Berichte aus Brasilien
Favela-Schicksale
Kaum Hoffnung auf bessere Zeiten in den Großstadtslums - „Zukunft? So Gott will...“
von Klaus Hart

04/03
 
 
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„Arm, aber glücklich“ - lautet eines der unzähligen Klischees über Brasilianer, deren überschäumende Lebensfreude, Zukunftsoptimismus einfach unschlagbar seien. Seit Jahresbeginn ist der ehemalige Gewerkschaftsführer Luis Inacio „Lula“ da Silva Staatschef des größten lateinamerikanischen Landes - gerade die Verelendeten in den gigantischen Slums, „Favelas“ der Großstädte, heißt es in den Medien, hofften jetzt wie nie zuvor auf eine bessere Zukunft. Gespräche mit jenen „Favelados“ sind jedoch mehr als ernüchternd - statt Aufbruchsstimmung nach wie vor überwiegend Pessimismus und Apathie.

„Nichts wird besser - die Reichen Brasiliens lassen nie zu, daß Lula irgendwas ändert, uns hier rausholt“, sagt Eloisa; mit ihren vier Kindern, ihrer Bretterhütte zwischen den Fronten im „Guerra urbana“ der Peripherie von Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, reichste Südamerikas, mit über zweitausend Slums. Wenn ein Tropengewitter runtergeht, und das passiert oft, laufen Scheiße, Urin und andere Abwässer des Elendsviertels in ihre „Barraca“ und die der Nachbarn; wenn sich die beiden rivalisierenden Gangstermilizen der Region ein Feuergefecht liefern, verstecken sich die Kinder unterm Bett, gehen bei der ersten Mpi-Salve so routiniert wie Eloisa und ihr jetziger Lebensgefährte in die Horizontale. „Andauernd machen die Drogenbanditen hier Ausgangssperre - dann dürfen wir sogar bei Affenhitze nicht mal den Kopf aus der Tür stecken - oder sind geliefert - die legen jeden um, der sich nicht dran hält!“ Über achthundert Tote monatlich an der Peripherie Sao Paulos - mehr als in den aktuellen Konfliktherden dieser Erde - weit über vierzigtausend jährlich in ganz Brasilien. Aber jetzt ist Lula doch auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte, könnte seine Soldaten losschicken, euch von dem Terror der neofeudalen Milizen befreien, damit dieses ewige Morden aufhört? „Das schafft Lula nicht - die Verbrechersyndikate haben mehr Macht, und die Reichen auf ihrer Seite. Alle haben Angst vor denen - auch Lulas Arbeiterpartei!“ Bei der hat Eloise sogar ein paar Jahre richtig aktiv mitgemacht, auf die - und auf Lula - läßt sie nichts kommen. „Der ist in Ordnung, einer von uns, der weiß, wie Hungern ist - aber was kann er schon machen? Eine richtige Revolution müßte es geben, da würde sich wirklich was ändern - aber sowas bringen die Brasilianer nicht fertig, dazu sind die viel zu träge.“ In den Nachbarhütten hatten die Leute gedacht, Lula zieht in den Präsidentenpalast ein, und tut sofort längst Überfälliges, kommt den Favelados gleich zu Hilfe, läßt Medikamente verteilen. „Schrecklich, mitansehen, miterleben zu müssen, wie Kinder, Erwachsene der Familie neben einem in den engen Barracas dahinsiechen, wegsterben, weil Pillen gegen Hepatitis, Diabetes, Bluthochdruck, andere Krankheiten, eben unerschwinglich sind.“ Das desillusioniert, raubt Zukunftshoffnungen. Hunderttausende Favelados enden so jährlich - systemkritische Mediziner nennen es „Projeto genocida“. Doch dann merkten die Nachbarn Marias - schon im Januar wurden Nahrungsmittel, Bus und Vorortbahn sprunghaft teurer - und Lula unternahm nichts. Sozialprogramme wurden drastisch gekürzt. Zwar soll der erbärmliche Mindestlohn, den kaum ein Favelado bekommt, umgerechnet nur etwa sechzig, siebzig Euro, angehoben werden, aber deutlich unterhalb der Teuerungsrate. „Jetzt, wo er im Palast ist, einer von denen ganz oben, hat er uns wohl vergessen“, sagen Eloisas Nachbarn, „da wird wohl nicht mehr viel passieren.“ Aber ein bißchen Hoffnung haben sie noch. Eloisa entschuldigt alles, was sie an Lula kritisieren - daß die Drogenbosse und ihre schwerbewaffneten Milizen sich in Favelas wie Sapopemba, Elba, Pantanal wie Herrscher über Leben und Tod aufführen, ist für sie unabänderlich, wie ein Naturgesetz. „Das ändert sich nie.“ Als vor über zwei Jahren Marta Suplicy von der Arbeiterpartei zur Präfektin der Megametropole, mit den meisten Milliardären, Millionären Lateinamerikas, gewählt wurde, hatten sich viele in den Slums, so wie jetzt, Hoffnungen gemacht. Die sind schnell zerstoben - außer ein bißchen Sozialkosmetik hier und da blieb alles gleich - auch der Milizen-Terror. Zu einer PT-Präfektur-Arbeitsgruppe, so Eloisa, gehört auch die Mutter mehrerer Favela-Gangsterbosse, hat in Slum-Angelegenheiten das letzte Wort:“Ich glaube nicht, daß meine Söhnchen das akzeptieren werden...“Manche minderjährigen Kindersoldaten, bekannt und gefürchtet, killten bereits bis zu vierzig Menschen. „Das ist hier eine Art Bürgerkrieg, gar nicht mal so anders wie damals in Afghanistan, als ich klein war“, sagt Maryam Alekozai, Anfang zwanzig, die in einem Slumprojekt Sao Paulos arbeitet, größtenteils in Deutschland aufwuchs, mit ihrer Familie wegen der Mujaheddin aus Kabul flüchten mußte. „Hier ist ein Genozid im Gange“, urteilt der katholische Padre Jaime Crowe in der Favela Jardim Angela.

Migrantenbiographien

In Sao Paulo leben mehr „Nordestinos“ als in Nordost-Millionenstädten wie Recife, Salvador oder Fortaleza - alle zugewandert, aus Not, Hoffnung auf irgendeine Arbeit, ein besseres Leben. Die allermeisten kamen aus Favelas - hausen in Sao Paulo wieder dort. So wie Maria und ihre zwei Schwestern, ein Bruder - die sich in der Barraca einen einzigen Raum mit den beiden kleinen Kindern teilen. Väter? Nicht präsent. Alle machen Aushilfe - Handlanger, Putzfrau, Wäscherin, Straßenverkäufer; arbeiten wie über sechzig Prozent der Brasilianer ohne Vertrag, unregistriert, auch sonnabends, sonntags. Eine Schwester prostituiert sich zwei, dreimal im Monat, schläft mit verheirateten Japanern der Mittelschicht, für ein paar Real. „Da komme ich wenigstens mal raus hier, die nehmen mich mit in ein Stundenhotel, das ist wie Paradies, mit Abendessen. Wenn das immer so weiterginge, wäre ich mit dem Leben zufrieden. Mehr ist doch für unsereinen nicht drin. Und hier in der Favela gibts doch nur brutale Machos, jeder hört, wenn irgendwo einer vögelt, die eigenen Kinder kriegens mit, sehen oft sogar zu.“ Wegen ihrem „Nebenjob“ sind Maria und die anderen erleichtert, weil er die Haushaltskasse der „Barraca“ aufbessert. „Wenn ich jeden Tag das Essen für mich und die Kinder auftreibe, bin ich schon zufrieden, mehr will ich eigentlich gar nicht.“ Für sie ist das viel, jedesmal ein enormer Sieg; Träume, große Hoffnungen hat sie nicht. Aber so viel Fatalismus in der Stimme, daß es wehtut, wie bei anderen Favela-Gesprächen. Einmal im Jahr besucht Maria die Eltern, die anderen fünf Geschwister an der Peripherie von Recife - ist immer entsetzt:“Wie könnt ihr so leben, die Lehmhütte steht viel zu nahe am Kloakefluß, das ist gefährlich!“ Der Vater, die anderen kontern:“Wo sollen wir denn sonst hin?“ Im kraß archaischen Nordosten hofft erst gar keiner auf Politiker, Gouverneure, wählt den, der T-Shirts, Nahrungspakete verschenkt. „Se Deus quiser“ - so Gott will, ist die Standardphrase von Lula - „So Gott will, ändert sich was“, sagen die meisten Favelados, erscheinen tiefreligiös. „Nur Gott kann mir helfen - wir leben hier so, weil Gott es eben so wollte.“ Nicht die Linie der katholischen Kirche, befreiungstheologisch orientiert, beständig darauf aus, die Verelendeten zu mobilisieren, aus ihrer Apathie und Lethargie zu holen. Doch das gelingt nur punktuell, zumal in den Favelas Sekten dominieren. „Du wirst in so einer Hütte geboren, kaum was zu essen, du siehst, daß deine Eltern nicht vorankommen, nur Schläge einstecken, irgendwann aufgeben, müde werden. Und da wirst du auch pessimistisch, machst dir keine Hoffnungen mehr,“ meint Maria. Ihre Schwester, fünfzehn, inzwischen mit einem Baby, von wem, weiß sie nicht, winkt ab:“Da wurde ein Berufskurs gratis angeboten - doch ich hatte das Geld für den Bus nicht, mußte dorthin über eine Stunde laufen, bei Hitze. Mittendrin bin ich vor Erschöpfung ohnmächtig geworden, hatte ja nichts im Bauch. Ich habe so geheult deswegen, das wäre eine Chance gewesen - aber ich habe aufgegeben.“ So viele Barrieren für Favelados, die lethargisch, apathisch machen. „Wie soll ich denn mein Leben verbessern, hier rauskommen, wenn ich nicht mal den Bus bezahlen kann, um irgendwo dort, wo es vielleicht Arbeit, Kurse gibt, nachzufragen?“ Marias Eltern sind Analphabeten, ihre Geschwister der Recife-Favela Halbanalphabeten, kaum zu begrifflichem, abstraktem Denken fähig, überfordert mit simplen Gebrauchsanweisungen, Einnahmevorschriften auf Medikamenten, gar Verhütungsmitteln. Sie könnten mit anderen Favelados rebellieren, zu den Vierteln der Reichen, zum Gouverneurspalast ziehen, auf ihre Rechte pochen, damit sich was bessert, die perverse Einkommensverteilung aufhört - Brasilien ist schließlich ein reiches Land, unter den zehn, zwölf führenden Wirtschaftsnationen.“Wenn du Hunger hast, fehlt dir der Antrieb, aus der Hütte zu gehen - wegen Hunger, Elend protestiert hier in Brasilien keiner“, meint ein Jugendfreund Marias, der einst mit ihr einen kleinen Analphabetisierungskurs aufzog, als „Roter“ verschrien war, vom eigenen Vater deshalb immer wieder Dresche bekam. „Die im Slum hier denken nicht politisch - Wut oder Haß auf die Reichen, die schuld sind an der Misere - das kennen die Favelados nicht - die denken, das sei normal so, schon immer so gewesen.“ Die Politiker, die Reichen, das Fernsehen, so meint er, vermitteln den Verelendeten, daß sie es nicht schaffen, nie weiterkommen im Leben, nie aufsteigen. Zukunft - das sei was für die in den besseren Vierteln der Strandzone, wo viele Favelamädchen als Hausdienerinnen schuften.

Elendsviertel wachsen immer rascher

Alle acht Tage ein neuer Slum in Sao Paulo - landesweit explodieren die Favelas regelrecht. „Da sieht mans doch - wir kommen hier nie raus, hocken nur immer enger aufeinander. Das ändert sich nie.“ Viele hoffen, träumen, daß es vielleicht den Kindern besser geht - aber dafür aktiv werden, etwa eine bessere Schule für sie suchen - das beobachtet er nicht. Man wartet fatalistisch ab, daß die „oben“, die Kirche oder sonstwer was anbieten. Manche Kinder, Jugendliche, weiß er, legen irgendwo jemanden um, haben dann auf einmal neue Marken-T-Shirts und Jeans an, kaufen Nike-Turnschuhe, stopfen sich bei McDonalds voll. Oder machen ständig bei den Gangstermilizen mit, verdienen richtig gut Geld, haben Prestige, Macht in der Favela, gut fürs Ego. Wissen aber - ewig geht das nicht gut. Zwanzig Millionen illegaler Waffen sind in Brasilien im Umlauf. „Alt werden die nicht, spätestens mit fünfundzwanzig sind die hinüber, liegen irgendwo mit zersiebten Gehirn.“

Eine Nachbarin hat schon drei Kinder, will sich endlich sterilisieren lassen, Verhütungsmittel sind zu teuer. Sie rennt monatelang von Hospital zu Hospital, auch zu kleinen Gesundheitsdiensten, Ambulanzen, aus Angst, erneut schwanger zu werden - aber alle machens nur gegen Geld. Jetzt kriegt sie das vierte - und weiß, daß damit Essen, Kleidung für alle noch knapper werden - das desillusioniert, frustriert noch mehr. Bohnen und Reis, Reis und Bohnen, Aber helfen sich wenigstens die Ärmsten gegenseitig, damit das Leben in der Favela erträglicher wird, nutzen sie die wenigen Zukunftschancen? „Alle schön gemeinsam, schön solidarisch - so ist das leider nicht - oder nur ganz, ganz selten“, sagen er, viele andere in den Favelas von Rio, Sao Paulo oder Belem an der Amazonasmündung. „Cada um por si“ - jeder für sich, lautet die immer wiederholte Verhaltensregel. „Jeder hat so wenig“, meint eine Frau an Fortalezas Peripherie“, „und soviel Angst, das bißchen auch noch an die zu verlieren, die garnichts haben. Da sind die Leute eben egoistisch. Von Solidarität wird nur immer viel geredet - aber die gibts kaum, jeder muß für sich alleine zurechtkommen.“ Auch sie verneint Zukunftshoffnungen, irgendeine Besserung. Egal wer grade an der Regierung ist, so ihre Erfahrung, „a coisa nao melhora“, nichts bessert sich.

Doch, manches schon. Weil es in der Schule Essen gratis gibt, gehen mehr Kinder gerne dorthin, lernen wenigstens etwas. Manchmal wird hier und da ein Hilfsprogramm der Regierung gestartet, werden Lebensmittel verteilt, bekommen Familien eine kleine Hilfe von umgerechnet etwa fünfzehn Euro monatlich. Ein Almosen, das nichts ändert. Wer keinen Ausweis hat, oder keine Geburtsurkunde vorlegen kann - und das sind sehr, sehr viele, wird für diese Programme nicht registriert, geht leer aus. „Arm, aber glücklich“ - Europäer verstehen kaum, daß Favelados dennoch oft so fröhlich wirken, so viel lachen - viel mehr etwa als Deutsche. „Wir sind in der Lage, über unser eigenes Unglück zu lachen, darüber groteske Witze zu reißen; schwarzer Humor, schwärzer gehts nicht“, kommentiert ein Mann, „das ist eine Art Ventil, um damit fertigzuwerden. Wahrscheinlich ist das bei euch anders.“ Hofft er auf Besserungen? „Nur auf ganz lange Frist, ganz, ganz lange nach Lula.“

Editorische Anmerkungen

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.:

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