – deren Branchenverband bei den Eisenbahnern nicht zu ihrem linken Flügel gehört – noch zögerlich und hatte noch keine klare Position bezogen. (Bereits auf dem Gewerkschaftskongress der CGT in Marseille im April 2016, damals stand die Auseinandersetzung mit der Regierung von Manuel Valls und hinter ihm stehenden Präsident François Hollande um die üble Arbeitsrechts„reform“ auf der Tagesordnung, trat der Eisenbahnerverband als besonders bremsende Branchengewerkschaft auf. Von einer Ausweitung der damals begonnenen Streiks, gar vom bösen Wort Generalstreik wollte ganz besonders dieser Branchenverband damals ausdrücklich wenig hören.)

Der Dachverband CGT, der in den letzten Jahren in der Regel kämpferischere Positionen bezog als seine eigene Eisenbahnergewerkschaft, rief unterdessen für diesen Donnerstag, den 13.01.20 zu neuen Protesten gegen die Rentenreform auf – ohne erhebliche Auswirkungen -, doch alle teilnehmenden Gewerkschaften gemeinsam für den darauffolgenden Donnerstag in der kommenden Woche, also den 20. Januar 20.

Eine Reihe von „Streikherden“ haben sich, trotz der vorläufigen Beendigung des Transportstreiks im vorigen Monat, gehalten. So haben sich in vielen Pariser Trabantenstädten und Stadtteilen berufsgruppenübergreifende Streikkomitees, interpro, gegründet.

Die Anwältinnen und Anwälte machen ihrerseits von sich reden – der ungewöhnliche Streik in ihrer (unserer!) Berufsgruppe hält bereits seit dem 06. Januar 20 an, wurde zu Anfang dieser Woche unbefristet verlängert fortgesetzt und führte an vielen Gerichtsannullierung zur Aussetzung von bis zu achtzig Prozent der Verfahren. In Paris fand am. Dienstag dieser Woche (11. Februar 20) am Abend in den Räumlichkeiten des – alten – Justizpalasts eine „Vollversammlung“ streikender Anwältinnen und Anwälte statt, bei dem nicht nur mit übersatter Mehrheit eine Fortsetzung des Streiks beschlossen wurde, sondern auch eine Verschärfung der Gangart; die Vorschläge gingen bis hin zur körperlichen Blockade von Gerichtsgebäude. Hingegen wurde der schnarchlangweilige Vorschlag, eigene Anwälte-Listen zu den kommenden Kommunalparlamentswahlen im März dieses Jahres aufzustellen, um es auf diesem Wege den Regierungsparteien mal zu zeigen, als einziger mit über deutlicher Mehrheit abgelehnt. Die Teilnehmenden stimmten mit roten und weißen Stimmkarten (für Ja/Nein) ab.

Und im Hochschulwesen beginnt es soeben erst zu brodeln, dort wird erst ab dem 05. März 20 zum unbefristeten Streik aufgerufen. Neben der Opposition gegen die Rentenreform geht es dort um gravierenden Stellenmangel und die drohende allgemeine Befristung von Verträgen.

Auch im öffentlichen Schulwesen – in dem die Mobilisierung derzeit dadurch ausgebremst bzw. verhindert wird, dass es sich nun den ganzen Monat Februar hindurch (in drei Urlaubszonen in Nord-, Zentral- und Südfrankreich nacheinander) in Ferien befindet – soll es ebenfalls im Monat März d.J. wieder losgehen. Es wäre ein Wiederanknüpfen, nachdem Ende Januar 20 die erstmalig durchgeführten Prüfungen des neuen „reformierten“ Abiturs massiv behindert wurden, etwa durch das Bestreiken von Aufsichts- und Korrekturverpflichtungen, ohne jedoch den Schüler/inne/n zu schaden. Diese „Reform“ des Abiturs, die auf eine Angleichung der schulischen Abläufe an die Erfordernisse des neuen Auswahl- und Aussieb-Mechanismus für den Hochschulzugang Parcoursup hinausläuft (über Jahre hinaus wird künftig durch die Festlegung von Schwerpunktfächern ab dem Alter von 14 der spätere Bildungsweg festgelegt, wobei viele Spezialfächer jedoch nur in bessergestellten Schulen angeboten werden…), ist selbst ein Gegenstand heftiger Kritik. Neben der Renten-Konterreform ist sie selbst mit einer der Hauptgründe für den Unmut, Protest und die Widerstände vieler Lehrkräfte.

Laut Beteiligten wird derzeit ausführlich über eine „schwarze Woche“ im Bildungswesen ab dem 16. März 20 nachgedacht.

Hingegen blieb die Streikbeteiligung in vielen zentralen Industriebetrieben in den zurückliegenden Wochen hinter der in anderen Sektoren (wie dem Bildungsbereich) zurück. In der Petrochemie etwa war der Streik in den Raffinerien, dessen Höhepunkt die zweite Januarwoche 2020 bildete, kein Erfolg. Einige der Gründe dafür liegen im bleiernen Gewicht des Arguments der Arbeitsplatzerpressung – seit längerem wird über die Auslagerung oder Schließung von Raffineriekapazitäten im Inland diskutiert -, aber auch im besonderen stalinistischen Charakter des dortigen Branchenverbands der CGT: Er redet oft an einer Mehrheit der Beschäftigten vorbei, jedenfalls dann, wenn es darum ginge, dass diese selbst aktiv werden und nicht nur auf die alte „Avantgarde“ schauen & vertrauen sollen.

Allem Anschein nach wird die Auseinandersetzung, die noch lange nicht beendet ist – darauf insistieren sogar auch bürgerliche Medien wie der Privatfernsehsender BFM TV in diesen Tagen ausdrücklich gegen die Absicht der Regierungspartei, die krampfhaft den Eindruck von „Normalisierung“ zu erwecken versucht – auch von anderen als den traditionell besonders kampf- und durchsetzungsfähigen Beschäftigtengruppen vorangetrieben werden müssen, will er erfolgreich sein.

Bislang reichte die Dynamik offenkundig nicht für einen realen Generalstreik, oder eine Annäherung an denselben, hin: Im Dezember 19 und Teilen des Januar 20 spielte vor allem der Transportstreik die Rolle des „Zugpferds“ für den allgemeinen Sozialprotest. Dieser Sektor kann den sozialen Widerstand gegen die Regierungspläne jedoch auf die Dauer nicht allein stemmen. Alles deutet darauf hin, dass es nun auf einen länger anhaltenden, sich über eine weitere Wegstrecke hinziehenden Protest mit vielen „Einzelfeuern“ hinausläuft.

Wird es gelingen, diese auf einer möglichst breiten Fläche zusammenzuführen…?

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.