Editorial
Der Sturm auf das
Winterpalais war gestern

von Karl Mueller

12/11

trend
onlinezeitung

Dass eine faschistische Mörderbande ein Jahrzehnt lang - von den Geheimdiensten unbehelligt - ihre Verbrechen in der BRD begehen kann, solches zu behaupten, galt bisher landläufig als Fiktion verschwörungstheoretischer Spinner aus dem so genannten linksextremistischen Spektrum. Vier Autoren (Dieter Carstensen, Antonín Dick, Peter Nowak und Klaus Remmler) haben für die Dezemberausgabe ihre Sicht der Dinge im Hinblick auf den rechten Terrorismus  zur Diskussion gestellt, jeder für sich, geschrieben aus seinem Blickwinkel und aufgrund seiner politischen Positionierung im linken Spektrum - einfach ein lesenswerter Meinungsquerschnitt.

Diese Strömungsbreite wünschen wir uns auch für die aktuelle Organisations- und Programmdebatte. Dass dem leider (noch nicht) so ist, lässt sich deutlich an den in dieser Ausgabe dokumentierten Statements und Veranstaltungsberichten nachvollziehen.

Michael Prütz, einer der Protagonisten dieser Debatte, schreibt Anfang November: "Natürlich kann man die radikale Linke nicht auf einer formalen Grundlage vereinigen, hauptsächlich sind programmatische Schritte notwendig." Doch wie setzte sich dieser Anspruch speziell in dem SIB-Diskussionsblog um? Die „Diskussion“ im SIB-Blog spitzte sich im November bei der  Frage des „revolutionären Umbruchs“ in einer Weise zu, die durch  Beschimpfungen wie  „Hirnwichser“,  oder  abfällige Wertungen wie z.B. „theoretische Dünnbrettbohrerei“ geprägt war.

Die Selbstritik der SIB vom 28.11.2011  verhallte dagegen bisher ungehört: "Wir bedauern, daß wir in der aktuellen Diskussion über den „revolutionären Bruch“, den Leninismus, die sowjetische Geschichte usw. längere Zeit nicht annährend in der ganzen Breite unserer Mitglieder und als Gruppe bisher gar nicht eingreifen konnten. Eine frühere Beteiligung hätte vielleicht einige polemische Überschärfen und das Verrennen  der Diskussion auf bestimmten Nebenstrecken vermeiden helfen."  Zum Zeitpunkt der Verfertigung dieser Zeilen geht es im SIB-Blog gerade um "Gewaltandrohung" gegen MitdiskutantInnen. Damit befördert sich die dortige Debatte gerade selber in die unterste Kajüte linker politischer (Un)Kultur.

Ein Blick in die SIB-Erklärung vom 28.11. lässt allerdings auch deutlich erkennen, dass ihr Verständnis vom "revolutionären Bruch" in erster Linie nur ein Lippenbekenntnis ist. Das, was die SIB darunter versteht, basiert weder auf einer gemeinsam erarbeiteten Bilanzierung der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (und der eigenen Geschichte darin), noch - und das ist viel schlimmer - ist dieser Begriff aus einer Analyse der Klassen- und Machtverhältnisse sowie  den aktuellen und prognostizierten Handlungsmöglichkeiten des Proletariats heute abgeleitet. Bezeichnender Weise weicht SIB bei der Definition des "revolutionären Bruchs" auf das Avanti-Grundsatzpapier von 2004 aus, welches sich als "wahres Eldorado an nützlichen Textstellen" für diejenigen erweist, die sich "die Arbeit am Programm als prinzipienloses Zusammenschreiben aus verschiedenen Plattformen vorstellen und keinen besonderen Wert auf Kohärenz legen" (trend, 7-8/11) Dass sich angesichts solcher mageren inhaltlichen Vorgaben (gilt auch für die anderen ehernen SIB-Prinzipien) bestimmte GenossInnen hinreißen lassen, ideologisch ihr Mütchen zu kühlen, indem sie unbedingt dem/r Anderen das Etikett des "subjektiven Revolutionärs" von der Jacke reißen wollen, verwundert freilich nicht.

Wir versuchen in dieser Ausgabe mit zwei Texten aus der Entstehungsgeschichte der Manifesto-Gruppe, aufzuzeigen, dass wenn unter "revolutionären Bruch" im Grunde genommen heute immer noch der Leninsche Weg verstanden wird, der weiland in einen unbestritten erfolgreichen Sturz der zaristischen Selbstherrschaft mündete, eine absolute Blindheit für die heutigen Klassenstrukturen und Kampfbedingungen des Proletariats in den Metropolen die Folge ist.

Der Sturm aufs Winterpalais war gestern, heute geht es nicht mehr um die Errichtung einer demokratischen Republik auf der Grundlage der Gewaltenteilung, sondern um die proletarische Revolution, d.h. die Staats- und damit Machtfrage steht in einem völlig anderen gesellschaftlichen Kontext als weiland 1917. Wenn mensch nun die Geschichte des untergegangenen "realexistierenden Sozialismus" noch als wichtige historische Erfahrung dazu nimmt, dann wird es gänzlich prekär, wenn in Sachen "revolutionärer Bruch" fast nur in der theoretischen Mottenkiste gekramt wird.

Gerade auch aufgrund der entwickelten ausdifferenzierten Produktivkräfte (der Mensch übrigens ist die erste Produktivkraft) und des Massenkonsums ist die Trennung von ökonomischem und politischem Kampf seit Jahrzehnten nicht mehr haltbar. Damit stellt das apriorische Festhalten an der Vorstellung, dass es nur bei einer Avantgarde der LohnarbeiterInnen ein von ihrem ökonomischen Bewußtsein abgespaltenes politisches Bewusstsein geben kann,  eine idealistische und mechanistische Trennung dar. Daher stellt "Manifesto" zurecht - bereits vor rund 40 Jahren(!!) - die richtige Frage:

"Die antikapitalistische  Revolution  ist also zugleich  reif und nicht reif.   Der Klassenantagonismus bringt den Widerspruch hervor,   aber er besitzt nicht aus sich selbst heraus die  Kraft,   die Alternative zu produzieren.   Dennoch, wenn  man  die  Revolution  nicht auf einen  reinen  Voluntarismus,  auf reine,   revolutionäre Subjektivität,  reduzieren will, oder, im umgekehrten  Sinne,   nicht in  den  Evolutionismus zurückfallen will,  auf welcher objektiven  materiellen Basis kann man  dann  eine revolutionäre Alternative  rekonstruieren?"

Diese Frage reichen wir speziell an die SIB-GenossInnen weiter, denn es kommt nicht darauf an, die Antworten von gestern als die für heute noch richtigen auszugeben, sondern heute die richtigen Fragen zu stellen. In diesem Zusammenhang ist der methodische Hinweis von Sartre auf den Widerspruch zwischen den notwendigen Untersuchungen für klassenpolitische Interventionen und einer Organisationsstruktur nach bolschewistischen Prinzipien zu beachten.

"Wenn man also Forschung will, dann muß immer eine Struktur etabliert werden, die die  Diskussion garantiert; ohne diese würde selbst das theoretische Modell,  das die politische  Organisation der  Klasse als  Experiment für die Wirklichkeit vorschlagen würde,  inoperant bleiben. Hier  liegt ein permanenter Widerspruch der Partei, eine Schranke für alle kommunistischen  Parteien."

Da wir der Meinung sind, dass der Klassenkampf, den es zu untersuchen und in den es zu intervenieren gilt, nicht nur als ein politischer und ökonomischer in Betrieb und Stadtteil um den Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, der von den Lohnabhängigen Massen erarbeitet wurde,  geführt wird, sondern dass es immer auch um die Köpfe, das heißt um die ideologische Hegemonie geht, mussten wir (Redaktion & Beirat in unseren Diskussionen) feststellen, dass im Kontext der aktuellen Organisations- und Programmdebatte auf diesem Gebiet die "richtigen" Fragen zu stellen, erst wieder gelernt werden muss. Wir wollen mit dem TREND-Gespräch Nr. 2 versuchen, das Themenspektrum aufzumachen, das uns an dieses selbst gesetzte Ziel heranführen kann. Zwei Experten auf dem Gebiet der politischen Kunst und Musik werden sich mit uns am 19. Dezember 2011 an die Arbeit machen.

Schlussendlich darf nicht vergessen werden, dass das ideologische Ringen nicht nur - bildlich gesprochen - entlang der "Klassenfront" verläuft, sondern auch einen bedeutsamen Stellenwert für die innerlinke Debatte hat.

In Zusammenarbeit mit der North East Antifa Berlin ist es uns gelungen, ein TREND Teach-in Nr. 3 am 17. Dezember 2011 mit Spitzenreferenten auf den Weg zu bringen, worin es um die ideologischen Schnittstellen von Strömungen der Linken gehen wird, die durch ein Jahrzehnt „antideutscher“ Debatten  zum rechtspopulistischen Lager entstanden sind.

Wir sehen uns!

Nachbemerkung in Sachen Solidarität mit TREND
Der Inhaber des Spätverkaufs in Friedrichhain, Herr Saeed, lässt nicht locker.

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Die BesucherInnenzahlen vom November 2011, in Klammern 2010, 2009

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