Editorial
Praxis statt Scholastik

von Karl-Heinz Schubert

04/2016

trend
onlinezeitung

Schon wieder der "Gesellschaftswürfel", werden unsere Leser*innen denken, wenn sie in die vorliegende Ausgabe schauen und dort den Artikel "Was ist umstritten? Noch einmal zur Frage der gesellschaftlichen Widersprüche" von Detlef Georgia Schulze (DGS)  finden, die ihr Gesellschaftsmodell - gestützt auf ihre eigentümliche Lesart vom sogenannten "strukturalen Marxismus" - erneut der TREND-Redaktion zur Diskussion anbietet.

Es bedarf hier keiner Frage, wir veröffentlichen grundsätzlich alle Texte, die eine Politik zur Aufhebung des Kapitalismus befördern wollen. Der DGS-Text beansprucht dies. Von daher musste in der Redaktion nur beraten werden, ob sich die Redaktion als Ganzes zu den von DGS aufgeworfenen Fragen äußert oder ob dies jede/r für sich allein tut. Das Ergebnis lautete: Wir werden weder Einzeln noch als Ganzes  mit DGS über ihren "strukturalen Marxismus" in unserem Onlinemagazin diskutieren. Das schließt jedoch keinesfalls aus, dass Dritte mit ihr bei TREND mit entsprechenden Stellungnahmen in einen Meinungsstreit treten können.

An diese redaktionelle Mitteilung möchte ich kurz meine persönlichen Erwägungen anfügen, da ich trotz aller Ablehnung des "strukturalen Marxismus" Detlef Georgia Schulze ausgesprochen schätze, nicht nur weil sie eine geistreiche Person ist, von der immer wieder interessante politische Anregungen ausgehen, sondern weil sie für diese mutig eintritt und damit eben keine, mithilfe des jeweils linken Mainstreams opportunistisch reussierende Person ist.

1. Allerdings habe ich habe keine Lust auf theoretischen Hennen-/Hahnenkampf. Wer sich sich mit dem "strukturalen Marxismus"  befassen will, wie er sich versteht, wo er unzulänglich ist, wer ihn und wie favorisiert, dafür gibt es ausreichend gute Texte  bei TREND und zwar seit Jahren - desgleichen zur Frage der Einheit und des Kampfes der Gegensätze (siehe dazu die Kästen).

2. Ich halte die von DGS gewünschte Debatte für redundant und langweilig, denn wir haben uns im Kontext des Nao-Projekts zureichend über ihre ideologischen Grundpositionen gestritten, so als sie z.B. 2011 in der Septemberausgabe von TREND schrieb: 

"
Ja, meine Betonung der Form mag vorderhand eine gewisse Ähnlichkeit mit der „Wertkritik“ haben. Aber ich kann Euch beruhigen, sowohl mein Marxismus als auch mein (Post)Strukturalismus-/De-Konstruktions-Verständnis geht sehr stark von Althusser aus. Und Althusser soll seinen SchülerInnen vorgeschlagen haben, einfach das ganze Fetisch-Kapitel zu überblättern, weil erst danach die wirklich marxistische Kritik der Politischen Ökonomie beginne."

TREND-Texte zum "strukturalen Marxismus"
Eine Auswahl
TREND-Texte zur Dialektik - Eine Auswahl

3) Den Kern unserer alten Auseinandersetzungen, die halt bisweilen wieder aufflackern, bildet ihre auf Althusser gründende Soziologie, wodurch  die "positiven Tatsachen" (Marx) aus ihrem historischen  Kontext gebrochen und ihrer Aufhebungsperspektive beraubt werden. Statt ein wiederholtes Mal scholastisch zu streiten, schlage ich vor, sich - ganz im Sinne der materialistischen Dialektik - an Marxens zweite Feuerbachthese zu halten:

"Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage."

Dass die "richtige Behandlung der Widersprüche" (Mao) zum A & O sozialrevolutionärer Politik gehört,  ist tatsächlich nicht nur eine Frage der Praxis, sondern ihre Lösung findet auch dort und nicht im Diskurs statt. Was die Theorie lediglich leisten kann und sollte, ist eine bewußte Praxis vorzubereiten. Das ist recht gut nachzuvollziehen, wenn Carolus Wimmer - Sekretär von der Kommunistischen Partei Venezuelas (PCV) -  in seinem Interview die Klassenkampfsituation Venezuelas auf zwei Hauptwidersprüche zugespitzt charakterisiert: "Die PCV sieht zwei Hauptwidersprüche, die gleichzeitig im heutigen Kampf berücksichtigt werden müssen: Imperialismus gegen Nationalstaaten und Kapital gegen Arbeit." und mit Bezug darauf das Massenbewußtsein folgendermaßen einschätzt: "Viele von ihnen wollen mehr Revolution. Wenn es gelingt, diese Gruppe zusammen zu halten und zu organisieren, dann erscheint eine richtige Revolution möglich." Den subjektiven Faktor mit den objektiven Bedingungen so zusammenzubringen, dass ihre Aufhebung möglich wird, daran wird die Politik der PCV zu messen sein.

Übrigens gilt dieses Praxis-Theorie-Praxis-Verhältnis grundsätzlich für jede Politik. Und wenn dies nicht beachtet wird, dann mag der Berg kreisen soviel er will - wie z.B. die Berliner Kampagne zum Mietenvolksentscheid - und es wird doch nur eine Maus geboren. Allerdings für den Preis, dass mit den sozialen Hoffnungen Zehntausender strategielos experimentiert wurde. Was jedoch nicht daran hinderte, dass bereits beim Versanden der Kampagne in einem faulen Kompromiss die Parole auszugeben wurde: nach der Kampagne ist vor der Kampagne.