Berichte aus Brasilien
Lula bei Fidel Castro
Keine Kritik an Kubas  Menschenrechtspolitik, wie von Washington & Co. gefordert
von Klaus Hart

10/03
 
 
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Lob der Weltbank für Kubas hervorragende Sozialindikatoren – die von Brasilien sind grauenhaft schlecht

Bushs  PR-Strategen im Weißen Haus hielten den Moment für günstig: Würde es gelingen, den – noch – mit hohem internationalem Prestige ausgestatteten  brasilianischen Präsidenten durch Druck hinter den Kulissen, Mobilisierung der „öffentlichen Meinung“ zu veranlassen, während seines Kuba-Besuchs die Menschenrechtspolitik der Castro-Regierung scharf zu kritisieren, diente dies fabelhaft den bekannten langfristigen Kuba-Interessen der USA. Und würde zudem die derzeit auch von den EU-Vasallen aus der NATO mitgeschürte internationale Isolierung des Inselstaates weiter fördern. Bushs Staatssekretär Roger Noriega gab deshalb lange vor Lulas offizieller Visite öffentlich die Argumentationslinie vor:“Wir erwarten, daß Präsident Lula auf Kuba seine immense Glaubwürdigkeit in Fragen der Demokratie, der Arbeitsrechte, der Würde des Menschen und der Freiheit vertritt. All dies Fidel Castro entgegensetzt, der sein Leben damit verbrachte, solche Werte zu zerstören.“

Die bürgerlichen Medien nicht nur Brasiliens hielten sich wie üblich an Washingtons Vorgaben, schufen in ellenlangen Analysen und Leitartikeln das gewünschte Meinungsklima, reduzierten den Sinn der Lula-Reise auf die einzige Frage: Wird er nun den „greisen Diktator“ öffentlich anprangern oder nicht? Lula war gut beraten, davon die Finger zu lassen, damit einer fürchterlichen Blamage – angesichts der zunehmend grauenhafteren Menschenrechtslage zuhause – zu entgehen. Denn mit Castro-Kritik hätte er auch bei Deutschlands Pseudo-Progressiven bestenfalls kurzfristig Sympathiepunkte sammeln können.

Schon während der Septembervisite auf Kuba und erst recht danach reagierte Lula auf bohrende Journalistenfragen mit Ausflüchten – natürlich habe man Menschenrechtsthemen, „auch die Frage der Gefangenen“ angesprochen. Kein Zweifel – soweit bekannt wurde, unterhielten sich die beiden gut befreundeten Staatschefs sehr ausführlich auch darüber – stets dabei Lulas persönlicher Berater Frei Betto, befreiungstheologisch orientierter Dominikaner-Ordensbruder, zu den führenden Intellektuellen Brasiliens gerechnet, seit langem mit Castro weit enger befreundet als Lula. Frei Betto vermittelte laut brasilianischen Presseangaben ein Gespräch Lulas mit dem Kardinal von Havanna, Jaime Ortega, der dabei eingeräumt habe, daß die fünfundsiebzig  in jüngster Zeit zu Gefängnisstrafen verurteilten Castro-Gegner in eine Konspiration gegen die kubanische Regierung verwickelt gewesen und von der US-Vertretung in Havanna entsprechend beeinflußt worden seien.  Falls Kardinal Ortega richtig zitiert wurde, wären die derzeitige Aufregung in Washington  - und Berlin – über die Lage auf der – und die Sanktionen gegen die Insel umso verständlicher.

Wie Brasiliens Presse nur in drei dürren Zeilen vermeldete, kritisierte Castro indessen die Agrarreformpolitik Staatschef Lulas, außerdem die sozialen Diskrepanzen in Brasilien. Was Castro nicht gefällt, ist leicht vorstellbar - schließlich halten ihn die zahlreichen, in Kuba studierenden Angehörigen der brasilianischen Landlosenbewegung MST bestens auf dem laufenden. So weiß Castro natürlich aus erster Hand, daß Lula nicht dafür sorgt, daß die sich in großer Lebensgefahr befindlichen politischen Gefangenen des MST – bisher bereits über zwanzig – endlich freigelassen, auch die Morde an Landlosenführern unterbunden werden.  Der MST ging vergeblich gegen die Haft vieler seiner wichtigsten Leute vor dem Obersten Gericht Brasilias in Berufung – dies hat im September die „Rechtmäßigkeit“ der Urteile eines Richters im sozialdemokratisch regierten Teilstaate Sao Paulo bestätigt.

Im Oktober wird dort die Sozialistische Internationale tagen – man darf gespannt sein, ob die SPD mit gleicher Elle wie im Falle Kubas mißt und tatsächlich, trotz der gravierenden Menschenrechtslage gerade im Teilstaate Sao Paulo, unter einem sozialdemokratischen Gouverneur, eine Delegation entsendet.  

       Und Castro weiß natürlich auch aus erster Hand, was die Landlosenbewegung, die derzeit brasilienweit täglich mit verbündeten Organisationen für die Freilassung der politischen Gefangenen demonstriert, von Lula und dessen Politik hält. Auf einer Septemberkundgebung sagte Waldemar Rossi, einer der bekanntesten Führer der sozialen Bewegungen des Tropenlandes, in Sao Paulo zum Trend:“Alle Organisationen, die Dachgewerkschaft CUT und auch die katholische Arbeiterpastoral, sind von der Lula-Regierung stark enttäuscht, weil sie nicht ins Soziale investiert, sich aber dem nationalen Kapital  anbiedert. Lula will sich – wegen der politischen Gefangenen – nicht mit dem stockkonservativen Justizapparat anlegen; darüber hinaus aber auch nicht mit dem Weltwährungsfonds, nicht mit Bush, nicht mit den brasilianischen Großgrundbesitzern – aber mit den sozialen Bewegungen legt er sich an; das ist Feigheit, das ist schwach!“

„Mr. Lula – Verräter landen stets auf dem Müllhaufen der Geschichte“

Aber kann man Lula noch zum linken Spektrum zählen? Waldemar Rossi, der einst mit dem jetzigen Staatschef Streiks organisierte, analysiert:“Lula ist in Wahrheit nicht einmal sozialdemokratisch, ist ideologisch fragil – er wuchs in der Gewerkschaftsbewegung faschistischen Ursprungs auf, in einer von multinationalen Konzernen geprägten Industriestruktur. Seine Weltsicht, seine Sicht von Entwicklung ist just jenes derzeit auf der ganzen Erde dominierende Modell. Lula fehlt eine klare  Vision  der Differenziertheit in der heutigen Welt – Lula war nie ein Linker. All dies erklärt seine teilweise Bewunderung für Adolf Hitler. Nur – Hitler wußte, was er wollte, Lula weiß es nicht, hat kein klares Regierungsprojekt; verfolgt auch  nicht jenes Entwicklungsmodell, das seine Partei über so viele Jahre erarbeitete. Gegenüber einem brasilianischen Nachrichtenmagazin sagte er:`Ich möchte lieber ein reicher Unbekannter als ein famoser Armer sein.`  Das ist in etwa seine Philosophie.

Nicht zufällig lassen Oppositionelle  jetzt zahlreiche Großwerbeflächen Brasiliens mit einem Konterfei Lulas und dieser roten Schlagzeile bekleben:“Mr.Lula – Verräter landen stets auf dem Müllhaufen der Geschichte.“

Technologietransfer von Kuba nach Brasilien

In Kuba traf sich Lula mit einem Teil der über sechshundert brasilianischen Studenten, die zumeist aus ärmlichsten Verhältnissen stammen, an den Universitäten Fächer wie Medizin, Psychologie, Soziologie und Kunst belegen – sämtliche Kosten des Aufenthalts übernahm die kubanische Regierung. Außerdem wurden mehrere Regierungsabkommen unterzeichnet, die den Technologietransfer von Kuba nach Brasilien, darunter bei der Medikamentenproduktion, vorsehen. Mehrere Regierungsmitglieder, auch der derzeitige brasilianische Botschafter in Havanna, hatten während der Militärdiktatur Zuflucht in Kuba gefunden.

Während Castro die extremen sozialen Ungleichheiten in  Lulas Brasilien monierte, erntete die kubanische Regierung erstmals beträchtliches Lob von der Weltbank. Im neuesten „World Development Report“ werden Kuba Erfolge bei der Gesundheits-und Bildungspolitik bescheinigt, die demokratische Länder Lateinamerikas nicht erreicht hätten. Kubas Sozialindikatoren, hieß es, zählten zu den besten unter den lateinamerikanischen Staaten. Immer noch viel zu wenig bekannt: Das vielgeschmähte Kuba stieg unter Castro auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung - trotz des kalten – und heißen Kriegs der USA gegen die Insel – in jene Gruppe von Ländern mit hohem Entwicklungsgrad auf, zu dem auch Nordamerika, Frankreich, die Schweiz und Deutschland gehören, liegt auf Platz 52. Brasilien, dreizehnte Wirtschaftsnation, zählt dagegen nur zur Gruppe jener Länder mit mittlerem Entwicklungsniveau, rangiert auf Platz 65, sogar noch hinter Kolumbien.  Castro und seine Companheiros haben ihre nach dem Batista-Sturz gegebenen Versprechen eingelöst, beispielsweise Hunger, Seuchen, Kindersterblichkeit und Analphabetismus ausgetilgt. Das neoliberale Brasilien ist davon noch weit entfernt – nur etwa ein Viertel aller Brasilianer zwischen fünfzehn und zweiundsechzig Jahren kann lesen und schreiben.

Rot-grünes Lob für Brasilien, vernichtende Kritik an Kuba

Indessen bewerten Rot-Grün & Co. die Zustände auf Kuba als denkbar schlecht, beteiligen sich an den allen Kubanern schadenden Sanktionen. Brasilien wird indessen wegen seiner Innen-und Außenpolitik kontinuierlich mit höchstem Lob überhäuft, die bilateralen Beziehungen bewertet nicht nur Joseph Fischers Außenministerium als „ausgezeichnet“. Nach dieser Lesart und Logik verdient Kuba sozusagen demokratische brasilianische Verhältnisse. Während Lula bei Castro weilte, ereignete sich in Brasilien manches, das die Fidel-Gegner ganz offensichtlich auf der Zuckerinsel schmerzlich vermissen. Jugendliche Prostituierte, in politisch korrekten Neudeutsch „Sexarbeiterinnen“ genannt, machen in Rio de Janeiro den Kunden sogar schon für umgerechnet sechzig(!) Cents die Beine auf, während Kuba diesem Beispiel einfach nicht folgen mag. Ähnlich steht es um Kubas direkt abstoßend niedrige Gewalt-und Mordrate, fällt auf, daß Todesschwadronen, die sozial und politisch unerwünschte Personen gleich serienweise ins Jenseits schicken, einfach fehlen. In Brasilien – jährlich weit über vierzigtausend Morde -  arbeiten diese Killerkommandos weiter hocheffizient auch unter der Lula-Regierung, die deshalb irgendwelche Proteste, gar aus Deutschland, keineswegs zu befürchten hat.

Eingeladen für drei Monate vom Deutschen Akademischen Austauschdienst DAAD,  schlendert in diesen Tagen gerade der dunkelhäutige Buchautor Paulo Lins, Co-Regisseur des spannenden, aufwühlenden brasilianischen Films „City of God“, durch Berlin  – gegenüber dem Trend sagte er:“Brasilien mordet seine Kinder seit vielen, vielen Jahren – und macht bereits Kinder zu Mördern. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat.“ In seiner Heimatstadt Rio de Janeiro, dem nach Sao Paulo zweitwichtigsten Wirtschaftsstandort,  sterben auch jetzt täglich Menschen selbst durch verirrte Kugeln aus NATO-Waffen der global vernetzten Verbrechersyndikate, in  den ersten Oktobertagen sogar eine siebzehnjährige Schwangere. Auch so üblich in Havanna? Rio de Janeiros Sondereinheit der Militärpolizei für Spezialeinsätze(BOPE) treibt täglich im Marschblock, mit nacktem Oberkörper, Stiefeln und Uniformhose nahe der Strände Körperertüchtigung, verkündet dabei aller Welt die Dienst-Philosophie durch martialische Gesänge, in Reimen:“Verhören geht ganz einfach – du schnappst dir einen Slumbewohner und schlägst ihn zusammen, daß es richtig wehtut/Verhören ist  so leicht – du greifst dir einen Banditen und schlägst solange auf ihn ein, bis er tot ist.“ Wer solche – und weit schlimmere -  Verse hört, bekommt das Grausen – schließlich direkte Anleitung zum Foltern – weiterhin landesweit üblich, alltäglich. Brasiliens Militärpolizei singt diese Verse seit vielen Jahrzehnten, seit der Diktaturzeit – warum nicht auch unter Lula? Würde Castros Polizei mit solchen Sprechchören durch Havanna joggen, wäre der internationale Skandal vorprogrammiert. Bei Lula läßt man es durchgehen – Brasilien ist schließlich Lateinamerikas größte Demokratie...

Editorische Anmerkungen

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.: