Berichte aus Brasilien
UNO-Sonderberichterstatterin geschockt von Menschenrechtslage unter Lula-Regierung
von Klaus Hart

10/03
 
 
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Deutscher Anwalt Sven Hilbig in Rio: Auch unter Lula wird in Brasilien überall und systematisch gefoltert – schwere Vorwürfe an EU und Rot-Grün

Die UNO-Sonderberichterstatterin Asma Jahangir reist seit September durch Brasilien, um Ermittlungen gegen zahlreiche Todesschwadronen, Folterer sowie Polizeibeamte zu führen, die an summarischen außergerichtlichen Exekutionen teilnahmen. In Lateinamerikas größter Demokratie werden jährlich selbst laut offiziellen Angaben weit über vierzigtausend Menschen Opfer von Mordtaten, darunter Gewerkschafter, kirchliche Menschenrechtsaktivisten, Landlose und Kleinbauern.  Die schmächtige, 51-jährige Pakistanerin Asma Jahangir zeigte sich über das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen unter der Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva  schockiert.

Als die UNO-Sonderberichterstatterin in der Millionenstadt Sao Paulo, in der über tausend deutsche Firmen ansässig sind,  ein Jugendgefängnis verläßt, wiederholt sie immer wieder die selben Worte – furchtbar, furchtbar, einfach grauenhaft, soviel Gewalt. „Doch wenn ich der Presse genau beschreibe, was ich gesehen habe, werden all die Jugendlichen dort von den Wärtern erneut geschlagen.“

Das Gefängnis hat eigentlich nur Platz für zweiundsechzig Insassen, doch insgesamt 540 sind dort unter unmenschlichsten Bedingungen zusammengepfercht.

“Das sollte eine Modell-Anstalt sein – mit einer sehr guten Infrastruktur – aber dennoch haben mir die Insassen zahlreiche Fälle von Mißhandlungen geschildert, Gewalt ist dort an der Tagesordnung“,  sagt die UNO-Expertin Asma Jahangir im Trend-Interview vor einer weiteren stundenlangen Zeugenanhörung.

Für sie bedrückend im mehrfachen Sinne.

Zeuge ermordet

Viele, die gefoltert wurden, gar Attacken von Todesschwadronen überlebten, setzen in die UNO-Sonderberichterstatterin große Hoffnungen, erwarten von ihr,  daß sozusagen sofort etwas gegen die Täter unternommen wird.  Asma Jahangir muß dann stets klarstellen, daß sie lediglich einen Bericht anfertigt, der an Brasilia Forderungen stellt. Außerdem weiß sie nicht, was mit den Zeugen geschieht, die sich ihr anvertrauten. In Nordostbrasilien hatte Asma Jahangir mit einem jungen Mann gesprochen, den eine Todesschwadron zum Krüppel geschossen hatte. Kurz darauf war er tot, ermordet von unbekannten Killern. Mehrere andere Zeugen erhielten sofort Morddrohungen.

“Alles sehr, sehr tragisch. Und alarmierend, daß die Straflosigkeit hier so ausgeprägt, so  verwurzelt ist. Daß eben Leute denken, immer mehr Morde begehen zu können. Ich habe deshalb sofort gegenüber der brasilianischen Regierung meine tiefe Besorgnis ausgedrückt, dringliche Schritte angemahnt. Worauf man mir schriftlich versprochen hat, Ermittlungen zu dem Mord an dem Zeugen aufzunehmen – und weitere bedrohte Zeugen zu beschützen. Natürlich hoffe ich auch, daß mein Bericht für die Vereinten Nationen etwas bewirkt, hier in den nächsten Jahren zu überfälligen Veränderungen führt.“

--Todesschwadronen ermorden sozial und politisch unerwünschte Personen--Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International haben von Brasilia in den letzten zehn Jahren immer wieder gefordert, Zeugen vor Anschlägen zu bewahren – ohne Erfolg. Millionen von Brasilianern, so die nationale Menschenrechtsorganisation Justiça Global, leben in einem ständigen Klima der Angst, weil kontinuierlich sozial oder politisch unerwünschte Personen von Todesschwadronen umgebracht werden. Sandra Carvalho, Leiterin von Justica Global in Sao Paulo, hat eine entsprechende Studie für die UNO-Sonderberichterstatterin miterarbeitet.

“Ich hoffe, daß ihr Report die brasilianischen Autoritäten sensibilisiert, endlich etwas gegen all diese Menschenrechtsverletzungen zu unternehmen, besonders gegen summarische außergerichtliche Exekutionen, die geradezu systematisch erfolgen“, sagt sie zum Trend. „Asma Jahangir zeigte sich erschüttert – ihr Bericht an die UNO wird in Brasilien für Aufregung sorgen.“

In den Vorjahren hatten sich UNO-Sonderberichterstatter in Brasilien auf  Folterungen sowie auf Hunger und Massenelend konzentriert – Brasilia reagierte jeweils mit heftiger Verärgerung, wies die Vorwürfe scharf  zurück.

deutscher Anwalt Hilbig: Lula verkauft sich als Progressiver

Der Berliner Menschenrechtsanwalt Sven Hilbig arbeitet seit mehreren Jahren in Rio für Justiça Global, hat die UNO-Sonderberichterstatterin bei ihren Ermittlungen begleitet. Wie Hilbig im Trend-Interview betonte, hat seine Organisation die letzten Jahre sehr viele Beschwerden bei Asma Jahangir eingereicht.  Allein in Rio seien letztes Jahr rund neunhundert Menschen durch Polizisten ermordet worden, dieses Jahr dürfte die Zahl sogar auf 1200 ansteigen. „In Rio wird von den Politikern ganz offensichtlich unterstützt, daß die Polizei mordet.“ Regelmäßig werden Personen totgefoltert, zuletzt ein Geschäftsmann aus China.  „In den Gefängnissen hat sich generell die Situation verschlechtert. Im Anschluß an einen Besuch von Menschenrechtsaktivisten, die einen Mord in einer Haftanstalt klären wollten, sind dieses Jahr alle Gefangenen, die mit den Menschenrechtlern sprachen, gefoltert worden. Eine nicht unübliche Praxis. Sogar, als vor zwei Jahren der UNO-Berichterstatter für Folter in Brasilien war.“

Der hatte nach drei Wochen über dreihundert Folterfälle dokumentiert und betont, daß in dem Tropenland überall und systematisch gefoltert werde. Laut Anwalt Hilbig hat sich daran auch unter der Lula-Regierung nichts geändert.  Dabei werde immerhin seit 1997 im Strafgesetzbuch Folter als Verbrechen definiert. Brasilien strebe einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat an – wird bekanntlich dabei von Rot-Grün unterstützt. Lula, so Hilbig, gebe sich nach außen progressiv, sei deshalb vom Besuch der UNO-Sonderberichterstatterin nicht gerade erbaut. „Geschichtlich betrachtet, waren die Menschenrechte nie ein Schwerpunkt seiner Arbeiterpartei PT. Die Lula-Regierung reagiert noch pikierter auf Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen als die Vorgängerregierung, empfindet diese Anzeigen bei der UNO, der Organisation Amerikanischer Staaten als noch unangenehmer. Denn Lula lebt von einer großen nationalen und internationalen  Reputation, hat sich nach außen als progressive Kraft verkauft.“

Hilbig, seine Organisation fordern natürlich die Freilassung aller politischen Gefangenen. Er hält für bedenklich, „daß man Leuten, die als Feinde, Gegner betrachtet werden, den Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren abspricht. Es kann eben vorkommen, daß jemand, der verdächtigt wird, einen Kaufhausdiebstahl begangen zu haben – diesen womöglich garnicht begangen hat – zusammen mit Massenmördern in der Zelle sitzt. Und wenn die alle bei einer Polizeiaktion im Gefängnis erschossen werden, ist der allgemeine Konsens, naja, es handelt sich ja um Kriminelle. Es heißt: Nur ein toter Krimineller ist ein guter Krimineller.“

EU verstößt gegen eigene Menschenrechtsklauseln

Daß es weder ein Interesse der deutschen Kommerzmedien noch der offiziellen deutschen Stellen an der Menschenrechtslage in Brasilien gibt, nennt Anwalt Hilbig „einen Skandal“. „Die EU hat mit dem Mercosur 1999 ein Rahmenabkommen geschlossen, das eine Demokratie-und Menschenrechtsklausel enthält, das Prinzip der Achtung der Menschenrechte betont. Damit behält sich die EU vor, im Falle gravierender Menschenrechtsverletzungen das Rahmenabkommen einzufrieren oder sogar aufzukündigen. Dies hat die EU sogar schon praktiziert – aber nur mit Ländern wie Zimbabwe, Haiti, Togo und anderen wirtschaftlich nicht interessanten Staaten. Im Falle Brasiliens muß man sich natürlich fragen – was muß hier noch passieren, bis die EU reagiert, das zumindest mal thematisiert? Über vierzigtausend Mordtote im Jahr, in Rio über 1200 Menschen ermordet von der Polizei – was soll denn noch passieren? Deutschland ist in der EU einer der wichtigsten Staaten, hat in Brasilien natürlich spezielle Interessen. Über 1200 deutsche Unternehmen sind hier ansässig, die das Thema Menschenrechte natürlich nicht ansprechen werden. Aus puren wirtschaftlichen Interessen heraus gibt es keine deutsche Kritik an der Menschenrechtslage in Brasilien.“

        Laut Anwalt Hilbig hätte angesichts der gravierenden Situation ein EU-Rahmenabkommen mit dem Mercosur gar nicht abgeschlossen werden dürfen – wegen der Verpflichtungen durch die Menschenrechtsklausel hätte sich dies von selbst verboten. Hilbig zieht Parallelen zu Kuba, hebt hervor, wie schnell die deutsche Seite, die EU da Sanktionen verhängt:“Das ist ja auch kein Wunder.“

Bereits letztes Jahr hatte er gegenüber dem Trend das schäbige, ethisch-moralisch verlogene Verhalten von Ländern der Ersten Welt wie Deutschland kritisiert:“Ganz offensichtlich in der deutschen Außenpolitik, daß große Länder, wie Brasilien, die eine wirtschaftliche Macht darstellen, in denen man wirtschaftliche Interessen verfolgt, längst nicht so kritisiert werden, wie etwa kleinere Staaten in Mittelamerika oder im Nahen Osten. Überhaupt nicht in Ordnung, daß Brasilien in der Menschenrechtspolitik Deutschlands keine große Rolle spielt. Im Menschenrechtsausschuß ist Brasilien kein Schwerpunktland.“

 Unter Kohl wie unter Schröder bei Brasilienbesuchen – kein kritisches Wort zur Menschenrechtslage. Wie deshalb Politiker wie Joseph Fischer, Claudia Roth und Konsorten zu bewerten sind, liegt auf der Hand.

Aufschlußreich zudem, daß in Deutschland wahrnehmbare Solidaritätsaktionen zugunsten der politischen Gefangenen aus der brasilianischen Landlosenbewegung bisher ausblieben – das Thema selbst in pseudolinken Medien größtenteils mit Schweigen übergangen wird.

Editorische Anmerkungen

Der Autor schreibt regelmäßig Berichte aus Brasilien, die er auch dem Trend zur Verfügung stellt. So. z.B.: