Berichte aus Brasilien
Neoliberaler „Volksverräter“ Lula
Der neue Staatschef fährt einen erschreckend rechtssozialdemokratischen Kurs -
Heftige Proteste aus dem eigenem Lager

von Klaus Hart

7-8/03
 
 
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In ganz Lateinamerika, aber auch in Europa hatten viele den Ex-Gewerkschaftsführer beim Amtsantritt im Januar kurzsichtig als Sozialisten, glaubwürdigen Hoffnungsträger der Linken in aller Welt bejubelt. Nach halbjähriger Amtszeit ist davon nur noch wenig zu hören, sehen sich bislang eher die Skeptiker bestätigt. Anders als im Wahlkampf versprochen, setzt Luis Inacio „Lula“ bislang den neoliberalen Kurs seines Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso fort, begünstigt Banken und spekulatives Kapital, fördert die Massenarbeitslosigkeit und das Slumwachstum - steuert womöglich das Tropenland in eine Rezession. Beifall von der falschen Seite kommt überreichlich - selbst George Bush und IWF-Direktor Horst Köhler gratulierten Lula bei seiner jüngsten Washington-Visite ausdrücklich zur „beispielgebenden, erfolgreichen“ Wirtschaftspolitik. Dabei vergeht inzwischen kaum ein Tag ohne Proteste auch gegen die im Sozialbereich, bei den Menschenrechten und der Umwelt eingeschlagene Linie. Weil die langerwartete umfassende Agrarreform ebenfalls ausbleibt, ungenutzter Großgrundbesitz keineswegs wie erwartet aufgeteilt wird, erhöht die gutorganisierte Landlosenbewegung MST mit bereits über einhundert Fazenda-Besetzungen sowie Protest-Camps fast täglich den Druck auf Brasilia. Lula, der ausgerechnet den zwielichtigen Milliardär und als Menschenschinder bekannten Großunternehmer Josè Alencar aus der rechtsgerichteten Sektenpartei PL(Partido Liberal) zu seinem einflußreichen Vize machte, wird inzwischen sogar in den Medien als „Volksverräter“ und „Wahlbetrüger“ betitelt.

„Indifferenz gegenüber dem Leiden des Volkes“

Die schärfste, treffendste Kritik an Lula und seinem engeren Führungszirkel kommt aber von den eigenen Leuten, aus der Arbeiterpartei PT. Ausgerechnet Bildungsminister Cristovam Buarque, ein angesehener PT-Intellektueller, konstatiert jetzt „Indifferenz“ gegenüber dem Leiden des Volkes - „die soziale Tragödie Brasiliens“ werde inzwischen mehr und mehr toleriert. An die Macht gekommen, gewöhne man sich sogar an die Straßenkinder. „Und ist die Indifferenz einmal da, bleibt sie auch, ist unheilbar, dazu beste Verbündete der Bürokratie.“ Beide zusammen könnten die neue Regierung paralysieren. Daß die mit großem Pomp angekündigten raschen Erfolge bei der Elends-und Hungerbekämpfung wegen angeblich fehlender Mittel ausbleiben, läßt der Minister nicht gelten. „Ich bin überzeugt, daß die nötigen Gelder vorhanden sind.“ Andere Intellektuelle der Arbeiterpartei schickten Lula ein Protestmanifest, werfen ihm und seiner Mitte-Rechts-Regierung nahezu täglich in den Qualitätszeitungen vor, das PT-Programm zu verraten, ausgerechnet im Sozialbereich zu kürzen, sogar die Zahl der Hungernden überraschend nach unten zu „korrigieren“. Fünfzig Millionen Betroffene hieß es im Wahlkampf - daraus wurden auf einmal fünfzehn Millionen.

Streitpunkt Rekordzinsen und Arbeitslosigkeit

Doch schwerer als politische Bündnisse mit Rechtsparteien, Diktaturaktivisten und berüchtigten Oligarchen wird Lula auch von der Basis die Wirtschaftspolitik verübelt. Kurz nach dem Amtsantritt waren die ohnehin extrem hohen Leitzinsen - unter den höchsten der Welt - um eineinhalb auf 26,5 Prozent angehoben worden. Daraufhin schnellten die Entlassungszahlen sofort nach oben - doch Arbeitslosenhilfe von umgerechnet maximal 125 Euro wird bei durchschnittlich europäischen Preisen für maximal fünf Monate nur an ehemals Festangestellte gezahlt - eine absolute Minderheit unter den Beschäftigten. Durch jedes Prozent Zinsanhebung, so die Fachleute, werden allein in Sao Paulo, der Industrielokomotive ganz Lateinamerikas mit weit über tausend deutschen Firmen, etwa vierzigtausend Menschen erwerbslos gemacht. Doch es kam schlimmer - allein der Handel Sao Paulos entließ zwischen Februar und April 74000 Angestellte. Derzeit sind in der Megametropole gemäß neuesten Statistiken fast zwei Millionen ohne Arbeit.

Anwälte, Ärzte und Lehrer als Straßenkehrer?

Rio de Janeiro, zweitwichtigstes Wirtschaftszentrum, wurde zum Schauplatz eines Arbeitslosendramas, das die Nation erschütterte: Das gewaltige Sambodrome, in dem stets die prachtvollen, ekstatischen Karnevalsparaden stattfinden, erlebte das tristeste, ergreifendste Defilee seiner Geschichte. Über 130000 Menschen rangen dort direkt verzweifelt darum, bei provisorischen Präfekturbüros als Anwärter für eine Stelle als Straßenkehrer registriert zu werden. Über zehn Tage lang bildeten sich bis zum 4.Juli kilometerlange Schlangen, kam es wegen schlechter Organisation zu Tumulten und Panik, prügelten Spezialeinheiten der Militärpolizei auf die Arbeitssuchenden ein, warfen Tränengas-und Blendgranaten. Daß sich sogar Anwälte, Ärzte, Lehrer und Buchhalter als „Gari“ bewarben, schockierte die Öffentlichkeit zusätzlich. Dabei werden von der Präfektur in den nächsten zwei Jahren voraussichtlich nur einige hundert eingestellt - der Lohn - umgerechnet keine 150 Euro monatlich.

Brasilianische Unternehmen zahlen für Kredite derzeit zwischen sechzig und achtzig Prozent Zinsen jährlich, Privatleute sage und schreibe 114 Prozent - weltweit die höchsten Sätze. Dabei hatten Lula und seine Mannschaft noch 2002 fest versprochen, die Leitzinsen sofort zu senken, da sie Wachstum und Produktion hemmen, Arbeitsplätze vernichten, nur Bankiers, Spekulanten nützen. „Wir sind bereits in einer tiefen Rezession“, betont Rios Universitätsprofessor Reinaldo Gonçalves, der mit Dutzenden anderen PT-Wirtschaftsexperten ebenfalls ein Manifest gegen Lulas „Neoliberalismo“ nach Brasilia schickte. „Die Löhne der Arbeiter sinken deutlich!“ Daß unter soviel Druck Ende Juni die Leitzinsen wenigstens um ein halbes Prozent gesenkt wurden, nennt selbst der Industriellenverband völlig unzureichend - die Rezession werde damit nicht abgewendet. In Sao Paulo, der reichsten, gleichzeitig von unglaublichen Sozialkontrasten gezeichneten Stadt Südamerikas, kommen die Besitzer der unzähligen Billigstläden ihrer ärmlichen Kundschaft, oft aus den riesigen Slums, noch mehr entgegen: Ratenzahlung geht sogar bei Waren, die umgerechnet nur sechzig Cents kosten.

Von den in Brasilien ansässigen Geldinstituten profitierte indessen die nordamerikanischeBank Boston am meisten von Lulas Zinspolitik, steigerte im ersten Halbjahr ihren Gewinn erneut auf Rekordhöhe. Ihr ehemaliger Präsident Henrique Meirelles wurde vom „Sozialisten“ Lula zum Zentralbankchef berufen, was die PT-Linke weiterhin in Rage versetzt. Weil Brasilien bei der BostonBank mit am höchsten verschuldet sei, so der Kongreßabgeordnete Joao Batista Oliveira, müsse Multimillionär Meirelles von dem Schlüsselposten entfernt werden. Schließlich habe er der Bank in zwanzig Berufsjahren satte Profite zum Schaden der brasilianischen Arbeiter verschafft, halte zu ihr weiterhin enge Beziehungen - unvereinbar mit der jetzigen Funktion. Meirelles bleibt natürlich - aber die schärfsten innerparteilichen Kritiker, als „Radikale, Rebellen“ heruntergemachte Politiker, will die rechtssozialdemokratische PT-Spitze um Lula gerne loswerden, droht ihnen Ausschlußverfahren an, entfernt sie aus Parlamentsausschüssen. „Die führenden Leute müssen die Partei verlassen - aber nicht wir“, kontern die Dissidenten. Für Parteichef Josè Dirceu handelt es sich um eine „Opposition von links“, die lediglich der Rechten in die Hände spiele. „Die Rechte ist doch längst massiv in der Regierung“, bekommt er zurück. Lula selbst verteidigt seinen Kurs mit dem Argument, schließlich vom Vorgänger ein völlig heruntergewirtschaftetes, bankrottes Land übernommen zu haben, erst einmal aufräumen zu müssen, das Vertrauen der Märkte zu benötigen. Zudem sei Regieren schwieriger als gedacht.

weiter Banditenterror

Daß im Juni ein Offizier der Leibwächtergarde seiner Familie von Banditen erschossen wurde, weist auf eine weitere Achillesferse - die Sicherheitspolitik. Auch Lula überläßt Millionen von Slumbewohnern dem brutalen Terror der hochbewaffneten neofeudalen Banditenmilizen des global vernetzten organisierten Verbrechens, die immer wieder Menschen lebendig verbrennen. Brasiliens „unerklärter Bürgerkrieg“ kostet jährlich weit über vierzigtausend Menschen das Leben - neuerdings attackieren die mit der Politik, den Eliten verquickten Warlords vor allem in Rio zunehmend Armeekasernen. Doch großangelegte Gegenaktionen der Streitkräfte, von vielen Brasilianern seit Jahren gefordert, lehnt auch der neue Staatschef ab. Woher hat Lula auf einmal diese neoliberalen Ideen? Manche tippen auf die Sozialistische Internationale - „Lula und Blair haben annähernd die gleiche Ideologie“, meinte der britische Botschafter in Brasilia. Doch auf Anfrage erklärt die PT-Führung, zu den deutschen Sozialdemokraten die engsten Beziehungen zu pflegen. Mit der Friedrich-Ebert-Stiftung werden Kongresse, Seminare, Projekte realisiert, zahlreiche PT-Kader ließ man in Deutschland auch ideologisch schulen.

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.: